Hamburg. Salman E. (35) verschanzte sich mit seiner Tochter auf dem Rollfeld. Zuvor schoss er und warf Brandsätze. Wohnung des Täters durchsucht.
Aufatmen nach knapp 19 Stunden. Die Geiselnahme am Flughafen Hamburg ist am Sonntag gegen 14.30 Uhr unblutig beendet worden. Der 35 Jahre alte Täter wurde festgenommen, seine vier Jahre alte Tochter ist unverletzt. Anschließend untersuchten Spezialisten das Fahrzeug nach Sprengstoff.
„Der Mann hat mit seiner Tochter das Auto verlassen. Es gelang der Zugriff, das Kind ist sicher und unverletzt. Täter Salman E., der türkischer Staatsbürger ist, ist vorläufig festgenommen. Die gute Botschaft ist, dass das Kind sicher ist, und es so ausgegangen ist, wie wir uns das gewünscht haben“, sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün.
Die Polizei war mit einem Großaufgebot vor Ort. Insgesamt waren 920 Einsatzkräfte an dem spektakulären Einsatz beteiligt. Unter anderem wurden auch Kräfte aus Bremen, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und der Bundespolizei hinzugezogen.
Die Ermittlungen des Landeskriminalamtes dauern an. Am Montag wird die Zentralstelle Staatsschutz der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg die Ermittlungen übernehmen. Der Flugverkehr wurde unterdessen am Sonntag gegen 17.30 Uhr wieder aufgenommen, war zu diesem Zeitpunkt aber noch immer weit entfernt vom Normalbetrieb.
Flughafen Hamburg: Geiselnahme unblutig beendet – Mann festgenommen
Hintergrund für die Geiselnahme am Hamburger Flughafen ist nach Abendblatt-Informationen eine Kindesentführung infolge eines Beziehungs- und Sorgerechtsstreits, der am Sonnabend im rund 35 Kilometer westlich von Hamburg gelegenen Stade seinen Anfang genommen hatte. Salman E. stieß nach einem Streit die Mutter des Kindes zur Seite und fuhr in Richtung Hamburg. Die Mutter erstattete daraufhin bei der Polizei in Stade Anzeige wegen des Verdachts der Kindesentziehung.
Bereits im März 2022 wurde in Stade gegen den Mann ermittelt. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Das Kind konnte jedoch von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden.
Geiselnehmer Salman E. entführte Tochter schon einmal
Am Sonntagnachmittag durchsuchte die Polizei die Wohnung des Entführers an der Buxtehuder Schröderstraße. Sie liegt im dritten Stock eines Hochhauses im sogenannten Altländer Viertel. Mehrere Beamte hatten die Wohnung über den Balkon betreten, den sie per Drehleiter erreicht hatten. Die Eingangstür hatten sie nicht öffnen wollen, weil zunächst befürchtet wurde, dass der Täter Sprengfallen installiert haben könnte.
In der Wohnung wurde nach Beweismitteln gesucht. Ob welche gefunden wurden, war am frühen Nachmittag noch nicht bekannt. Ein Hundeführer hat die Wohnung mit seinem Spürhund betreten. Laut Polizei vor Ort hatte Salman E. seine Wohnung am Sonnabend verlassen, um gegen 19.30 Uhr die Tochter aus der Wohnung der getrennt lebenden Frau in Stade zu holen. Bereits dort soll er zwei Schüsse in die Luft abgegeben haben. Von dort sei er vermutlich direkt zum Flughafen nach Fuhlsbüttel gefahren.
Bei Nachbarn ist der 35-Jährige wenig bekannt – bei der Polizei hingegen durchaus: Bereits im März 2022 wurde in Stade gegen den türkischen Staatsbürger wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Das Kind konnte im weiteren Verlauf jedoch von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden.
„Es ist richtig. Der Mann war im vergangenen Jahr schon einmal mit dem Kind für mehrere Monate in der Türkei. Das war nicht erlaubt. Dafür ist er zu einer Geldstrafe verurteilt worden“, so Stades Polizeisprecher Rainer Bohmbach zum Abendblatt.
