Hamburg. Ein einziger Unfall zeigt, wie anfällig Hamburgs Schienennetz ist. Neue Elbquerungen müssen her – diese drei Varianten sind im Gespräch.

Die Elbe wird gemeinhin als Hamburgs Lebensader bezeichnet. Die erste Siedlung ist vor mehr als 1000 Jahren an diesem breiten Strom entstanden, und dort, wo die Alster in die Elbe mündet, ist bis heute das Kraftzentrum der Stadt – wirtschaftlich, politisch, kulturell. Aus ähnlichen Gründen ist seinerzeit eine andere Stadt am Südufer der Elbe entstanden: Harburg. Doch nicht erst seit der Zwangsvereinigung 1937 weiß man hier wie dort, was so ein Fluss auch ist: eine Barriere. Ganze vier Straßen verbinden den Norden mit dem Süden der Stadt und der Republik. Wer die Elbe mit der Bahn überwinden will, hat sogar nur eine Möglichkeit: über die Elbbrücken.

Verkehr Hamburg: Braucht Hamburg weitere Elbquerungen?

Es ist DAS deutsche Schienennadelöhr: Bis zu 660 Fern-, Regional- und Güterzüge überqueren täglich auf nur vier Gleisen den Fluss, hinzu kommen Hunderte S-Bahnen auf zwei weiteren Gleisen. Bei der kleinsten Störung – Bauarbeiten, ein Bombenfund im Hafen, Personen auf den Gleisen – gerät alles ins Wanken. Bei größeren Störungen bricht der Verkehr in halb Hamburg zusammen. Derzeit ist es ein Mittelding: Seit am 8. August ein brennender Lkw die S-Bahn-Brücke an den Elbbrücken schwer beschädigt hat, kommt man nur noch mit viel Geduld von Nord nach Süd und umgekehrt, auf Ersatz- und Ausweichstrecken herrschten anfangs chaotische Zustände. Schiene und Straße bilden dabei eine Schicksalsgemeinschaft: Ist das eine System überlastet, weichen viele auf das andere aus – bis dies ebenfalls in die Knie geht.

Kleine Ursache: Ein brennender        Lastwagen beschädigte die Brücke.
Kleine Ursache: Ein brennender Lastwagen beschädigte die Brücke. © picture alliance / rtn - radio tele nord | picture alliance

Daher nimmt nun eine alte Debatte wieder an Fahrt auf: Braucht Hamburg weitere Elbquerungen? Für Verkehrssenator Anjes Tjarks (Grüne) ist die Sache klar: „Der Lkw-Unfall an den Elbbrücken und seine Auswirkungen zeigen, dass Hamburg an einem verkehrlich neuralgischen Punkt weitere Elbquerungen für den Schienenverkehr benötigt“, sagte er kürzlich dem Abendblatt. Tatsächlich sind auch bereits drei Varianten im Gespräch.


U-4-Verlängerung nach Süden:
Am konkretesten sind die Pläne, die noch relativ junge U-Bahn 4 über die Elbe hinaus nach Süden zu verlängern. Die spannende Frage ist nur: Wie weit nach Süden? Bis nach Harburg? Die Trasse vom Jungfernstieg durch die HafenCity endet derzeit auf einer Brücke direkt an der Norderelbe, die schon optisch den Eindruck vermittelt, dass hier nicht Schluss sein soll. In der Tat ist die Weiterführung auf die gegenüberliegende Elbinsel Grasbrook unstrittig – schließlich soll dort ein komplett neuer Stadtteil mit 3000 Wohnungen, 16.000 Arbeitsplätzen und dem Deutschen Hafenmuseum entstehen.

„Die U 4 wird von den Elbbrücken bis zur Haltestelle Moldauhafen im Entwicklungsgebiet Grasbrook verlängert“, teilte die Verkehrs­behörde unzweideutig mit. Eine Realisierungswettbewerb für Ingenieure und Architekten laufe und solle im Frühjahr 2023 abgeschlossen werden.

