Hamburg. Die Berlinerin Dana Vowinckel erhielt den Mara-Cassens-Preis. Eine tolle Autorin, die es bei der Dankesrede ordentlich durchschüttelte.

Am Ende ihrer tief empfundenen und trotzdem selbstironischen Dankesrede erlaubte sich die junge Schriftstellerin, die mit ihrem ersten Buch gleich einen kleinen Hit gelandet hat, eine Bemerkung in Richtung des Gastgebers. „Ich lasse mich von Literatur gerne unterhalten, sorry“, sagte Dana Vowinckel zu Rainer Moritz. Da war sie gerade auf der Bühne gefragt worden, woher denn ihr toller Stil rühre. Ein Schreibstil, eine kraftvolle Prosa, die ihr den mit 20.000 Euro dotierten Mara-Cassens-Preis für das beste deutschsprachige Debüt des Jahres eingetragen habe. An einem beinah denkwürdigen, emotionalen und wichtigen Abend war dies trotzdem einer von nicht wenigen Momenten der Leichtigkeit. Wie sollte das Publikum nicht über dieses erfrischend offene „Sorry“ der jungen Autorin schmunzeln?

Ihr glänzender Familien-Roman „Gewässer im Ziplock“ (Vowinckel: „Ich mag kryptische Titel“) ist ein Text von bedrückender Aktualität, weil er von jüdischer Lebenswirklichkeit handelt – sie ist auch hierzulande gefährdet derzeit, gefühlt mehr noch als sonst. Aber er handelt auch vom Erwachsenwerden, und er vibriert vor Leben. Dass die viel gepriesene Debütantin („Es wäre anmaßend zu sagen, ich hätte bereits eine Poetik; ich bin 27, das ist mein erstes Buch, ich versuche, gerade Sätze herauszubringen“) sich selbst noch als im Werden begriffen sieht, macht sie im Übrigen noch sympathischer.

Dana Vowinckel im Literaturhaus: Eine Feier zum Weinen und Lachen

Und sie schreibt relevante, tiefgründige Literatur. Also das, was Literaturhaus-Chef Rainer Moritz in seinem Grußwort zur Saisoneröffnung – genau das ist die Verleihung des Preises traditionell – mit eindringlichen Worten auf der Agenda aller Lesenden, Literaturvermittler und Kulturredaktionen forderte. Immerhin Literaturhäuser nähmen laut Moritz „die Literatur als Kunst, altmodisch gesagt: als Sprachkunstwerk, ernst“. Seine Diagnose zielte auf Unterlassen an anderer Stelle.

Es lasse sich in den vergangenen Jahren gut ein Trend beobachten, „wie im Kulturbetrieb und vor allem in der Kulturberichterstattung einer Verabschiedung, einer Ausgrenzung von ernsthafter Literatur der Weg bereitet wird, einer Haltung, die selbst den Kulturinteressierten das Schwergängige nicht mehr zumuten will“. Wer nur auf das schon Erfolgreiche, „auf Juli Zeh, Bernhard Schlink oder Daniel Kehlmann“ setze, „der hofft auf bessere Quoten und Reichweiten und meint, seinen Kulturauftrag damit erfüllt zu haben“.

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Deutliche Worte, die sicher nicht falsch sind. Romane abseits des Mainstreams, Romane auf einem hohen ästhetischen Niveau, brauchen mehr noch als früher einen Kick durch Kritik und Literaturvermittlung. Sie dürfen nicht dem allmählichen Verschwinden anheimfallen. Literatur ist aber zu einem bestimmten Teil dann gut und relevant, wenn sie ein Publikum findet. In der medialen Konkurrenz sähe die Literatur schwach aus, ließe sie das Leichte ganz aus. Was nicht heißt, dass jede Literatur, die ein Publikum hat, dieses tatsächlich auch verdient. Moritz nannte in diesem Fall zu Recht spöttisch das „literarische“ Werk des Großdrogisten Dirk Roßmann.

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Und den meinte Dana Vowinckel sicher nicht, als sie auf den Entertainment-Aspekt ihrer Literaturvorlieben zu sprechen kam. Sie lese gerne US-amerikanische Literatur, offenbarte Vowinckel. Was übrigens grundsätzlich auch für Moritz gilt. Halten wir fest: Der Kritiker und die Autorin würden sich beim Anspruch an Literatur doch leicht einig werden.