Bürgermeister Tschentscher lobt Einsatzkräfte am Flughafen für besonnenes Handeln
Unmittelbar nach der guten Nachricht, dass das Kind wohlauf ist, äußerte sich Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher bei X (ehemals Twitter). „Die Geiselnahme auf dem Hamburger Flughafen ist nach langen, dramatischen Stunden beendet. Vielen Dank an die Polizei Hamburg für ihren Einsatz und das besonnene Vorgehen, mit dem das vierjährige Mädchen befreit und der Täter festgenommen werden konnte“, erklärte der SPD-Politiker und fügte an: „Ich wünsche der Mutter, dem Kind und ihrer Familie viel Kraft, die schrecklichen Erlebnisse zu bewältigen.“
Es war das emotionale Ende eines fast eintägigen Dramas. Für die psychologische Betreuung stand am Flughafen seit dem Sonnabend ein Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuz bereit. Leiter Malte Stüben war mehr als zwölf Stunden vor Ort, lediglich für eine kurze Mahlzeit verließ er den Ort der Geiselnahme. „Das ist ein Extremereignis, weil es über so viele Stunden geht. Die Lage ist angespannt. Wir sind mit acht Personen hier vor Ort. Es geht, so lange es geht“, erklärte Stüben.
Zwei Kolleginnen und Kollegen von Stüben kümmerten sich abwechselnd um die Mutter der vier Jahre alten Geisel, die ebenfalls am Airport vor Ort war. Ein Psychologe und eine Kinderärztin standen zudem auf Abruf bereit, damit nach Beendigung der Geiselnahme möglichst schnell mit der Betreuung von Kind und Mutter begonnen werden konnte.
Geiselnehmer durchbrach Eingang zum Flughafen mit seinem Audi
Am Sonnabendabend war Salman E. gegen 20 Uhr mit einem schwarzen Audi ohne Kennzeichen und seiner Tochter als Geisel an Bord durch mehrere Absperrungen am Nordtor des Flughafengeländes gerast und anschließend auf das Rollfeld gefahren. Er warf Molotowcocktails auf das Rollfeld, die von der Feuerwehr gelöscht werden mussten. Anschließend parkte er sein Fahrzeug ohne Kennzeichen unmittelbar an Parkposition 02A neben einer Maschine der Turkish Airlines, die bereit zum Starten war.
Während der Fahrt schoss Salman E. offenbar auch mehrfach in die Luft. Bundes- und Landespolizei rückten mit einem Großaufgebot und mehreren Sondereinheiten an, der komplette Airport wurde gesperrt und der Flugverkehr um 20.24 Uhr aus Sicherheitsgründen bis auf Weiteres eingestellt. Auch die S-Bahn fuhr nicht mehr zum Flughafen.
Gegen 22 Uhr nahmen die Beamten am Sonnabend Kontakt zum Geiselnehmer auf, der die gesamte Nacht über aufrecht gehalten werden konnte.
Die Beamten gingen am Sonntag davon aus, dass Salman E. neben einer scharfen Schusswaffe womöglich auch Sprengsätze unbekannter Art dabei hatte. „Wir gehen im Moment davon aus, dass es dem Kind körperlich gut geht. Das sagt uns der Blickkontakt, den wir im Moment haben, und die Telefonate mit dem Täter, da ist das Kind im Hintergrund zu hören“, sagte Polizei-Sprecherin Levgrün am Sonntagmorgen. Man gehe deshalb erst einmal davon aus, dass körperlich mit dem Kind alles in Ordnung sei. „Wie es seelisch aussieht, darüber mag ich nicht spekulieren“, sagte Levgrün.
