Hamburg. Christian Kuhnt, Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals, über das Programm 2024, das Thema Venedig und Hamburg-Verbindungen.

Gondeln auf dem Nord-Ostsee-Kanal, venezianischer Karneval in der Kieler Fußgängerzone? So weit wird es dann doch nicht kommen. Für den Sommer 2024 (6. Juli bis 1. September) hat das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) die Musikstadt Venedig und damit auch die Musik von Vivaldi als Schwerpunkt gewählt.

Nach dem Geiger Daniel Hope im letzten Jahr wird nun die Saxofonistin Asya Fateyeva SHMF-Porträtkünstlerin sein. Ein Gespräch mit SHMF-Intendant Christian Kuhnt über diese und andere Programmakzente und den Blick aus der Nachbarschaft auf Hamburg.

Warum eigentlich Venedig als Festival-Thema? Und „Warum nicht?“ gilt nicht als Antwort.

Weil es eine ganz enge Verbindung zwischen Norddeutschland und Venedig gibt, die auch etwas mit Hamburg zu tun hat. In Venedig gab es das erste bürgerliche Opernhaus, damit eben auch das erste Großereignis bürgerlicher Kultur. Und wie wir wissen, hatte Hamburg das erste deutsche bürgerliche Opernhaus. Zwei vergleichbare Stadtgesellschaften, zwei Handelsstädte. Interessanterweise gibt es aber auch viele Städte in Schleswig-Holstein, die sich „Venedig des Nordens“ nennen, zum Beispiel Friedrichstadt – dank seiner 18 Brücken. Und Kiel hat einen Rathausturm, der nicht nur „Campanile“ genannt wird, sondern auch dem Campanile nachempfunden ist.

Mit genügend Dramaturgen-Loopings kriegt man also alles nach Schleswig-Holstein eingemeindet.

Nein, das sind Fakten. Aber wir wissen ja beide, dass Venedig ein großes musikalisches Zentrum war.

Schleswig-Holstein Musik Festival: „Venedig hat eine Fülle an musikalischen Phänomenen zu bieten“

90 der 203 Konzerte haben Venedig als Leitmotiv. Wie oft stehen Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ auf dem Programm?

Venedig hat eine Fülle an musikalischen Phänomenen zu bieten – angefangen bei der venezianischen Mehrchörigkeit, einer Art frühem Dolby Surround-System, das schon vor über 400 Jahren gezeigt hat, dass Konzertformate nicht starr sein sollten und dass eine Frontalbespielung vielleicht nicht das einzig Wahre ist. Wir haben außerdem eine der aufregendsten Aufführungen von Monteverdis „Marienvesper“ mit Simon-Pierre Bestion und seinem Vokalensemble „La Tempête“ im Programm. Sie sind in Deutschland noch gänzlich unbekannt, aber wahnsinnig spannend. Ihr Ansatz ist: Lasst uns nicht versuchen, Musik so klingen zu lassen wie vor 400 Jahren – viel eher soll Musik eine Wirkung entfalten wie vor 400 Jahren. Die „Vier Jahreszeiten“ haben wir aus unterschiedlichen Perspektiven im Programm: Der Geiger Pekka Kuusisto verbindet sie zum Beispiel mit nordischer Folkmusik, Mandolinist Avi Avital kombiniert sie mit zeitgenössischer Musik, und das Renegade Steel Orchestra aus Trinidad & Tobago spielt die Jahreszeiten auf Steel Drums. Und in Originalgestalt erklingt das Werk beim Festival-Finale mit Daniel Hope und der Visual Art Künstlerin Anna Chocholi.

Wo der venezianische Komponist Antonio Vivaldi (1678–1741) auf dem Programm steht, dürfen dessen „Vier Jahreszeiten“ im Angebot nicht fehlen. Das gilt auch – und mehrfach – für das Schleswig-Holstein Musik Festival 2024.
Wo der venezianische Komponist Antonio Vivaldi (1678–1741) auf dem Programm steht, dürfen dessen „Vier Jahreszeiten“ im Angebot nicht fehlen. Das gilt auch – und mehrfach – für das Schleswig-Holstein Musik Festival 2024. © picture alliance / Heritage-Images | © Fine Art Images/Heritage Images

Was ist mit dem Venezianer Luigi Nono und dessen 100. Geburtstag 2024?

Sein zentrales Werk „Fragmente – Stille, an Diotima“ haben wir natürlich auch im Programm.

