Hamburg. Yasmina Rezas „James Brown trug Lockenwickler“ ist am St. Pauli Theater eine eher zarte als übertrieben scharfe Gesellschaftskomödie.

Ihre Titel verfangen immer, auch in der deutschen Übersetzung: Der auch fürs Kino verfilmte Bühnenhit „Gott des Gemetzels“, das schlicht-schöne „Kunst“, das fast etwas rätselhafte „Drei Mal Leben“, das im Original „Versionen“ heißt, und immer eskaliert in ihnen irgendwann die gutbürgerliche Fassade ihrer Figuren. Entlarvend, verzweifelt und in all der Tragik urkomisch.

Nach einigen Romanen ( zuletzt „Serge“) hat Frankreichs bekannteste und die international erfolgreichste Gegenwartsdramatikerin Yasmina Reza nun endlich ein neues Stück geschrieben, uraufgeführt in der deutschen Übersetzung 2023 am Münchner Residenztheater, nun in der Regie von Reza-Kenner Ulrich Waller am St. Pauli Theater zu sehen. Und auch dieser Titel verheißt Glamour, Entblößung und Komik zugleich: „James Brown trug Lockenwickler“. Selbst die rührende Mühe der aufrechterhaltenen Illusion, Yasmina Rezas Grundthema, steckt bereits darin.

Premiere am St. Pauli Theater: „Céline Dion im Körper unseres Sohnes!“

Beide werden an diesem Abend übrigens keinen sichtbaren Auftritt haben, weder Brown noch ein Lockenwickler. Um sechs Mal Leben geht es stattdessen, wenn man ein exotisches Bäumchen mitzählen möchte, das wie die Menschlein um einen Platz kämpft, der ihm eigentlich nicht zusteht.

Die Pflanze steht ordnungswidrig im Park einer psychiatrischen Einrichtung, wo sich Rezas Figuren diesmal begegnen: Jacob, den die Autorin aus ihrem eigenen Roman „Glücklich die Glücklichen“ von 2014 fortgeschrieben hat und der sich für den kanadischen Superstar Céline Dion hält. Sein unzweifelhaft hellhäutiger Freund Philippe, der sich als ein Schwarzer empfindet und in jeder zweiten Formulierung gegen ihn gerichteten Rassismus wittert. Jacobs Eltern, die den Identitätswechsel des Sohnes mit latenter Hysterie begleiten („Céline Dion im Körper unseres Sohnes!“) und von ihm im Gegenzug nicht „Mama und Papa“, sondern Pascaline und Lionel genannt werden. Und die namenlose Psychiaterin, die zwar in sich ruht, aber auch nicht symptomfrei ist: Sie hat das Autofahren ohne Bremsen perfektioniert. „Bremsen heißt kapitulieren“, stellt sie nüchtern fest – ein Satz wie von einem Heckaufkleber.

Mechthild Großmann: Ihre pointierte Lakonie ist hier noch ausgebaut

Wer Mechthild Großmann aus dem „Tatort Münster“ kennt, wird sich nicht groß umgewöhnen müssen. 
Wer Mechthild Großmann aus dem „Tatort Münster“ kennt, wird sich nicht groß umgewöhnen müssen.  © Stephan Wallocha | Stephan Wallocha

Wer Mechthild Großmann bereits als cool schmökende Staatsanwältin aus dem Münsteraner „Tatort“ schätzt, der wird sich an diesem Abend nicht groß umgewöhnen müssen. Die pointierte Lakonie ist hier noch ausgebaut, ein Auftritt mit Fluppe zwischen den Lippen wirkt wie eine herrliche Reminiszenz. Und wer wollte dieser Psychiaterin widersprechen, wenn sie den Eltern die Alternative eröffnet, mit der sich Sohn Jacob ebenfalls „von herkömmlichen Typologien“ hätte befreien können: Besser Céline als ein zwischen Hochhausfassaden klebender Spider Man, oder?

Ob „James Brown trug Lockenwickler“ als Kommentar zu den aufgeheizten identitätspolitischen Debatten der Gegenwart taugt? Höchstens insofern, als die Figuren immer dann am gesündesten wirken, wenn alle einfach die Selbstbeschreibungen des anderen akzeptieren. Leben und leben lassen. Der Psychiaterin jedenfalls ist es vollkommen gleichgültig, wer da in welcher Wahlverwandtschaft bei ihr im Park herumturnt. Nur den von Philippe heimlich eingepflanzten, aber eben nicht heimischen Feigenbaum, gewissermaßen ein illegaler Südstaaten-Einwanderer also, tadelt sie als Regelverstoß.

St. Pauli Theater: Das Stück ist lustig, macht sich aber nicht lustig

Auch wenn es streckenweise lustig ist – lustig macht sich das Stück nicht. Das liegt auch an der Gelassenheit des Ensembles. Dennis Svensson, der am St. Pauli Theater schon einmal als „Sohn“ in einem allerdings deutlich düstereren französischen Stück überzeugte, widersteht der Versuchung, auf die Blondhaarperücke und das Glitzerdress noch einen draufzusetzen. Seine Céline ist sanft neurotisch, die Freundschaft zwischen Philippe (erfrischend: Nabil Pöhls) und ihm zwar kurios, aber nicht übertrieben exzentrisch.

Am ehesten ähneln Johanna Christine Gehlen und Michael Rotschopf als „Célines“ Eltern den typischen Reza-Figuren. In ihnen, die wie Jacob ebenfalls schon im Roman „Glücklich die Glücklichen“ auftauchten, clasht die gesellschaftliche Erwartung auf die skurrile Realität. Die sich am bedrohlichsten keineswegs dann zeigt, wenn Kerle funkelnde Frauenkleider tragen: Wie Rotschopf sich in die Verzweiflung des versagenden Mannes beim Reservieren einer Poolliege oder beim Ausrechnen eines Trinkgeldes hineinsteigert, das ist schon ausgesprochen hübsch. Auch die fast schon comichafte Eleganz seiner Frau, die in ihrer äußerlichen Perfektion (Kostüme: Ilse Welter) die innere Unruhe nicht verbergen kann, ist ein Hingucker.

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Das Stück an sich aber ist eher fragil als schrill, auch die Eskalationsschraube ziehen Reza im Text und Waller in seiner Interpretation desselben nur zurückhaltend an. In nicht einmal anderthalb Stunden schwebt der Abend dahin. Die Pointendichte, der gewohnte Schlagabtausch, das ist schon alles da. Aber weniger böse als gewohnt, weniger scharf, ohne das Reza-gewohnte Überschnappen. Der zunächst saftig grüne und schließlich sich winterlich verändernde Park, den Bühnenbilder Raimund Bauer auf eine durchsichtige Leinwand projiziert, unterstützt das stattdessen vorherrschende Grundgefühl: Melancholie.

„James Brown trug Lockenwickler“, am St. Pauli Theater bis zum 16. März, Karten gibt es in der Geschäftsstelle des Hamburger Abendblatts am Großen Burstah 18-32 oder unterwww.st-pauli-theater.de