Hamburg. Ohnsorg-Theaterchef Michael Lang und das Museum für Kunst und Gewerbe haben von der Stadt eine niederschmetternde Botschaft erhalten.

Wenn Michael Lang aus seinem Fenster im zweiten Stock des Bieberhauses schaut, fällt sein Blick auf den Hauptbahnhof, den weitläufigen Hachmannplatz, dahinter auf das Museum für Kunst und Gewerbe und linker Hand aufs Schauspielhaus. Rechts um die Ecke steht die Kunsthalle. Mehr Hamburg-Kultur an einem Ort geht kaum.

Lang ist Intendant des Ohnsorg-Theaters, er und seine rund 100 Mitarbeiter fühlen sich hier wohl. Nachdem das Traditionstheater 2011 von den Großen Bleichen hierher umgezogen war, wurde der Platz vor dem Haus in Heidi-Kabel-Platz umbenannt. Vor der Tür steht die lebensgroße Bronzefigur der legendären, 2010 verstorbenen Volksschauspielerin. Keine Frage: Hier ist inzwischen die Heimat des wohl hamburgischsten aller Hamburger Theater.

Doch das kann sie nicht bleiben, zumindest für einige Jahre nicht. Der Grund ist ein Wortungetüm: Verbindungsbahnentlastungstunnel.

Museumschefin: Dieser Tunnel wird durch unseren Keller verlaufen

Am Donnerstag vergangener Woche wurde Lang zu einem Gespräch in die Kulturbehörde gebeten, wo ihn Amtsleiter aus Kultur- und Verkehrsbehörde sowie ein Vertreter der Deutschen Bahn begrüßten. Deren Botschaft war unmissverständlich: Wenn der neue S-Bahn-Tunnel gebaut wird, wird er knapp unter dem Bieberhaus hindurchführen, daher muss das Ohnsorg-Theater ausziehen, etwa für drei bis fünf Jahre. Wann genau das sein wird? Frühestens 2028, eher 2030.

Dass der Tunnel gebaut wird, daran lassen der Bund, die Deutsche Bahn und der Hamburger Senat keinen Zweifel. Am gleichen Tag wurde daher auch Tulga Beyerle, Direktorin des Museum für Kunst und Gewerbe (MKG), in die Kulturbehörde gebeten. Sie bekam die gleiche Botschaft zu hören: „Uns gegenüber ist klar kommuniziert worden, dass dieser Tunnel durch unseren Keller verlaufen wird und wir das Gebäude während der Bauphase räumen müssen“, sagt Beyerle im Gespräch mit dem Abendblatt.

Ohnsorg und MKG dürften während mehrjähriger Bauphase nicht genutzt werden

Der Keller selbst sei dabei gar nicht das größte Problem, „auch wenn wir derzeit jeden einzelnen unserer 23.000 Quadratmeter Nutzfläche im Gebäude brauchen“, so Beyerle. „Die spannendere Frage ist, was es für das fast 150 Jahre alte Gebäude bedeutet, denn wir vermuten, dass der Tunnel in offener Bauweise errichtet werden muss.“

In der Hinsicht hat Michael Lang schon etwas mehr Klarheit. Während die Bahn die neue S-Bahn-Station unter dem Bahnhofs-Vorplatz wie üblich in offener Bauweise errichten will, soll direkt nördlich der Tunnelbohrer ansetzen, sodass das Gebäude mit dem Ohnsorg-Theater bis auf den Keller unangetastet bleibt. „Aber während der Tunnel gebaut wird, muss es aufwendig abgestützt werden, sodass das gesamte Bieberhaus in der Zeit aus Sicherheitsgründen nicht genutzt werden darf“, sagt Lang. Vor dem Haus nimmt er Heidi Kabel in den Arm und zeigt: Genau hier, etwa ein bis zwei Meter unter der Bronze-Figur, werde der Tunnel durchgehen.

Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg MKG Gebäude Aussenansicht
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg MKG Gebäude Aussenansicht © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Im Bewusstsein der Hamburgerinnen und Hamburger ist das Milliardenprojekt dagegen noch gar nicht richtig angekommen. Dabei ist der Verbindungsbahnentlastungstunnel, kurz VET, das zentrale Projekt, um die Schieneninfrastruktur in Hamburg und ganz Norddeutschland in die Zukunft zu führen.

Geplanter „Deutschlandtakt“ ist der Grund für den Bau des Tunnels

Seine Notwendigkeit ergibt sich aus dem Deutschlandtakt, auf den sich Bund und Länder geeinigt haben: Die Bahn soll künftig häufiger, verlässlicher und schneller fahren, diesem Wunsch-Fahrplan muss die Infrastruktur angepasst werden. Und das mit Abstand größte Hindernis dafür im Norden ist der völlig überbelastete „Knoten Hamburg“.

Um diesen zu entzerren, sind diverse Maßnahmen in Planung – von der Erweiterung des Hauptbahnhofs bis hin zu zusätzlichen Elbbrücken, jedes für sich ein Milliardenprojekt. Doch keines ist nach Aussage von Bund, Bahn und Stadt so zentral wie der VET. Denn fast der gesamte Bahnverkehr durch Hamburg muss über die zwei Gleise der Verbindungsbahn vom Hauptbahnhof über Dammtor Richtung Altona. Zu 140 Prozent sei diese Strecke ausgelastet, sagt die Bahn.

Fährt die S-Bahn im Tunnel, verdoppelt sich oben die Kapazität für Züge

Die vom Bund beauftragten Planer des Deutschlandtakts, die schon das als vorbildlich geltende Schweizer Schienensystem entwickelt haben, haben daher empfohlen, die S-Bahn, die ebenfalls über die Verbindungsbahn fährt, in einen Tunnel zu verlegen – daher der sperrige Name „Verbindungsbahnentlastungstunnel“. Fern- und Regionalverkehr hätten dann oberirdisch vier statt zwei Gleise zur Verfügung, die Kapazität würde verdoppelt.

150 Züge zusätzlich könnten dann dort täglich mehr fahren, rechnete Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) vor, als er und die Deutsche Bahn am Montag die Machbarkeitsstudie vorstellten. Das bedeute mindestens 55.000, im Idealfalls sogar 100.000 zusätzliche Sitzplätze täglich. In der Präsentation, die am Donnerstag auch dem Verkehrsausschuss der Bürgerschaft im Rathaus vorgestellt wurde, wird der VET daher als „unerlässlich“ bezeichnet.

Trotz kritischer Nachfragen: Bahn und Senat halten den Tunnel für „unerlässlich“

Das wird längst nicht überall so gesehen. Die Bürgerinitiative Prellbock, die gegen die Verlagerung des Fernbahnhofs Altona nach Diebsteich kämpft, hält den Tunnel für überflüssig. Auch im Verkehrsausschuss kamen kritische Fragen, welche Alternativen geprüft worden seien.

Doch sowohl die Bahn als auch der Verkehrssenator beteuern, der VET habe sich nach eingehender Prüfung als einzig mögliche Lösung für den Knoten Hamburg erwiesen. Wie ernst es den Verantwortlichen ist, zeigen auch Details. Die Bahn-Tochter DB Netz hat in ihrem Gebäude unweit des Hauptbahnhofs bereits eine ganze Etage für die Projekte freigeräumt: Im Aufzug steht neben dem Knopf für den 13. Stock: „Verbindungsbahnentlastungstunnel und Hamburg Hbf“.

Fünf Trassenvarianten sind im Gespräch – Kosten gehen in die Milliarden

Dabei ist noch vieles offen, etwa der Großteil der Trasse. Fünf Varianten liegen für die Strecke zwischen Dammtor und Diebsteich vor, die nun mit der Bevölkerung und Experten diskutiert werden sollen. Allzu viel Zeit nimmt man sich dafür nicht: Tjarks sagte im Ausschuss, er wolle noch vor Jahresende entscheiden, mit welchen ein oder zwei Trassen man in die Vorplanung gehen werde.