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Porträtkünstlerin 2024 ist die Saxofonistin Asya Fateyeva mit 17 Konzerten. 2023 war es der Geiger Daniel Hope mit leicht absurden 50 Terminen. Ist das die Abkehr von dieser Monokultur?

Es waren 50 Konzerte anlässlich seines 50. Geburtstags, von Januar bis Dezember. Es war immer klar, dass das eine einmalige Sache sein wird. Wenn wir Porträtkünstlerinnen und Porträtkünstler auswählen, sagen wir nur eines: Es dürfen nicht weniger als zehn Konzerte sein. 17 Konzerte sind für acht Wochen eine Menge. Für Asya war entscheidend wichtig, das Saxofon, das vor allem dem Jazz zugeordnet wird, als klassisches Instrument zu präsentieren. Dass es etwa ein großartiges Barockinstrument ist, zeigt sie mit Musik von Rameau. Sie hat eine ganz große Ernsthaftigkeit und den Drang, Botschafterin ihres Instruments zu sein.

Die Saxofonistin Asya Fateyeva ist in diesem SHMF-Programm mit rund zwei Dutzend Konzerten als Porträtkünstlerin prominent vertreten.
Die Saxofonistin Asya Fateyeva ist in diesem SHMF-Programm mit rund zwei Dutzend Konzerten als Porträtkünstlerin prominent vertreten. © Marco Borggreve | marco borggreve

Auf welche Programmidee ist das SHMF besonders stolz?

Wir sind immer glücklich, wenn wir mit dem Programm in die Breite gehen können, wenn es gelingt, Originelles zu bieten. So wollen wir zum Beispiel in der Elbphilharmonie besondere Orchester-Ideen transportieren: Das schwedische O/Modernt Chamber Orchestra kehrt zurück, mit einem „Vivaldi rocks“-Programm. Wir haben außerdem das Bridges-Kammerorchester, ein Multikulti-Orchester par excellence, zu Gast. Und das MIAGI Youth Orchestra hat den Anspruch, seine südafrikanische Kultur bei uns zu präsentieren. Wieder dabei sein wird auch Omer Meir Wellber, der kommende Generalmusikdirektor in Hamburg. Er hat sich die „Italienische Sinfonie“ von Mendelssohn, kombiniert mit Improvisationen, gewünscht und konzertiert damit unter anderem in Elmshorn. Die Zusammenarbeit mit Omer, der vor zwei Jahren SHMF-Porträtkünstler war, macht immer viel Freude, er bezeichnet uns als seinen musikalischen Kibbuz.

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„Zwei programmatische Linien, der Rest ist Spielwiese“

Ein O-Ton von 2023: „Wir wollen klare Konturen zeigen.“ Rund ums SHMF gibt es viele Konkurrenten, Festivals in M-V, in Niedersachsen, das Musikfest Bremen, die sehr viel sehr Ähnliches anbieten. Teilweise überschneiden sich die Gäste für die Eröffnungs- oder Schlusskonzerte. Wo bleibt da das Alleinstellungsmerkmal vom SHMF?

Ich glaube, es gibt niemanden, der sich so intensiv mit einem Thema beschäftigt wie wir. Ich wüsste auch nicht, wo ein „Artist in Residence“ 17 Konzerte gibt. Weit über die Hälfte unseres Programms ist zwei programmatischen Linien zugeordnet, der Rest ist unsere Spielwiese und birgt auch viele nicht klassischen Themen, die uns als Festival ebenfalls ausmachen. So präsentieren wir immer wieder Legenden, wie jetzt zum Beispiel Kool & the Gang.

Das ist ein bisschen mit der Wurst nach der Speckschwarte werfen: Menschen, die nichts weniger wollen als in ein klassisches Konzert zu gehen, werden mit Nicht-Klassik in die SHMF-Konzerte geholt.

Mir gefällt die Trennung in U- und E-Musik überhaupt nicht, denn ich habe sie selbst nie verinnerlicht: Ich bin mit der Musik von Johann Sebastian Bach groß geworden und habe mir dann ein Schlagzeug gekauft. Ab diesem Zeitpunkt war es die Musik der Stones und der Beatles, die mich begeisterte. Steve Gadd war mein großes Vorbild. Dementsprechend weigere ich mich, eine Art von Musik als wertvoller als die andere zu bezeichnen.

„Aus der Perspektive des SHMF gehört Hamburg zu Schleswig-Holstein“

22 Konzerte, etwa elf Prozent des SHMF-Programms 2024, finden in Hamburg statt. Müsste ein Festival, das Schleswig-Holstein Musik Festival heißt, nicht auch attraktiv genug sein und sich finanziell ausreichend tragen können, ohne so sehr in ein anderes Bundesland auszuweichen?

