Harburg. Saida Kern schmeißt Studium und schließt eine Ausbildung bei Segel-Raap in Harburg ab. Warum die 26-Jährige jetzt ins Ausland gehen will.

Hamburgers einziger Azubi zum Segelmacher, der in diesem Jahr seine Gesellenprüfung ablegte, kommt aus Harburg und ist weiblich: 2020 brach Saida Kern ihr Physikstudium in Göttingen ab, weil es ihr zu theoretisch war. Sie entschied sich, in die handfeste Praxis zu wechseln.

Das Segelboot ihrer Eltern und Großeltern inspirierte sie, sich zur Segelmacherin ausbilden zu lassen. Nach dreijähriger Lehrzeit beim Harburger Traditionsbetrieb Segel-Raap arbeitet sie dort seit wenigen Wochen als Angestellte. Und schmiedet bereits neue Pläne.

Kern geht zum Segelregal und zieht ihr Gesellenstück hervor: ein Großsegel für ihr Familienschiff „Klara“, mit aufwendigem (triradialen) Schnitt und besonderer Stichvariante an den Abschlusskanten. Das Segel wird nächstes Frühjahr aufgezogen werden, im Hafen von Boltenhagen. „Das Segeln gehört einfach zu dem Beruf“, sagt die 26-Jährige. „Schließlich müssen wir etwas davon verstehen, wenn wir Kunden beraten.“

Saida Kern mit ihrem Gesellenstück, einem Großsegel für das Boot der Familie.
Saida Kern mit ihrem Gesellenstück, einem Großsegel für das Boot der Familie. © Angelika Hillmer | Angelika Hillmer

Harburger Auszubildende ist Bundessiegerin unter den Segelmachern

Am Montagabend wurde sie in der Handwerkskammer als Hamburger Landessiegerin für den besten Gesellenabschluss in ihrem Gewerk geehrt. Das ist nicht weiter schwierig, wenn man der einzige Prüfling ist. Aber auch deutschlandweit hat sie sich durchgesetzt, ist Bundessiegerin geworden. Ihr Gesellenstück und handwerkliche Fähigkeiten wurden mit 1,2 benotet, dazu kommt die Schulabschlussnote von 1,4.

Sie habe in den drei Jahren extrem viel gelernt, sagt Kern, die in Buxtehude aufgewachsen ist und heute auf St. Pauli wohnt. „Aber wenn man sich erst einmal mit dem Thema befasst, entdeckt man, wie umfangreich es ist. Ich habe bisher nur an der Oberfläche gekratzt.“ Die Theorie hat Kern in mehreren vierwöchigen Blöcken an der Berufsschule der Handwerkskammer Lübeck gelernt. Auf der Halbinsel Priwall mit Internatsaufenthalt. In ihrer Klasse mit gut 20 Auszubildenden seien Mitschüler aus Kiel, der ostdeutschen Ostseeküste, aber auch zwei vom Bodensee und einer aus Hildesheim gewesen.

Zur Ausbildung gehören auch Zollvorschriften für Lkw-Planen

In der Ausbildung geht es nicht nur ums Segelnähen, sondern zum Beispiel auch um Zollvorschriften für Lkw-Planen. Die Abdeckungen werden ebenfalls von Segelmachern gefertigt. Auch Markisen, Großzelte und natürlich Bootsverdecke. Es habe die Bestrebung gegeben, den Beruf umzubenennen in Schwergewebe Konfektion, sagt ihr Chef Clemens Massel. „Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass es beim Segelmacher bleibt.“

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Viel Raum habe die Materialkunde in der Ausbildung eingenommen, sagt Saida Kern. Es gehe immer um das optimale Segel. Durch die großen Flächen treten hohe Belastungen auf, die das Material und die Befestigungen aushalten müssen. Die Segelkanten werden gestrakt, das heißt auf eine Weise modelliert, dass sich das Segel wölben kann und nicht flattert. Schließlich spielt die Aerodynamik eine große Rolle – Saida Kern ist in der angewandten Physik gelandet.