Zu den Kosten wurde in dieser Woche hingegen kein einziges Wort verloren. 2,6 Milliarden Euro hatte der Bund mal genannt, wovon er 75 Prozent übernehmen würde – Hamburg müsste den Rest beisteuern. Doch das ist schon einige Jahre her und allein aufgrund der explodierenden Baupreise überholt.

Darum geht es nur durch den Keller des Museums und des Theaters

Fest steht hingegen, wo der Tunnel im Bereich Hauptbahnhof verlaufen würde. Wie Bernd Homfeldt, Projektleiter auf Seite der Bahn, im Verkehrsausschuss erläuterte, gebe es technisch keine andere Möglichkeit, als ihn neben den bestehenden S-Bahn-Tunnel zu platzieren, der ebenfalls unter dem Hachmannplatz liegt. Denn der neue Tunnel müsse zwingend auf dem gleichen Niveau („minus 1“) liegen wie die anderen Gleise, vor allem wegen der Weichen am Hauptbahnhof.

Und damit sei man „teilweise im Keller des Museums für Kunst und Gewerbe“, so Homfeldt. Die Detailplanung müsse nur noch ergeben, wie tief man tatsächlich in den Keller eindringen müsse. Am Bieberhaus ist dagegen wohl nur die äußerte Ecke des Gebäudes betroffen – doch das ist genau der Bereich, in dem das Ohnsorg-Theater sitzt.

BU: Die S-Bahn fährt schon  heute haarscharf am Bieberhaus mit dem Ohnsorg-Theater (mittig hinter den Bäumen) vorbei. Der neue Tunnel würden links neben den Schienen verlaufen. Foto: Roland Magunia
BU: Die S-Bahn fährt schon heute haarscharf am Bieberhaus mit dem Ohnsorg-Theater (mittig hinter den Bäumen) vorbei. Der neue Tunnel würden links neben den Schienen verlaufen. Foto: Roland Magunia © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Ohnsorg und MKG sind nicht gegen die Planung – wollen aber mitreden

Dort, ebenso wie im MKG, wird dennoch kein Groll auf Bahn oder Stadt gehegt. Sowohl Tulga Beyerle als auch Michael Lang zeigen grundsätzlich Verständnis für die Planung. „Der Hauptbahnhof ist mit über 500.000 Fahrgästen täglich schon heute überlastet, das Gedränge ist zeitweise unzumutbar“, findet Lang. „Da es in einigen Jahren sogar 750.000 Fahrgäste sein werden, steht außer Frage, dass am Hauptbahnhof etwas passieren muss.“ Was die beste Lösung ist, überlässt der Ohnsorg-Chef den Experten, aber einen Wunsch hat er für die Debatte: „Ein ‘Stuttgart 21’ darf es in Hamburg nicht geben.“

Auch für Tulga Beyerle steht „außer Frage“, dass für das Gelingen von Mobilitätswende und Deutschland-Takt der Hauptbahnhof entlastet werden muss. Das Konzept des Tunnels leuchte ihr auch ein, und dem wolle man „auch nicht im Weg stehen“, so die Museums-Chefin. Sie hat aber eine klare Erwartung: „Als direkt Betroffene möchte wir als gleichberechtigte Partner bei dieser spannenden Debatte, bei der es ja auch um das Umfeld unseres Hauses geht, mit am Tisch sitzen.“

Museum für Kunst und Gewerbe fordert einen prominenten Ausweichstandort

Eine der „spannendsten“ Debatten für die beiden Kulturinstitutionen dürfte werden: Wohin geht es für sie während der Bauphase? Denn auf Jahre komplett zu schließen, ist weder für das Ohnsorg noch für das MKG eine Alternative. „Ich bin mir mit Kultursenator Carsten Brosda einig, dass es undenkbar ist, dass das Museum für Kunst und Gewerbe, das seit 1877 an diesem Standort ist, für zehn Jahre von der Bildfläche verschwindet“, sagt Beyerle.

