Hamburg. Der Stabi-Lichthof war restlos gefüllt, als Hamburger Autorinnen Texte gegen Antisemitismus lasen und ihre Kraft bündelten.
„,Nie wieder‘ ist jetzt!“ Schon im Titel ihrer in Kooperation mit der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky veranstalteten Kollektivlesung von „Texten gegen Antisemitismus“ setzt die noch junge Schriftsteller-Vereinigung PEN Berlin einen starken Ton. Entsprechend ist die Resonanz: der Lichthof restlos gefüllt, die Spannung hoch.
Großer Andrang bei Lesung gegen Judenhass
„Nie wieder“. Es geht, wenn man so will, um eine Zeitenwende. Nach Jahren, in denen Antisemitismus in Deutschland zwar immer weiter schwelte, in der Öffentlichkeit aber geächtet war, ist mit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht nur der jüdische Traum von der geschützten Zone Israel zerbrochen, sondern es ist auch hierzulande deutlich geworden, dass sich Juden bedroht fühlen müssen. Jederzeit, an jedem Ort und immer wieder.
In dieser Situation, so umreißt die Hamburger Autorin Simone Buchholz in ihren kurzen Einführungsworten die Absicht der veranstaltenden Literat/-innen, wollen sie den jüdischen Menschen „zeigen, dass wir da sind und dass wir neben ihnen stehen“.
Carsten Brosda, der Hamburger Kultursenator, dessen Behörde zusammen mit dem Jüdischen Salon am Grindel zu den Kooperationspartnern zählt, ergänzt mit dem klaren Hinweis: „Wo man beschützt werden muss, ist man nicht daheim.“ Zugleich erweitert er das Feld der bedrohlichen Entwicklungen mit dem Blick auf unsere politische Gegenwart, in der politische Konzepte Anklang finden, die dem Antisemitismus andere Formen von gruppenbezogener Menschenverachtung zur Seite stellen, Konzepte und Gesprächskreise, in denen von Deportationen und der Überwindung von Demokratie und Grundgesetz geschwärmt wird. Jetzt ist die Zeit, die warme Stube zu verlassen und sicherzustellen, dass das antifaschistische Versprechen „Nie wieder“ Bestand hat.
Texte geben eine Vorstellung von der Kontinuität des Judenhasses
Sieben Hamburger Schriftstellerinnen und ein männlicher Kollege spannen nun einen Bogen aus Texten von Hannah Arendt, Stefan Zweig und Heinrich Heine, von Gabriele Tergit, Jakob Wassermann und der Mara-Cassens-Preisträgerin Dana Vowinckel, junge und ältere Texte, journalistische, biografische und fiktionale Texte, Texte, von denen jeder ein besonderes Licht auf den Antisemitismus in Deutschland wirft und eine Vorstellung gibt von seiner erschreckenden Kontinuität über die Jahrhunderte.
Simone Buchholz eröffnet den in drei Abschnitte gegliederten Textreigen mit dem Reisebericht „Besuch in Deutschland“ aus dem Jahr 1950, in dem sich die in die USA emigrierte Hannah Arendt erschüttert zeigt über den Gleichmut, die sie an den Deutschen in den Kriegstrümmern wahrnimmt, an die vollkommene Unfähigkeit, das Leiden anderer wahrzunehmen – oder auch nur die eigene Trauer über all die Verluste an Leben, Häusern, Werten – an sich heranzulassen.
Gabriel Herlich liest aus seinem Debütroman „Freischwimmer“
Jasmin Sohnemann erinnert mit der sorgfältig ausbalancierten Sprache von Stefan Zweigs „Das Haus der tausend Schicksale“ an die Gleichzeitigkeit von Perspektivlosigkeit und Lebensmut der in England ankommenden jüdischen Flüchtlinge aus Nazideutschland und an die Kraft, die sie zu mobilisieren vermögen.