Aus der Perspektive des SHMF gehört Hamburg zu Schleswig-Holstein. Für uns spielen die geografischen Grenzen überhaupt keine Rolle. Etwas überspitzt formuliert ist Hamburg die Metropole in Schleswig-Holstein.

Ein Problem-Thema ist die Konzertadresse Kieler Schloss, das nach wie vor saniert wird. Was bedeutet diese Verspätung für die aktuelle und die längerfristige SHMF- Planung?

Wir sehen, dass beim Kieler Schloss Unglück und Glück manchmal sehr dicht beieinander liegen. Das Unglück ist, dass uns damit aktuell ein klassischer Konzertsaal nicht zur Verfügung steht, den wir gut gebrauchen können, um Orchesterprojekte zu realisieren. Es ist ein Saal, der gut klingt, eine gewisse Infrastruktur mit sich bringt und natürlich auch kaufmännisch wichtig ist – Dass er nicht bespielbar ist, finden wir natürlich schade, auch wenn wir vergleichbare Spielstätten wie die MuK in Lübeck, das Deutsche Haus in Flensburg oder den Alsion in Sonderburg weiterhin nutzen. Gleichzeitig, und das ist das Glück, haben wir aufgrund dieses Umstandes in Kiel ganz viel Neues entdeckt. Zum Beispiel die Hebbelschule, das Forum für Baukultur, aber auch die Petruskirche, die unglaublich gut für Konzerte geeignet ist. Ich ahne schon, dass ein Grigory Sokolov in der Petruskirche bleiben will, wenn das Kieler Schloss fertig ist, weil er im letzten Jahr so begeistert von ihr war.

„Zu Justus Frantz ist alles gesagt“

Das nächste Sorgenkind hat ein ganz anderes Kaliber: Der SHMF-Gründungsintendant Justus Frantz, der sich unter anderem mit putinfreundlichen Äußerungen ins Aus manövriert hat. Diese Messe ist gesungen, er bleibt nach wie vor draußen vor beim SHMF-Programm?

Dazu ist alles gesagt. Man weiß, wie viel das Festival Justus Franz zu verdanken hat und aus Respekt vor seiner Leistung vor knapp 40 Jahren überlasse ich die Bewertung dessen, was er jetzt tut, kritischen Journalisten.

2023 lag die Auslastung bei 94 Prozent. Gibt es ein Klassenziel für dieses Jahr?

Unser Ziel lag 2023 definitiv nicht bei 94 Prozent. Das Festivalprogramm hatten wir exakt vor einem Jahr vorgestellt – in der Hochphase der Inflation und der Energiekrise. Wir konnten überhaupt nicht einschätzen, wie sich eine solche wirtschaftliche Situation auf das Kaufverhalten des Publikums auswirkt. Hinzukommt, dass wir uns, anders als das Luzern Festival oder die Salzburger Festspiele, sehr stark in die Fläche bewegen. Das heißt, wir haben auch ein preissensibleres Publikum. Natürlich sind bestimmte Auslastungen für uns wichtig – insbesondere, weil unsere Tickets vergleichsweise günstig sind. Aber wir wollen nicht jedes Jahr einen Rekord aufstellen. In diesem Jahr hoffen wir, wieder über 80 Prozent zu kommen. Wenn das geschieht, ist alles gut.

„Jetzt kommt Hamburg definitiv auf die Liste“

Länder- und Komponistenschwerpunkte sind ausgemustert, seit 2023 bilden Musikstädte die Themen-Schwerpunkte. Wann ist Hamburg als Musikstadt dran? Wir haben ja genug hier.

Das ist eine so gute Idee, dass sie fast von mir kommen müsste. Acht oder neun Jahre hatten wir gebraucht, um Johannes Brahms zum Fokus-Komponisten zu machen. Und wir haben immer wieder gesagt: Das machen wir nicht, das liegt viel zu nahe.

Ich übersetzte das mal: Eher friert die Hölle zu, als dass Hamburg Musikstadt-Thema beim Schleswig-Holstein Musik Festival wird.

Nein, nein, nein, überhaupt nicht. Ich habe das ganz ernst gemeint. Das liegt so nah, dass wir noch nicht mal im Ansatz darauf gekommen wären. Und jetzt kommt Hamburg definitiv auf die Liste. Das meine ich ganz ernst.

Weitere Informationen: www.shmf.de