Gute Chancen hat eine Verlängerung der U 4 bis nach Wilhelmsburg

Und danach? Gute Chancen hat eine Verlängerung der U 4 bis nach Wilhelmsburg. Hierfür wurden bereits drei Trassenvarianten auf Machbarkeit untersucht, alle führen von der Haltestelle Moldauhafen ins quirlige und dicht besiedelte Reiherstiegviertel. Das Ergebnis werde derzeit erstellt und dann veröffentlicht, so die Behörde. Im September und im März seien Jury-Sitzungen zu den Wettbewerben, danach werde die Entscheidung über die Vorzugstrasse nach Wilhelmsburg fallen. Damit das Projekt auch tatsächlich umgesetzt werden kann, müsse aber noch die Bürgerschaft grünes Licht geben.

Was die Fortsetzung nach Süden angeht, hat das Parlament den Senat bislang nur aufgefordert, „eine langfristige Weiterführung der U 4 von Wilhelmsburg (Reiherstiegviertel) bis nach Harburg in der Verkehrsentwicklungsplanung zu berücksichtigen“. Das tut er – aber mit offenem Ausgang. Skeptiker führen unter anderem an, dass zwischen dem Reiherstiegviertel und Harburg mehrere Kilometer Hafen- und Industriegebiet liegen, die nicht unbedingt eine U-Bahn-Anbindung benötigen.


Zusätzliche Gleise über die Elbe:
Die Idee ist, die Elbbrücken von vier auf sechs Gleise für den Fern-, Regional- und Güterverkehr zu erweitern. „Der Vorschlag von Senator Tjarks beinhaltet zwei weitere Gleise von der Norderelbbrücke bis nach Harburg, also sowohl Brücken wie auch die Strecke“, erklärte seine Behörde. Tjarks selbst hatte diese Variante 2021 ins Spiel gebracht, weil sie aus seiner Sicht am schnellsten zu realisieren wäre und weil die bestehenden Brücken ohnehin saniert werden müssen.

Eine mit der Bahn abgestimmte Machbarkeitsuntersuchung läuft und soll voraussichtlich 2023 abgeschlossen sein. Die Sanierung der benachbarten Freihafenelbbrücke für den Autoverkehr wurde eigens verschoben, um gegebenenfalls beide Projekte aufeinander abstimmen zu können. Übrigens: Diese war vor 100 Jahren bereits zweigeschossig konzipiert worden, sodass eines Tages außer der Straße auch eine U-Bahn über die Brücke hätte führen können – doch das spielt in den Planungen keine Rolle mehr.

Am Hauptbahnhof ging zeitweise nichts mehr.
Am Hauptbahnhof ging zeitweise nichts mehr. © picture alliance / rtn - radio tele nord | rtn, frank bründel


Ein weiterer Elbtunnel – für die Bahn:
Diese Forderung kommt vor allem aus dem Süderelberaum und dem nördlichen Niedersachsen. Denn seit der Verlängerung der S-Bahn bis nach Buxtehude und Stade fahren täglich Tausende zusätzlich mit der S 3 in einem riesigen Bogen über Harburg und die Elbbrücken in die Hamburger City. Tendenz steigend, denn am südwestlichen Stadtrand entstehen weitere große Neubaugebiete. Die Idee: Könnten sie schon in Neugraben oder Hausbruch gen Norden abzweigen, die Elbe unterqueren und in Altona aus- oder umsteigen, würde das die Strecke Harburg– Hauptbahnhof stark entlasten. Viele Pendler wären zudem schneller am Ziel. Und es würde erstmals ein S-Bahn-Ring entstehen, der eine Alternative zu den Elbbrücken bieten könnte.

Nachteil: Die Trasse würde viele Kilometer durch nahezu unbesiedeltes Gebiet verlaufen und wegen des langen Elbtunnels vermutlich sehr teuer werden. Daher genießt diese Variante im Senat derzeit am wenigsten Priorität. Bezeichnend: Die 2021 gestartete Machbarkeitsuntersuchung erfolgt im Auftrag des Bundes, der dafür drei Millionen Euro bereitstellt. Erstellt wird sie aber von der TU Hamburg. Dort heißt es, man stehe noch am Anfang: „Erste Zwischenergebnisse werden frühestens im kommenden Jahr erwartet.“


Für alle drei Projekte gilt: Kostenschätzungen gibt es noch nicht. Sie seien frühestens nach Abschluss der laufenden Untersuchungen möglich, so die Behörde. Klar dürfte aber sein, dass jedes Projekt für sich genommen Milliardenkosten auslösen würde und bei der Realisierung eher in Jahrzehnten als in Jahren zu rechnen ist.