Bevor schließlich Nicolai von Schweder-Schreiner, Übersetzer und Sänger/Gitarrist der in Hamburg geradezu kultisch verehrten Band Veranda Music, die Lesung durch ein paar lässig dahingehuschte Songs zum Thema auflockert, beschließt Gabriel Herlich, der Jüngste und der einzige Mann in der Autorinnenrunde, den ersten Teil der Lesung mit einem Abschnitt aus seinem im vergangenen Frühjahr erschienenen Debütroman „Freischwimmer“, einer Art Coming-of-Age-Geschichte über einen Jungen aus begütertem Haus, der unter dem Eindruck einer neuen Liebe den Sog seines neonazistischen Umfelds überwindet.
Der zweite Lesungsteil wendet den Blick etwas weiter in die Vergangenheit und fokussiert auf die Kontinuitäten des jüdischen Lebens in Deutschland durch verschiedene Jahrhunderte. Während Katharina Hagena zum Auftakt Heinrich Heines Hohelied auf den Rabbi von Bacharach singt, der es bei aller Leutseligkeit versteht, wach zu bleiben, für den Punkt im scheinbar friedlichen Alltag des rheinhessischen Winzerdorfs, an dem die freundliche Nachbarschaft umschlägt in die Hexenjagd der Mehrheit. Ein Mann, der die Zeichen zu lesen und die Contenance zu wahren vermag und rechtzeitig den Fluchtweg findet. Ein Held der Kunst zu überleben.
Im letzten Drittel erhöht sich noch einmal der Aktualitätsdruck
Ein Jahrhundert nach Heinrich Heine (und fünf nach dem Rabbi von Bacharach) ist die Vorgehensweise von Gabriele Tergit nüchterner, journalistischer, dialogischer. Ihr Roman „Effingers“, aus dem Katrin Seddig liest, steigt in das Alltagsleben einer jüdischen Familie in den Jahrzehnten um den Jahrhundertwechsel ein. Isabel Bogdan schließlich hält sich an Jakob Wassermann, einen Großerzähler aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, der bald nachdem seine Bücher verboten wurden, einen Schlaganfall erlitt.
Im letzten Drittel der Lesung erhöht sich noch einmal der Aktualitätsdruck. Kristine Bilkau liest einen „Zeit“-Artikel der jungen, jüdischen Autorin Dana Vowinckel, in dem diese nach den Ereignissen vom 7. Oktober feststellt, dass viele von denen, die sie für ihre deutschen Freunde hielt, mit ihrer Getroffenheit nicht umzugehen vermögen und plötzlich auf Abstand gehen. Wie Hannah Arendt 73 Jahre zuvor registriert sie die Unfähigkeit zur Empathie und beklagt den Verlust ihres halben Freundeskreises.
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Viola Roggenkamp schließlich, 1948 geboren und die Älteste im Bunde, gibt dem Abend die realistische, vorwärtsschauende Volte. In einem eigenen Text, in dem sie zunächst ihr Unbehagen an ihren bisherigen Begegnungen mit der vor drei Jahren verstorbenen US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Auschwitz-Überlebenden Ruth Klüger reflektiert, übersetzt sie ihre Beklommenheit damit, dass im Gegensatz zum Lebensrecht der Palästinenser jenes der Juden nur selten zum Thema gemacht wird.
Die noch immer fehlende praktische, humanitäre Unterstützung seitens Europas, wie die Entsendung eines Lazarettschiffs oder die Öffnung von Fluchtwegen mit einbezogenem Bleiberecht für die Bewohner des Gazastreifens lassen sie daran zweifeln, dass es sich bei der Sorge vieler Europäer um viel mehr handelt als um vorgeschobene Argumente.
Am Ende der Lesung ist wahrscheinlich keines der drängenden Probleme gelöst, aber die acht Autorinnen haben ihre stärkste Kraft gebündelt: ihre Fähigkeit, das Wort zu ergreifen und hörbar zu machen und dazu, mehr auszulösen als nur sachliche Reflexe. Das wäre schon viel, und möglicherweise setzen auch einige den Appell des Titels direkt um. Am Freitag auf dem Rathausmarkt haben sie die Gelegenheit. „Nie wieder! Ist jetzt.“