Hamburg. In „Der Sohn“ am St. Pauli Theater treffen Ulrich Waller und sein Ensemble den richtigen Ton für ein düsteres Stück.

Machen Sie doch mal eine typische Handbewegung. So eine Geste „unter Männern“. Eine, die ohne Umwege deutlich macht, wie schwer es Männern mancher Generation fällt, Nähe zuzulassen und Zuneigung zu zeigen: Der Knuff mit der Vaterfaust gegen die Sohnschulter. Die joviale Frage „Was’n los?“, Knuff, gefolgt von ein paar Aufmunterungsstanzen, weil man es auch nicht anders gelernt hat von seinem eigenen Vater und weil man sich doch trotzdem zusammengerissen hat: Du darfst dich nicht so hängen lassen… Da muss man durch… Wir können doch über alles reden... Na, ganz offensichtlich nicht. Denn zum Reden gehört auch das Zuhören.

„Das ganze Leben ist mir zuwider“, antwortet der Heranwachsende Nicolas ziemlich unmissverständlich, er gibt dem Abend seinen offenen Titel: „Der Sohn“, das aktuelle Stück des tollen (weil so genauen) französischen Dramatikers Florian Zeller, das Ulrich Waller nun als deutschsprachige Erstaufführung am St. Pauli Theater zeigt. Auch dies ist die „Anatomie eines Suizids“, wie sie erst vor wenigen Tagen am Deutschen Schauspielhaus eindringlich zu sehen war, auch dort ging es um das Weitergeben von Mustern innerhalb der Familie. Während Alice Birch am Schauspielhaus weibliche Beziehungslinien verfolgt, stellt Zeller am St. Pauli Theater die Männer in den Mittelpunkt. Wo die Figuren, jede aus ihren eigenen Gründen, ebenfalls überfordert sind.

„All die Jahre bin ich deinetwegen bei deiner Mutter geblieben!“

Der Sohn im Teenageralter (Dennis Svensson) ist depressiv. Und die Eltern (Herbert Knaup als Pierre und Johanna Christine Gehlen als Anne) sind hilflos. Was auch daran liegt, dass sie getrennt leben und es mittlerweile noch einen Sohn gibt: das Baby, das Vater Pierre in seiner zweiten Lebensrunde mit seiner nächsten Frau (Sinja Dieks) bekommen hat (und um das sich erneut vor allem sie kümmert). Dass Männer gereifteren Alters schöne junge Frauen an ihrer Seite haben, scheint übrigens gesellschaftlich tatsächlich derart selbstverständlich, dass hier auch die erste, durch eine frischere Variante ausgetauschte Ehefrau mit einer im Vergleich zum Mann deutlich jüngeren Schauspielerin besetzt wird… Johanna Christine Gehlen ist 14 Jahre jünger als Herbert Knaup, Sinja Dieks dann gleich großzügige 30 Jahre nach ihm geboren.

Den Pierre allerdings, der als Erfolgsanwalt kurz vor dem Sprung in die Politik steht, überaus hinreißend nicht tanzen kann und familieninterne Konflikte weiträumig umfährt, den spielt Knaup schlicht fabelhaft. Ein charmanter, ich-bezogener Schluffi alter Schule, dem reichlich Phrasen über die Lippen kommen – und wenn es echtes Gefühl an die Oberfläche schafft, dann als impulsiver Ausbruch, der sich in seiner (womöglich sogar unbeabsichtigten) Grausamkeit nicht mehr zurück nehmen lässt: „All die Jahre bin ich deinetwegen bei deiner Mutter geblieben!“ Da bleibt einem auch beim Zusehen die Luft weg.

Zeller hat ein Konversationsstück geschrieben, in dem viel geplaudert und noch mehr Wein getrunken wird. Ulrich Waller und sein auf allen Positionen sehr gut besetztes Ensemble haben ein ausgesprochen feines Gespür für den nur scheinbar lapidaren Tonfall. Gerade darum treffen die Dialoge so.

"Der Sohn": Ein bedrückender, starker Abend

„Ich schaff es nicht“, sagt der Sohn, den Dennis Svensson so glaubwürdig wie berührend als vollkommen verlorenen jungen Mann zeigt, dessen Schmerz und Not existenziell werden. Inmitten der Beziehungsneuordnung der Erwachsenen ist für seine Verzweiflung jedoch kein Platz. Dabei kann Schulschwänzer Nicolas seine Pein durchaus beschreiben und tut das auch, seine Hilferufe („Ich bin müde, Mama“) sind zahlreich, der Umgang damit chancenlos. Die neue Frau des Vaters, zu dem er zieht, reicht ihm (zur Aufmunterung? Aus Nachlässigkeit?) einen Smiley-Kaffeebecher, gegen das Ritzen und die Sehnsucht zu verschwinden hilft das so wenig wie Joggen oder Vorwürfe. Dass die Eltern über einen gemeinsamen Kinobesuch beratschlagen – nachdem sie ihren Sohn, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, gerade erst gegen den Rat der Ärzte aus der Psychiatrie geholt haben – ist allerdings schon verblüffend unsensibel.

Raimund Bauers weiße Bühne strahlt dazu die passende Coolness aus, ebenso die eleganten Kostüme von Ilse Welter. Gemütlich ist hier gar nichts, alles scheint klar strukturiert. Wie in einem Geisterhaus verschieben sich jedoch die Wände, sie öffnen neue Räume, aber keine Rettung.

„Der Sohn“ ist im Grunde arm an handlungsgetriebener Spannung. Dem Stück, das am Ende mit einer smarten Volte überrascht, schadet das nicht. Die Situationsbeschreibung wird in etwas mehr als anderthalb Stunden ohne Pause dank des präzisen Spiels zur eindrücklichen (und, ja, trotz des düsteren Themas sogar unterhaltsamen) Familienaufstellung. „Alles wird gut“, lautet der letzte Satz. Das darf bezweifelt werden. Ein bedrückender, starker Abend.

„Der Sohn“, wieder vom 29.10. bis 3.11. und 5.11. bis 9.11., jew. 19.30 (So 18.00) im St. Pauli Theater (Spielbudenplatz), Karten 19,90-56,90 in der Abendblatt-Geschäftsstelle und unter T. 30 30 98 98