Hamburg. Teodor Currentzis und das SWR Symphonieorchester präsentierten Musik, die über Erwartungen, Haltungen, Rollen nachdenkt.

Keine Springerstiefel, keine knallengen Jeans. Seitenscheitel und schwarzer Anzug. Teodor Currentzis hat sich äußerlich sehr verändert. Innerlich auch, so viel darf man wohl vermuten, in den letzten Wochen, seit das Land, in dem der gebürtige Grieche seit Jahrzehnten lebt und arbeitet und Kunst erschafft, ein anderes überfallen hat. Das Programm, mit dem das SWR Symphonieorchester und er als dessen Chefdirigent in der Elbphilharmonie gastierten, hatte viel mit äußerem Schein und innerem Sein zu tun. Drei Werke, die über Erwartungen, Haltungen und Rollen nachdenken; ein Ukrainer, ein Deutscher und ein Sowjetrusse schrieben sie.

In Oleksandr Shchetynskys „Glossolalie“ wabert das Orchester spirituell entrückt in alle Richtungen, verströmt ehrfürchtig hauchfeine Klangnebel, als wären es Weihrauchschwaden in einer Kathedrale. „Leider schützt uns die Kunst nicht vor dem Angriff des Bösen“, hatte Shchetynsky ins Programmheft formuliert. „Das Schöne ist nicht imstande, die Welt zu retten, aber es gibt der Menschheit Kraft und ist das Licht, das die Dunkelheit besiegt.“ Dieser Anspruch ist größer und bedeutender, als Shchetynskys Musik es einzulösen vermag. Toll aber, wie elegant Currentzis das Orchester dazu bekam, diese Farbflächen mit präziser Unklarheit auszubreiten und auszukosten.

Elbphilharmonie: Teodor Currentzis wirkte verunsichert und verspannt

Ein Solist darf nur dieses tun und muss unbedingt jenes lassen? Mir doch egal, kontert Jörg Widmanns Bratschenkonzert. Über weite Strecken kommt der Solist ganz ohne Bogen aus, zupft, klopft, zaubert, er darf sich anfangs undercover ins Orchester setzten, bis er sich als Hauptdarsteller zu erkennen gibt; er flaniert kreuz und quer über die Bühne, singt, legt sich wortlos mit anderen Instrumenten an und hinterfragt damit hintersinnig, was erlaubt ist. Wie unfrei man sein darf als Künstler. Wie regellos frei man sein und bleiben muss. Antoine Tamestit wurde das Stück 2015 gewidmet, natürlich glänzte er damit auch hier.

Danach aber wurde es auf einem ganz anderen Niveau ernst. Schostakowitschs Fünfte, wie so vieles von ihm ein trotziges Bekenntniswerk, in dem er – seiner Meinung nach immer und offen erkennbar, wenn man die Codes lesen kann – gegen die Unterdrückung durch das Stalin-Regime protestierte, auch durch krass überdosiertes Pathos. Und hier endet der Textbereich, der sich vorrangig an Gehörtem orientieren konnte.

Currentzis wirkte an diesem Abend, allerdings auf hohem interpretatorischem Niveau, verunsichert und verspannt. Er hatte nicht bereits gefunden, wie er emotional mit dieser Musik und ihren Aussagen umzugehen hatte. Er suchte. Anstrengender noch: Er suchte wieder, und das vor gut 2000 Menschen, die von ihm doch zweifellose Gewissheit erwarteten.

Konzert in der Elbphilharmonie: Triumphgefühl im Gehörgang

Kann sein, dass es eben nicht „sein“ ganz anders auf ihn geeichtes musicAeterna-Orchester war, das hier hellwach und großartig abgestuft den oft dahingetänzelten Anweisungen folgte. Der SWR rauschte ruppig-rustikal durch die fies verzerrten Länder-Momente des Allegretto; die Holzbläser skizzierten fein die weltverlorene Tristesse im Largo, bevor im Finale ein Triumphgefühl in jeden Gehörgang gehämmert wird, das viel zu groß ist, um nur wahr zu sein. Kann aber auch sein, dass Currentzis gerade existenziell zweifelt. Oder verzweifelt.

Currentzis-Konzerte mit musicAeterna: 14.4. / 16.4: Werke von Strauss und Tschaikowsky. 15.4: „Slow Music“: Langsame Sätze aus Klavierkonzerten von Mozart, Beethoven, Bach, Brahms, Ravel und Schostakowitsch, Barbers „Adagio for String“ u.a.. Solist: Alexandre Kantorow. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Evtl. Restkarten