Über mehrere Monate hatte der Fall für Empörung in Hamburg gesorgt. Urteil gegen Mutter und Stiefvater des gestorbenen Babys aufgehoben.
Hamburg/Leipzig. Sanitäter fanden das Baby am 11. März 2009 in seinem Kinderbettchen. Es war dehydriert und abgemagert, seine Rippen standen hervor, die Wangen waren eingefallen. Schmutzige Windeln lagen auf der fleckigen Matratze in der Wilhelmsburger Wohnung. Den Haustieren, einem Hasen und einem Hund, ging es gut. Lara Mia war tot. Das kleine Mädchen wog mit weniger als fünf Kilogramm Gewicht nur halb so viel wie ein gesunder neun Monate alter Säugling.
Über mehrere Monate hatten die Mutter Jessica R., damals 18, und deren Freund Daniel C., damals 21, dem Kind zu wenig Nahrung gegeben. Auf die Frage, ob das Kind verhungert war, fand die Rechtsmedizin indes keine eindeutige Antwort: Auch ein plötzlicher Kindstod komme infrage. Im Juli 2010 verurteilte das Hamburger Landgericht Jessica R. und Daniel C. wegen Misshandlung und gefährlicher Körperverletzung zu Jugendstrafen von zwei Jahren sowie neun Monaten auf Bewährung.
Die Hamburger Staatsanwaltschaft focht daraufhin das vielfach als zu milde kritisierte Urteil vor dem Bundesgerichtshof (BGH) an. Mit Erfolg. Gestern hob der fünfte Strafsenat (Leipzig) das Urteil auf: Es sei rechtsfehlerhaft, Beweise seien nicht ausreichend gewürdigt worden, sagte der Vorsitzende Richter Clemens Basdorf. Nun muss der Prozess vor einer anderen Kammer des Hamburger Landgerichts neu aufgerollt werden. Der Großvater von Lara Mia - er besucht das Grab seiner Enkelin jede Woche - begrüßt die Entscheidung. "Ich möchte, dass meine Tochter Jessica für diese schreckliche Tat endlich angemessen bestraft wird", sagte Karl-Heinz R., 67, dem Hamburger Abendblatt.
Über mehrere Monate hatte der Fall Lara Mia für Empörung und Entsetzen in Hamburg gesorgt. Ein Fall, der eklatante Organisationsmängel im System der Jugend- und Kinderfürsorge offenlegte und eine Debatte über das Versagen der Behörden entfachte - zumal das Baby von seiner Geburt an staatlich beaufsichtigt wurde. Als Betreuerin stand Jessica R. mit Marianne K. eine erfahrene Familienhelferin des Rauhen Hauses zur Seite. Die Pädagogin betreute Mutter und Kind zunächst zehn, dann fünf Stunden pro Woche. Einmal notierte sie: "Das Kind lacht, isst und macht einen guten Eindruck." Acht Monate später war Lara Mia tot, und Marianne K., die vom Gewichtsverlust des Babys nichts mitbekommen haben will, wurde mit einem Strafbefehl über 2700 Euro belegt.
Für Jessica R. sei das Siechtum ihres Kindes jedenfalls unübersehbar gewesen, urteilte das Landgericht damals. Von Oktober 2008 an magerte das Kind sichtlich ab, trotzdem gingen Daniel C. und Jessica R. nicht zum Kinderarzt - aus Angst, dass das Jugendamt ihnen das Baby wegnehmen und eine Einnahmequelle versiegen könne. "Das Baby hatte vor allem eine Funktion: die Angeklagte zu versorgen", so das Gericht. Nur Stunden nach dem Tod gestand Jessica R. ihrer Mutter: "Lara ist verhungert. Jetzt fehlen mir 500 Euro." Mit einer Schwangerschaft habe sie sich vor der Schule und der Arbeit drücken wollen, um ihren Interessen nachzugehen: "Chillen, Party, Fernsehen und Drogen".
Jessica R., so urteilten die Bundesrichter jetzt, dürfe nicht noch einmal so glimpflich davonkommen, und Daniel C. nicht wieder nach Jugendstrafrecht verurteilt werden. "Allzu leichtfertig" hätten die Hamburger Richter angenommen, dass die Angeklagten den Tod des Mädchens nicht erkannt hätten. Dass Jessica R. und Daniel C. den Krankenwagen riefen, wirkte sich "strafbefreiend" aus - sie wurden nicht wegen versuchten Totschlags verurteilt. Ein völlig sinnloser Anruf - denn die kleine Lara Mia war da schon seit Stunden tot.
Im neuen Verfahren müsse nun eine ganze Palette von Straftaten ins Visier genommen werden, sagte Richter Basdorf. "Es mag sein, dass sogar ein Mord zu prüfen sein wird." Ob die neue Kammer aber wie die alte einen Tötungsvorsatz bejaht, ist keineswegs sicher. "Sämtliche Feststellungen der alten Kammer sind aufgehoben. Nun steht alles auf null", sagte der Verteidiger von Daniel C., Ulf-Diehl Dreßler.
Der Deutsche Kinderschutzbund zeigte sich zufrieden mit der Entscheidung. "Das Urteil im ersten Anlauf wirkte ohnehin wie ein fauler Kompromiss", sagte dessen Präsident Heinz Hilgers. "Aber: Ein härteres Urteil wird leider keine abschreckende Wirkung entfalten."