Segel-Raap: Auch Großsegler wie die „Avontuur“ gehören zu den Kunden

In der Werkstatt am Kanalplatz sitzt sie an einer großen Nähmaschine und bessert ein kleines Segel aus. „Im Herbst erhalten wir viel Reparaturaufträge. Die Regale sind voll, und es wird noch mehr werden“, sagt Kern. Im Frühjahr seien dann eher neue Segel gefragt. Sie arbeite gern bei Segel-Raap; das elfköpfige Team sei sehr nett. Und die Arbeit vielfältig.

So habe sie gelernt, wie früher Segel gemacht wurden. Denn von Segel-Raap werden auch Traditionsschiffe ausgerüstet, etwa der Frachtsegler „Avontuur“, der in den Sommern 2021, 2022 und 2023 säckeweise Kaffee aus Süd- und Mittelamerika im Harburger Binnenhafen angelandet hat. Auch der Verein Clipper mit seinen vier Großseglern und Steganlage im Binnenhafen sei ein Kunde, so Kern. „Unser Chef kann auf traditionelle Art Segel nähen. Das ist ultra viel Handarbeit und deshalb sehr teuer. Das kann sich nicht jeder Verein leisten.“

Der Zweimaster
Der Zweimaster "Avontuur" segelt seit 2016 Kaffee und andere Fracht über den Nordatlantik.  © Avontuur/Timbercoast | Avontuur

Die Segelmacherin lernte auch, wie sie Wanten (Drahtseile, die den Mast halten) spannt und wie ein Mast aufzurichten ist. Das erfordert viel Muskelkraft. Wie im Bootsbau. Dort dominieren Männer, sagt die junge Frau, während unter den Segelmachern die Geschlechter gemischt seien. Doch auch in diesem Beruf müssen schwere Ballen mit Stoff- oder Fensterfolie und große Segel geschleppt werden. Kern: „Die Segel der Avontuur mussten wir zu Viert die Treppe in den ersten Stock hinauftragen.“

Sie wird auf jeden Fall in ihrem Beruf weiterlernen. Und dafür womöglich im Frühjahr ins Ausland gehen. Einmal erfahren, wie in anderen Ländern gearbeitet wird. Und vielleicht sogar Segel für Superyachten nähen. In Spanien gebe es große Produktionsbetriebe – und preiswerte Flüge, um Kontakt zur Familie zu halten. Vor allem wegen ihres sechsjährigen Stiefbruders.

Saida Kern holt ein Segel aus dem Regal. Im Herbst treffen viele gebrauchte Segel zur Reparatur ein.
Saida Kern holt ein Segel aus dem Regal. Im Herbst treffen viele gebrauchte Segel zur Reparatur ein. © Angelika Hillmer | Angelika Hillmer

Harburg: Segel-Raap bildet aktuell nicht aus. Es fehlen Bewerber

Für Clemens Massel wäre der Absprung seiner neuen Fachkraft ein großer Verlust: „Mit ihr würde ein Stück Arbeit und Know-how verloren gehen – jeder bringt unterschiedliche Fähigkeiten mit. Ich habe volles Verständnis, wenn junge Leute sich ausprobieren wollen. Aber für uns wäre es wirklich schade.“ Derzeit habe Segel-Raap keinen Auszubildenden, sagt der Firmenchef. Es fand sich kein passender Kandidat. „Wir würden gern ausbilden, aber nicht auf Teufel komm raus.“

Noch steht nicht fest, ob die frisch ausgebildete Segelmacherin den Harburger Betrieb in wenigen Monaten verlassen wird. Aber es kann schon sein, dass Saida Kern nicht mehr in Deutschland ist, wenn ihr Gesellenstück im nächsten Jahr auf dem zehn Meter langen Aluminium-Boot „Klara“ aufgezogen wird.