„Der Ausbau der Schieneninfrastruktur ist ein absolutes Kernelement der Mobilitätswende für Hamburg, die Metropol­region und am Ende ganz Deutschland“, sagte Tjarks dem Abendblatt. „Es ist aber auch einfach unheimlich wichtig für die Menschen, die in Hamburg südlich der Elbe leben. Die letzte Regional- und Fernbahnbrücke über die Elbe wurde vor etwa 100 Jahren gebaut. Man muss es ganz klar sagen: Hier wurde in den vergangenen Jahrzehnten zu wenig getan.“

Die Erweiterung der Gleiskapazitäten auf der Norder- und Süderelbbrücke sei „sicherlich der schnellstmögliche Weg für zusätzliche Schienenkapazitäten“, so der Verkehrs­senator. „Außerdem planen wir die U 4 schon heute bis Wilhelmsburg und wollen perspektivisch hier natürlich nicht stehen bleiben.“ Insgesamt 92 Millionen Euro habe seine Behörde in ihrem Etat bis 2026 für den Ausbau von Schienenwegen eingeplant, so Tjarks: „Hamburg wird hier also seinen Beitrag leisten.“

Fraktionen setzen unterschiedliche Schwerpunkte

Der Verkehrssenator verweist zudem darauf, dass die Stadt mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen die Kapazitäten der bestehenden Strecken erhöht. Doch auch das hilft nur, wenn die Trasse frei ist.

Die Fraktionen in der Bürgerschaft befürworten zwar alle eine zusätzliche Elbquerung, setzen dabei aber unterschiedliche Schwerpunkte. Anders als ihr noch etwas vorsichtig formulierender Parteifreund im Senat legt sich Eva Botzenhart, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen, fest, dass die Verlängerung der U 4 bis nach Harburg in der Bürgerschaft beschlossen worden sei: „Mit der U-Bahn-Verbindung nach Harburg wird es ein weiteres unabhängiges System geben. So können Busse, S-Bahn, Regionalbahn, Fernbahn und dann auch die U-Bahn Störungen gegenseitig abfangen.“

Die Elbbrücken auszubauen sei „eine zielführende Idee“, findet Botzenhart. Eine westliche Elbquerung sei dagegen nur sehr langfristig realisierbar, „auch wenn sie notwendig ist“. Als Zwischen­lösung schlagen die Grünen einen Xpressbus von Neugraben nach Altona vor.

„Für jedes der drei Projekte gibt es gute Gründe"

SPD-Verkehrsexperte Ole Thorben Buschhüter verweist darauf, dass die drei Vorschläge ganz unterschiedliche Ansprüche erfüllen würden: Die Verlängerung der U 4 bis Harburg diene dem Personennahverkehr innerhalb Hamburgs, entlaste die S-Bahn und schaffe Reservekapazitäten im Störungsfall. Der sechsgleisige Ausbau der Elbbrücken sei dagegen für Fern- und Regionalzüge sowie den Güterverkehr gedacht und wichtig für die Umsetzung des Deutschland-Takts. Eine westliche Elbquerung erfordere zwar eine sehr lange Tunnelstrecke mit sehr geringem Erschließungspotenzial im Hafengebiet, so der Verkehrspolitiker. „Anders als die anderen beiden Varianten quert sie die Elbe aber an völlig anderer Stelle, nur sie könnte wohl einen Beitrag zur Redundanz des Eisenbahnnetzes in Hamburg leisten.“

Buschhüters Fazit: „Für jedes der drei Projekte gibt es gute Gründe. Aber keines kann allen Ansprüchen und Anforderungen gerecht werden. Und jedes einzelne Projekt wird einen Milliardenbetrag erfordern.“ Am Ende werde der größte Nutzen den Ausschlag geben. „Wir müssen die Sache jetzt anpacken“, sagt Buschhüter, schränkt aber ein: „Dass alle drei Projekte in Angriff genommen werden, möglicherweise noch gleichzeitig, davon ist realistischerweise nicht auszugehen.“

„Der Hamburger Süden gerät seit Jahren verkehrstechnisch ins Hintertreffen"

