Hamburg. Der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker ließ Satz für Satz einfach so geschehen. Der Gast-Virtuose war nicht zu beneiden.

Man muss nicht alles mögen als Dirigent; deswegen müsste man auch nicht alles dirigieren, erst recht nicht als Chefdirigent, der bei seiner Programm-Gestaltung durchaus das eine oder andere weichenstellende Wort mitreden kann. Schwierig nur, wenn man ein epochales Selbstverständnis wie Valery Gergiev hat und theoretisch wie praktisch alles zu können glaubt, zur Not auch aus dem Stand. Und das dann auch sehr gern bei jeder Gelegenheit vorführen mag, weil man es kann.

So beglückend es auch gewesen war, ihn und seine Münchner Philharmoniker im vergangenen Jahr mit Mahlers „Lied von der Erde“ im Großen Saal der Elbphilharmonie zu hören, weil da jemand scharfohrig die Feinheiten des Riesen-Apparats und die Abgründe dieser Musik abzubilden wusste, so zäh, sämig, dahinbehauptet und uninteressiert war nun das Wiederhören. Dass es sich trotz der Kürze des einstündigen Konzerts derart zog, lag nicht an den Stücken. Denn weder Mozarts d-Moll-Klavierkonzert KV 466 noch Schuberts Vierte sind bislang als undankbare B-Ware aktenkundig.

Elbphilharmonie: Gergievs Stilempfinden war verrutscht

Das Grundproblem: Gergievs Stilempfinden für die beiden Klassiker schien in seiner inneren Zeitzone um eine Komponisten-Generation verrutscht. Die Folge dieser sonderbaren Fehleinschätzung waren zwei Interpretationen aus dem Antiquariat, aus dem schon angestaubten Regal mit den ­Maestri älterer Schule, denen es gar nicht prall und damit beeindruckend genug sein konnte.

Gergievs mittlerer Mozart klang bereits wie früher Beethoven, sein Schubert mindestens schon wie ausgewachsener Schumann. Lange nicht mehr gehört, so viel eigenartig Fremdelndes. Das begann bei der eher großen Besetzung beim Mozart-Konzert und endete nicht erst beim stoischen Gleichmut, mit dem Gergiev Satz für Satz beim Schubert geschehen ließ

Zwei Dynamik-Stufen: ganz schön laut und ziemlich laut

Festgemauert in der Erden, stand dieses Stück, in Ton gebannt. Und stand. Von Leichtigkeit und Empathie mit den Zwischentönen und dem Fluss der Übergänge, der kleinen Abschweifungen und der dezenten Andeutungen war weit und breit fast nichts zu hören. Dass Schuberts Sinfonie den Beinamen „Tragische“ hat, überbetonte Gergiev mit bleischwerer Bruckner-Vorahnung, bis in den Finalsatz, der mit kantigen Synkopen aus Stahl aufwartete, wo es geschmeidig locker hätte sein müssen. So massiv kann man Schubert heutzutage zwar noch spielen, die Noten passierten ja an richtigen Stellen und auch Notenpapier ist geduldig, doch man sollte es inzwischen vielleicht lieber überdenken.

Als Einspringer für die durch Corona in ihren Reiseplänen ausgebremste Yuja Wang saß Seong-Jin Cho, immerhin Gewinner beim Warschauer Chopin-Wettbewerb, beim Mozart am deckellosen Steinway. Und tat dort brav das, was ihm übrig blieb oder lieber: von Gergiev als Teilnahme am Vollzug noch übrig gelassen wurde. Schön spielen und nicht weiter den Ablauf stören. Angenehmes Perlen, feiner Ton, makellose Technik. Mozart mit Fleißstern.

Der Takt-Zahnstocher kam erst in der Zugabe zur Geltung

Allerdings auch immer wieder von der Tutti-Begleitung übertönt, anstatt von ihr getragen oder sogar inspiriert und in einen Gedankenaustausch verführt zu werden. Das war es dann auch. Unterdessen behielt Gergiev sich und damit dem Orchester etwa zwei Dynamik-Abstufungen vor: entweder ganz schön laut oder ziemlich laut. Zu beneiden war der Gast-Virtuose an diesem Abend jedenfalls nicht.

Erst in der Zugabe, dem federleicht dahingeworfenen Scherzo aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Bühnenmusik, setzte die Wirkung von Gergievs Takt-Zahnstocher ein; die Fingerspitzen flatterten wie die Elfenflügel bei Shakespeare, wie immer gewöhnungsbedürftig als Anhaltspunkt für musikalische Absichten, wenn man diesen Anblick nicht regelmäßig erlebt.

Geht also doch, könnte man dazu meinen, Ende gut, doch ganz gut? Für ein Orchester und einen Dirigenten mit derartigen Ego-Größen und Renommees war diese kleine Wiedergutmachung in der Bonus-Runde allerdings zu wenig, um nachzuvollziehen, warum Gergiev diese beiden Meisterwerke dirigiert hatte, die ihn nur sehr bedingt interessierten.