Hamburg. Die französische Bestsellerautorin las aus ihrem Roman “Serge“ im St. Pauli Theater. Und machte dort lapidar das Schwere leicht.

Die Amüsierverhaue auf dem Spielbundenplatz waren gut gefüllt. Partyvolk unter der Sonne St. Paulis. Die Leute, die an den Bierbuden vorbei ins St. Pauli Theater strömten, waren anders beglückt als jenes. Kein Jubilieren angesichts einer nach-pandemisch (wobei Corona ja nie schläft) wieder beinah zu altem Leben erweckten Reeperbahn, sondern stillere Freude angesichts einer größeren, maskenlosen Kulturveranstaltung mit französischem Stargast. Bestsellerautorin Yasmina Reza war am Sonnabend in der Stadt.

Und sorgte mit ihrer Lesung auf Einladung des Literaturhauses also für einen sinnfälligen Kontrast: Kiez-Gelärme versus geistreiches Gespräch über ein Buch. In dem, die Analogie sei erlaubt, auch ein Clash im Mittelpunkt steht. Drei Geschwister, Abkömmlinge einer säkularen, im Judentum wurzelnden Familie, reisen nach Auschwitz. Dort ist es mit der titelgebenden Figur Serge der eine unvergessliche, mies gelaunte Typ („Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe“), der giftig die gesamte Erinnerungskultur pulverisiert. Er hat insofern Recht, findet die Erzählerin Reza, als Auschwitz mit dem Wegsterben der letzten Holocaustüberlebenden längst zum touristischen Ort geworden ist.

Yasmina Reza in Hamburg: Der Verleger moderiert selbst

Da prallen also auch Welten aufeinander, und als von der Erinnerung an den Zivilisationsbruch gestählter, sensibilisierter Deutscher musste man bei der Lektüre der deftigen Tragikomödie „Serge“ doch kurz schlucken. Der Roman schaffte es, als erstes Buch der berühmten Romanautorin und Stückeschreiberin („Gott des Gemetzels“), auf den Spitzenplatz der deutschen Bestsellerliste. Rezas Verleger Jo Lendle („So ein Erfolg ist immer ein kleines Wunder“), der kurzfristig für den eigentlichen, erkrankten Moderator einsprang, pries das Buch seiner Autorin in höchsten Tönen, vergaß aber konsequent, in seiner bilingualen Moderation seine Fragen an Reza ins Deutsche zu übersetzen.

So war man bisweilen verloren ohne Translation, sofern man nicht zur freilich in größerer Zahl im Theater angetretenen frankophilen Fraktion zählte, die die Übersetzungen eh nicht brauchte. Die delektierte sich an Rezas Lesung im Original und goutierte auch Peter Jordans deutschsprachigen Lesepart. Wo Moderator Lendle in schönster Literaturgesprächdiktion konstatierte, das Buch sei ohnehin klüger als das, was man so über dieses zu sagen hätte, waren es doch die Einlassungen der Autorin, die dem Abend seine intellektuelle Würze gaben.

Yasmina Reza macht Schwenk in die Ukraine

Reza, Jahrgang 1959, erzählte von ihrer Freundschaft zu Imre Kertész, davon, dass die Popper-Geschwister, von denen das auf so eigenwillige Weise schöne, melancholische und humorvolle schmale Büchlein handelt, von ihrer eigenen Familie inspiriert seien. Und davon, dass die Literatur nicht dafür da sein, die Menschen auf der Höhe ihres Daseins zu zeigen, sondern in Momenten der Verletzlichkeit zum Beispiel.

Was Auschwitz angeht und die Erinnerung an die Shoah, sagte Reza Sätze, die so richtig klangen, dass sie unbedingt deprimierend sind. „Der Mensch verändert sich nicht“, sagte sie lapidar im Hinblick auf den Massenmord.

Und mit dieser Überzeugung muss sie also eher in Sorge sein, dass die „eingehegte Erinnerung“ wie in Birkenau zur falschen Vorstellung führt, so etwas könne sich nicht wiederholen. Der Schwenk zum Ukraine-Krieg lag auf der Hand, wo man doch schon bei den Dingen war, die Menschen sich antun. Selbstverständlichkeiten („Nie wieder Krieg“) sind zum Entsetzen friedensverwöhnter Nachgeborener mit Vehemenz abgeräumt worden. Oder, wie Reza es formulierte: „Der Westen lebte mit der falschen Überzeugung der Überlegenheit seiner Werte.“

Leichtigkeit ist dennoch mit im Spiel

Es war eine feine, beinah schon ältere Dame, die dies aussprach, mit der durchaus vorhandenen Autorität, die eine Schriftstellerin in solchen Dingen der Politik und des gesellschaftlichen Bewusstseins im besten Falle immer hat. Schwergängig angesichts der Themen war der Abend im St. Pauli Theater nicht. Die vorgestellten Textpassagen federten den tiefen Ernst verlässlich ab. Weil’s halt so ist: Es sind oft die Franzosen, die die Leichtigkeit ins Spiel bringen, wo andere das Bedeutungsvolle mit Zentnerlast beschweren. Der Figuren-getriebene Roman „Serge“ eignet sich jedenfalls vortrefflich für die kulturelle Praxis des Vorlesens.

Und weil unter der Oberfläche der familiären Konflikte und geschwisterlichen Zankereien ansatzweise (das ist das Entscheidende: der Ansatz, nicht die penetrante Durchdringung!) philosophische Einsichten lagern, fühlte man den Mehrwert des sonst oft bloß Unterhaltsamen.