Hamburg. Das National Symphony Orchestra, Gianandrea Noseda und Seong-Jin Cho mit Simon, Beethoven und Schostakowitsch in der Elbphilharmonie.

Lange her, dass das National Symphony Orchestra aus Washington D.C. in der Stadt war, damals noch mit Auftritten in der one and only Laeiszhalle. Womöglich lag es also auch an der drastisch anderen Saalform der Elbphilharmonie, dass das NSO und sein Chefdirigent Gianandrea Noseda beim Abschlussabend der ersten gemeinsamen Europa-Tournee viel Bühnenzeit verbrauchten, um sich mit diesen speziellen Gegebenheiten zu arrangieren und doch noch die innere Handbremse zu lösen.

Mit „Wake up!“ von Carlos Simon, seinem Residenz-Komponisten, hatte das NSO eines jener zeitgenössischen Stücke dabei, die vor allem niedrigschwellig freundlich gemeint scheinen, aber auch unnotwendig und halbmutig daherkommen. Bei Avantgarde-Festivals à la Donaueschingen, von dieser Ästhetik weltenweit entfernt, gäbe es für derart viel satt ausgebreitete Tonalität und Soundtrack-Verwandtschaften sofort eine tiefrote Karte.

Reichlich Schlagwerk kam zum Einsatz, das Ganze war inspiriert vom Werk eines nepalesischen Dichters, als Mahnung ans Hier und Jetzt angesichts diverser Krisen und Probleme gedacht sollte das alles sein – alles schön und gut, und akkurat gespielt schon auch. Aber ebenso, mit viel rhythmischem Leerlauf und einem geradezu bombastisch aufgerüschten Show-Finale unterwältigend aufregend.

Elbphilharmonie: Handzahmer Beethoven und noch viel Luft nach oben

Bis der 29-jährige Seong-Jin Cho tatsächlich einer der bedeutendsten Pianisten ist, wie es der Konzertmoderator vor dessen Auftritt verkündete, wird es noch dauern und dürfte sehr viele Karriereenden anderer benötigen. Klar aber wurde mit seiner Gestaltung von Beethovens 4. Klavierkonzert: Tolle Anlagen sind vorhanden, den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewinnt man nicht mal eben nebenbei.

Schade nur, dass Cho derart musterschülernd und plaudernd-perlend durch dieses Konzert flanierte und es eher wie romantisierter Mozart wirkte. Aber nicht wie bester Beethoven, bei dem überall Drama und Leidenschaft danach verlangen, voll und ganz ausgereizt zu werden.

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Im ersten Satz blieb alles, was Cho solistisch von sich gab, ungemein sanft, schlank und, das böse G-Wort: gefällig. Der Mittelsatz kam rundgestreichelt daher, im Finale wirkte Cho unterfordert und das Orchester mitsamt Noseda unterbeteiligt. Ein schön abgelieferter Beethoven, der niemandem wehtat und sicher keinen Puls in ungesunde Höhen trieb, ein Bravourstück also nur noch, das dabei eindeutig unter seinen Notwendigkeiten blieb.

Gianandrea Noseda ist seit 2017 Chefdirigent des NSO und seit 2021 Generalmusikdirektor am Opernhaus Zürich.
Gianandrea Noseda ist seit 2017 Chefdirigent des NSO und seit 2021 Generalmusikdirektor am Opernhaus Zürich. © Scott Suchman | Scott Suchman

Dann wenigstens Schostakowitsch, die Fünfte auch noch. Schließlich war Mstislaw Rostropowitsch eine Legende unter den NSO-Dirigenten gewesen, und gerade diese Sinfonie – immer schon ein Politikum – hat durch die aktuelle Weltpolitik und den Angriffskrieg Putins weitere Deutungsebenen erhalten. Es hätte unangenehm und packend werden müssen, durchschüttelnd und erschütternd. Aber Noseda ging zu sehr nicht aufs Ganze.

Der Kopfsatz, bei dessen Beginn einem sofort das Blut in den Adern schockgefrieren müsste, klang lediglich wie übellauniger Prokofjew und hatte – noch – nicht die allgegenwärtige, garstige Schostakowitsch-Schärfe; auch das Eingangsthema des Largo war nur harmlos statt bodenlos todtraurig. Biss stellte sich erst später ein. Als Noseda und das Orchester – schöne Bläserpassagen, tolles Pianissimo – mehr und mehr merkten und umsetzten, dass ein sicherer Mittelweg diese Musik unter Wert abliefert.

Aktuelle Aufnahmen: „Beethoven: The Complete Symphonies“ NSO, G. Noseda (NSO / Note 1, 7 CDs, ca. 36 Euro). Seong-Jin Cho „The Handel Project” (DG, CD ca. 18 Euro)