Sie fordert unmissverständlich: „Wir brauchen also einen prominenten Ausweichstandort. Aber wer für das größte Kunst-Gewerbe-Museum Deutschlands mit 600.000 Objekten übergangsweise einen Ort für die Sammlung und das Programm sucht, und sei es auch nur interimsweise, muss Jahre vorher mit der Planung beginnen – also am besten sofort.“

Ohnsorg-Theater: Das sind die Anforderungen an einen Interimsstandort

Auch Michael Lang rechnet mit mehreren Jahre Vorlauf für die Suche nach einem Interimsstandort: „Daher muss ab sofort bei jedem Bauprojekt im Bereich der City mitgedacht werden: Wäre das etwas fürs Ohnsorg?“ Und noch etwas sei ja wohl klar: „Natürlich müssen Bund und Stadt die Kosten für dieses ganze Unterfangen tragen, schließlich ist der Umzug nicht unser Wunsch, sondern wäre das Ergebnis einer bundespolitischen Entscheidung.“

Lang hat der Kulturbehörde auch bereits seine Vorstellungen dargelegt, die die ganze Komplexität des Unterfangens beschreiben: „Der Stadt ist bewusst, dass wir für die Bauzeit eine Ersatzspielstätte brauchen – und zwar mit Platz für zwei Theatersäle, Bühnen- und Haustechnik, Werkstätten, Probenräume, Lager, Foyer, Gastronomie, Sanitärflächen, Büros etc..“

„Wenn man ein oder zwei Jahre nicht spielen kann, ist man schnell weg vom Fenster“

Dieses Gebäude müsse zudem zentral liegen, gut an den ÖPNV angebunden sein, Parkplätze bieten und auch sonst alle Anforderungen an einen Theaterbetrieb erfüllen, sagt Lang und erinnert an die „Versammlungsstättenverordnung“: Parameter wie die Höhe der Räume, Lüftung, Brandschutz, Fluchtwege, Zufahrt und vieles mehr müssten erfüllt sein. Letztlich gehe es darum, dass das Theater an dem Standort überhaupt eine Chance habe.

Ganz wichtig sei ihm ein nahtloser Übergang: „Wenn man mal ein oder zwei Jahre nicht spielen kann, ist man schnell weg vom Fenster“, sagt Lang. „Wir wissen ja durch unseren Umzug 2011 und durch die Pandemie, wie schwer es ist, Publikum an einen neuen Standort zu gewöhnen oder ganz zurückerobern zu müssen.“

Museum hat Sorge vor Erschütterungen durch die Bahn

Tulga Beyerle sieht die bevorstehenden Arbeiten „auch als große Chance“, wie sie sagt. „Wir können bei der Gelegenheit vieles an unserem Haus modernisieren, etwa das Depot.“ Sorgen machen ihr die rollenden Untermieter dennoch: „Was wir überhaupt nicht brauchen, sind Vibrationen aus dem Untergrund“, sagt die Direktorin. „Schon die Erschütterungen durch den bestehenden Tunnel führen dazu, dass wir wertvolle Sammlungsstücke aus tausenden Jahren Menschheitsgeschichte in Teilen des Hauses nicht mehr lagern können. Das darf sich auf keinen Fall verschärfen, aber leider konnte uns das bislang niemand zusagen.“

Auch im Ohnsorg gibt es die Sorge über mögliche zusätzliche Erschütterungen – in Teilen des Theaters spürt man heute schon, wenn Züge am Bieberhaus vorbeifahren. Dass der VET am Ende doch nicht gebaut wird, erwartet Lang nicht: „Der politische Wille, diesen Tunnel zu bauen, scheint sehr ausgeprägt zu sein. Daher muss man davon ausgehen, dass es so kommt.“

Ohnsorg-Chef: Wir wollen an unseren Standort zurückkehren!

Und auch wenn es noch viele Jahre daher nimmt er sich auch vor, für diesen Standort zu kämpfen: „Unsere jetzige Lage am Hauptbahnhof ist verkehrstechnisch schon optimal, das Theater ist extra für uns gebaut worden und wir haben einen langfristigen Mietvertrag. Daher gehe ich schwer davon aus, dass wir nach der drei- bis fünfjährigen Interimsphase hierher zurückkehren werden.“ Natürlich mit Heidi Kabel vor der Tür.