Hamburg. Den Bühnenhit „Prima Facie“ stemmt der TV-Star allein. Ein Stück über die Unzulänglichkeiten des patriarchalischen Rechtssystems.

Allein steht sie auf der Bühne, einer steil ansteigenden, feuerroten Treppe mit mehreren Podesten und einer Art Altar, mit dem Rücken zum Publikum. Dann dreht sie sich um. Von Anfang an ist es ihr Abend: Katharina Schüttler stemmt „Prima Facie“ ganz allein. Und macht den international gefeierten Bühnenhit der australischen Dramatikerin Suzie Miller auch an den Hamburger Kammerspielen zum Ereignis.

Wie eine Ringkämpferin sieht sie aus, die Haare streng nach hinten gegelt, bauchfreies Shirt mit dem Moschino-Schriftzug „Gilt Without Guilt“ und Shorts, darüber ein langer goldfarbener Mantel und Socken an den Füßen (Bühne und Kostüm: Jonas Vogt). Und es hat ja auch etwas von einem sportlichen Wettkampf, was hier geschieht.

Theaterkritik „Prima Facie“: Katharina Schüttler als Staranwältin Ensler

„Fang an zu spielen, es ist dein Spiel. Kreuzverhör“, sagt Katharina Schüttler als junge erfolgreiche Anwältin Tessa Jane Ensler. Sie kennt alle Winkelzüge vor Gericht. Sichtet Unterlagen und lässt dabei eine riesige Papierrolle fallen. Sie weiß, wie man einen Zeugen in Sicherheit wiegt, ihm Verbindlichkeit suggeriert, dass er Mut schöpft und ins Plaudern gerät, Widersprüchliches äußert, bis er „dabei ist, sich sein eigenes Grab zu schaufeln“.

Als Staranwältin, spezialisiert auf die Verteidigung mutmaßlicher Sexualstraftäter, kennt sie auch den Grundsatz „Prima Facie“, was so viel bedeutet wie „dem Anschein nach“ und angewandt wird, wenn weitere Beweise fehlen – wie es in der heiklen Frage nach der Einvernehmlichkeit beim Sex häufig der Fall ist. „Bleib auf Distanz, ergreife nicht Partei, prüfe einfach nach den gesetzlichen Richtlinien. Prüfe.“ Schüttler präsentiert ihre Figur mit starker Körperlichkeit, der Fähigkeit, mit minimalen Bewegungen Effekte zu erzielen und einer enormen Präsenz.

Hamburger Kammerspiele: Katharina Schüttler auf sanfter Geraden des Schreckens

Noch hat ihre Tessa Jane Ensler Oberwasser. Und das ist das perfide an dem Stück, das seiner Hauptfigur bald so viel zumuten wird. Regisseurin Milena Mönch steigert die Dramatik der Ereignisse dabei langsam auf einer sanften Geraden des Schreckens, während Schüttlers Tessa langsam aber sicher die innere Stärke abhanden kommt.

TV-Star Katharina Schüttler ist eine Spezialistin für extreme Rollen. In „Prima Facie“ spielt sie die Anwältin Tessa Jane Ensler.
TV-Star Katharina Schüttler ist eine Spezialistin für extreme Rollen. In „Prima Facie“ spielt sie die Anwältin Tessa Jane Ensler.

Nach einem gewalttätigen sexuellen Übergriff in alkoholisiertem, hilflosem Zustand durch einen Kollegen, landet sie selbst im Zeugenstand. Und auf einmal läuft nichts mehr so, wie es die erfolgsverwöhnte Anwältin gewohnt ist. Auf einmal schwitzt und stammelt Schüttler, brilliert in allen Facetten der Verzweiflung und des Ringens um Haltung. Sie weiß, dass häufig Aussage gegen Aussage steht und die – juristische – Wahrheit schwer herauszufinden ist.

„Prima Facie“: Autorin Suzie Miller hat selbst als Strafverteidigerin gearbeitet

Auch weil Frauen sich häufig anders verhalten, als es die Juristerei von Opfern offenbar erwartet. Sie wehren sich nicht immer mit Gewalt, sie erstarren, sie spalten Teile ihrer Persönlichkeit ab, um eine Situation durchzustehen. Auch Tessa spricht im Fortgang der Geschichte über sich selbst wie eine fremde Person: „Da bin ich, wie ich in den Verhandlungssaal gehe.“

Es steht viel auf dem Spiel. „Aber in mir ist auch dieses andere, dieses Mädchen, das so sehr darum gekämpft hat, gesehen zu werden.“ Deswegen beschließt sie, sich vor Gericht zu wehren: „Wenn ich das nicht mache. Würde ich sie verraten.“ Schüttler navigiert sich und damit auch das Publikum bewundernswert sicher durch die 80 Seiten der Stückfassung. Die Autorin Suzie Miller hat jahrelang selbst als Strafverteidigerin gearbeitet, was dem Text zu großer Überzeugungskraft verhilft. In Milena Mönchs wohltuend konzentrierter Regie werden dabei auch Nebenfiguren allein in Worten und Gesten lebendig.

Theaterkritik Hamburg: „Prima Facie“ handelt von der Schattenseite der #MeToo-Diskussion

Man erfährt, wie Tessa die wurde, die sie heute ist. Eine junge Frau aus einfachen Liverpooler Verhältnissen mit einer Mutter, die sich als Putzfrau verdingt. Sie hat sich da herausgekämpft an eine Elite-Universität. In einem Nebenstrang thematisiert das Stück auch aktuelle Fragen von Klassismus und gesellschaftlicher Durchlässigkeit, wenn Tessa an der Uni Angst hat zwischen lauter elitären Privatschul-Absolventen unpassend aufzufallen. „Prima Facie“ ist damit gleich auf mehreren Ebenen auf der Höhe der Zeit und aktueller gesellschaftlicher Diskurse.

Vor allem aber zeigt es eine Schattenseite der #MeToo-Diskussion. Jede dritte Frau erlebt sexualisierte Gewalt. Doch das zutiefst patriarchalische Rechtssystem schließt sie aus. Es berücksichtigt nicht jene wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass die Tat auch etwas mit der Erinnerung der Frauen macht, dass sie deshalb häufig „verwirrt“ wirken, wenn sie Details wiedergeben sollen, was ihnen vor Gericht als Lüge ausgelegt wird. Das ist die ziemlich desillusionierende Erkenntnis dieses sehr stringent aufgebauten Abends.

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Und natürlich verlässt auch Tessa das Gericht diesmal nicht als Siegerin. Ihre Selbstachtung und Würde hat sie bei Katharina Schüttler aber nicht verloren. Der herausragenden Schauspielerin gelingt es, die Spannung in einem hochdramatischen Schlussplädoyer mit fester Stimme noch zu steigern – auch indem sie das Publikum direkt anspricht und gleichsam in die Rolle der Geschworenen-Jury versetzt. „Irgendwas muss sich ändern“, lautet der Schlusssatz dieses kraftvollen Theaterabends, dem nichts hinzuzufügen ist. Und den man keinesfalls verpassen sollte.

„Prima Facie“ weitere Vorstellungen bis 6.3., Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 911, Karten T. 413 34 40; www.hamburger-kammerspiele.de