Auch für Richard Seelmaecker, verkehrspolitischer Sprecher der CDU, macht der Lkw-Unfall an den Elbbrücken deutlich: „Wir benötigen dringend weitere Alternativen der Elbüberquerung.“ Die Verlängerung der U 4 ist für ihn besonders entscheidend: „Der Hamburger Süden gerät seit Jahren verkehrstechnisch ins Hintertreffen. Hier müssen SPD und Grüne jetzt endlich handeln.“ Natürlich könne auch eine zusätzliche Elbbrücke helfen, doch vorerst müsse der rot-grüne Senat sicherstellen, dass es für die vorhandenen Verbindungen im Notfall endlich vollen Ausfallersatz gebe. „Langfristig muss das weiträumige Umfahren Hamburgs über Wischhafen und Glückstadt endlich forciert werden“, sagt Seelmaecker. „Hierfür muss der Bürgermeister seinen Einfluss bei der Bundesregierung endlich zum Wohle Hamburgs nutzen.“

Heike Sudmann, Verkehrsexpertin der Linkspartei, erinnert daran, dass der westliche Schienenelbtunnel schon in den 80er Jahren gefordert wurde: „Statt für den Autoverkehr sollte die vierte Elbtunnelröhre für den Schienenverkehr gebaut werden. Seitdem ist der Bedarf, auch durch die vielen Neubaugebiete im Süden Hamburgs, erheblich gestiegen.“ Eine mögliche Ringlinie Altona–Barmbek– Harburg–Altona könne den Hauptbahnhof wirksam entlasten, neue attraktive Querverbindungen schaffen und zum anderen bei Sperrungen auf der Elbinsel einen Teil des Verkehrs aufnehmen.

Die Linke sieht die U-4-Verlängerung nach Wilhelmsburg „in weiter Ferne“

Die Verlängerung der U 4 nach Wilhelmsburg sei zwar auch dringend erforderlich, scheine aber noch „in weiter Ferne zu sein“, vor allem auch mit Blick auf fehlende Grundstücke und die Probleme mit dem feuchten Untergrund, so Heike Sudmann. Deshalb müsse ergebnisoffen geprüft werden, ob man die U 4 als „Hochbahn“ oder als U-Bahn verlängere oder auf eine Straßenbahnanbindung vom Hauptbahnhof zur Veddel und nach Wilhelmsburg setze.

Die vom Verkehrssenator ins Spiel gebrachte Erweiterung der Elbbrücken beseitige hingegen aus ihrer Sicht nicht das Nadelöhr: „Kommt es zu Sperrungen auf Abschnitten zwischen Harburg und Hauptbahnhof wegen Bauarbeiten, Bombenentschärfungen, Personen im Gleis oder anderen Störungen, werden keine Züge durch dieses Nadelöhr fahren können.“ Kurzfristig helfen könne dagegen eine Expressbuslinie von Neugraben/Neuwiedenthal durch den Elbtunnel, mehr Metronom-Züge als Pendelverkehr zwischen Harburg und Hauptbahnhof oder ein erhöhtes Angebot an Fähren.

AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann betont, dass seine Fraktion „seit geraumer Zeit“ die Weiterführung der U 4 sowie eine S-Bahn-Elbquerung im Westen fordere: „Die U-4-Verlängerung ist eine dringend benötigte Entschärfung von Hamburgs schlimmsten ÖPNV-Nadelöhr. Eine Elbtunnelröhre für die S-Bahn ermöglicht die Umsetzung eines Ringverkehrs über die Elbe hinaus, was den ÖPNV deutlich effizienter und attraktiver werden ließe.“

Die Bahn selbst, obwohl auch Betreiberin der S-Bahn Hamburg, hält sich bei dem Thema kommunikativ eher zurück – wohl auch mit Rücksicht auf ihre Auftraggeber, den Bund und die Stadt. Manuela Herbort, Konzernbevollmächtigte der Deutschen Bahn AG für Hamburg und Schleswig-Holstein, betonte aber, dass die Anforderungen an den „Knoten Hamburg“ steigen werden und eine „Engpassbeseitigung“ sich positiv auswirken würde: „Daher ist die Machbarkeitsstudie für die Kapazitätserweiterung über die Nor­derelbe der richtige Schritt.“