Mara-Cassens-Preis: Eine Welt, die es so nicht mehr gibt

Auch, weil Vowinckel ausweislich ihres ersten Buchs den Spagat zwischen Ernsthaftigkeit und Durchlesbarkeit (um einen Begriff Wolfgang Herrndorfs zu verwenden) beispielhaft bewerkstelligt. Laudatorin Marie Schmidt („Dass die Rede vom Existenzrecht Israels keine Formel ist, habe ich erst jetzt begriffen“), Literaturexpertin bei der „Süddeutschen Zeitung“, verwies darauf, dass der Text von „Gewässer im Ziplock“ nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023, als die Terrororganisation Hamas Israel angriff, noch stärker geworden sei.

Vowinckel selbst drückte es anders aus: Ihr Roman spiele in einer Welt, die es nicht mehr gebe. Die pubertierende Rita, die in ihrer Kindheit abgängige Mutter Marsha, ihr religiöser, israelisch-berlinerischer Vater Avi, das Familiendurcheinander, Ritas Liebeshandlungen: Vor dem Hintergrund jüdischer Identität und deren Bedrohung verblasst jene nicht unkomplizierte Alltäglichkeit in der Tat. Sie weine sich durch ihr Leben, hat Vowinckel vor einiger Zeit in einem Artikel bekannt. Die vielen Toten, die ausbleibende Solidarität gerade in Deutschland, es war ja wirklich alles zum Heulen.

Mäzen Holger Cassens mit Preisträgerin Dana Vowinckel.
Mäzen Holger Cassens mit Preisträgerin Dana Vowinckel. © Daniel Müller/Literaturhaus Hamburg | Daniel Müller/Literaturhaus Hamburg

Dass bei Vowinckel („Das ist mir jetzt peinlich“) auf der Bühne ein paar Tränen flossen, lag aber sicherlich vor allem an der Überwältigung durch den Augenblick. Ihr Buch hat seinen Weg gemacht, was keine Selbstverständlichkeit ist, und hat längst nicht nur die wie immer wunderbaren, kenntnisreichen Einsatz zeigende Laien-Jury des Cassens-Preises beeindruckt. Die Feierlichkeit des Moments, der prächtige Festsaal am Schwanenwik, und alle waren sie da: Ihre Lektorin, der Vowinckels überschwänglicher Dank galt, Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe auf Heimatbesuch, Vowinckels Lebenspartner. Und auch Holger Cassens, dessen verstorbene Frau dem Preis seinen Namen gibt. Cassens ist ein Mäzen des literarischen Lebens in Hamburg, dessen Tun nicht genug zu würdigen ist.

Kultursenator Carsten Brosda: „Ich will nicht in einer Welt leben, in der Dana Vowinckel Angst haben muss“

Das wurde wie bei diesen Veranstaltungen üblich ausgiebig getan. Aber noch weitaus mehr ging es um den Resonanzraum, in dem das Lesen des Romans, das Nachdenken über den Roman „Gewässer im Ziplock“ angesichts der aktuellen Ereignisse stattfindet. Kultursenator Carsten Brosda erinnerte in seiner Rede daran, dass sich immer noch viele Geiseln in der Hand der Hamas befinden. Jüdinnen und Juden hätten seit dem Angriff auf Israel „immer wieder darauf hinweisen müssen, dass sie auch und gerade in Deutschland die Solidarität vermissen, die beispielsweise nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine unser tägliches Leben bestimmten“, so Brosda.

Der SPD-Politiker berichtete, dass Vowinckel ihr Instagram-Profil zeitweise wegen antisemitischer Kommentare deaktivierte. Er wolle nicht in einer Welt leben, „in der Dana Vowinckel Angst haben muss“, Kulturveranstaltungen mit jüdischer Beteiligung „Polizeischutz brauchen“, Muslime unter „Generalverdacht“ gestellt würden und „wir Vielfalt nicht als Bereicherung betrachten“, sagte Brosda.

Dana Vowinckel im Literaturhaus: Es hilft Verstehen, es helfen Bücher

Es war der richtige Anlass, um Grundlegendes zu äußern. Brosda tat es beherzt. Selbstverständliches jüdisches Leben ist demgemäß nur eine Sache. Die Verantwortung dafür, dass jenes möglich sei, liege durchaus beim Staat, „aber auch bei jeder und jedem Einzelnen von uns, wir haben viel zu tun.“

Brosda fand an diesem Abend, an dem viel gelacht wurde, an dem es ernst zuging, sachlich, aber auch um große Gefühle ging, die Klammer, die den Anlass und das gesellschaftliche Großthema zusammentackerte. Die besten Strategien gegen Antisemitismus, sagte der Kultursenator, seien Information, Begegnung und Empathie. Brosda: „Und hier schlägt die Stunde der Literatur. Nur wer um die Kraft der Literatur zur Einfühlung weiß, wird auch selbst etwas spüren können, das über das eigene Leben hinausgeht. Bücher laden uns zu diesem Verstehen ein.“