Lange Verhandlungen mit Geiselnehmer am Flughafen Hamburg
Die Polizei Hamburg betonte, dass ihre Verhandlungsgruppe Kontakt zu dem Geiselnehmer im Fahrzeug habe: „Wir haben Kriminalpsychologen im Einsatz und sprechen mit dem Täter. Wir setzen hier auf eine Verhandlungslösung“, sagte eine Polizeisprecherin am frühen Sonntagmorgen.
Am späten Vormittag wurde auf dem Rollfeld eine Polizistin gesehen, die einen Plüsch-Teddy dabei hatte, der offenbar dem Kind gegeben werden sollte. „Dass jetzt Polizistinnen und Polizisten auf dem Rollfeld sind, hat taktische Gründe. Sie versuchen, in Kommunikation zu treten und das Kind abzulenken“, sagte Levgrün. Wenig später fuhr ein Fahrzeug mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kriseninterventionsteams auf das Flughafengelände.
Salman E. war den Ermittlern „zugewandt“ – was ebenso als „absolut gutes Zeichen“ gewertet wurde wie überhaupt der Umstand, dass er schon so lange mit den Einsatzkräften in Kontakt stand. Ab und zu öffnete der Täter die Fahrzeugtür, um eine Zigarette zu rauchen. „Er will mit uns sprechen, und das bewerten wir erst einmal als sehr positiv“, sagte die Sprecherin.
Darüber hinaus war die Lage über einen langen Zeitraum aber statisch. Bei der Verhandlung, die über einen türkischen Dolmetscher geführt wurde, ging es in erster Linie um die Rettung des Kindes. Die Mutter des Mädchens traf aus Stade kommend am Flughafen ein. Sie soll sich zuvor wegen möglicher Kindesentziehung an die Polizei gewandt haben.
In der Nacht zum Sonntag soll der Geiselnehmer mehrfach vorgehabt haben, aufzugeben und das Kind der Mutter zu übergeben. Was die Situation besonders gefährlich machte: Die Polizei wusste nicht, wie schwer der Mann bewaffnet war. Nach Abendblatt-Informationen wurde vermutet, dass der 35-Jährige eine Sprengstoffweste dabei hatte. Dies sollen Zeugen berichtet haben. Die Polizei erklärte später bei X (ehemals Twitter), dass man davon ausgehe, dass der Geiselnehmer eine scharfe Schusswaffe und eventuell Sprengsätze unbekannter Art bei sich habe.
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) äußerte sich bei X: „Für die Polizei Hamburg ist die Geiselnahme am Hamburg Airport einer der längsten und schwierigsten Einsätze der jüngeren Geschichte. Unsere hochspezialisierten Kolleginnen und Kollegen tun im Zuge der Verhandlungsführung alles, um den Vater zu beruhigen und zum Einlenken zu bewegen“, erklärte Grote und fügte an: „Oberste Priorität haben weiterhin das Leben und die Gesundheit der vierjährigen Tochter. Sie gesund aus dieser entsetzlichen Lage zu befreien, ist die Motivation aller, die seit 18 Stunden nonstop im Einsatz sind. Das Schicksal des kleinen Mädchens berührt uns alle.“
Wie schwer ist der Geiselnehmer bewaffnet? SEK im Einsatz
Nach der Sondereinheit USE war auch das Sondereinsatzkommando (SEK) mit Kräften aus Hamburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein angerückt. Weil aber die Sicherheit des Kindes oberste Priorität hatte, wurde auf einen Notzugriff verzichtet.
Flugzeuge auf dem Rollfeld wurden geräumt
Bis Mitternacht wurden wegen der Geiselnahme auch die letzten auf dem Rollfeld stehenden Flugzeuge geräumt. „Derzeit evakuieren wir alle Maschinen am Hamburg Airport, in denen sich noch Personen befinden“, twitterte die Polizei Hamburg. Die Terminals seien bereits geräumt.
Starke Kräfte der Landespolizei aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sowie der Bundespolizei waren auf dem Gelände, sie befanden sich in der Nähe des Entführer-Fahrzeugs. Darunter war auch die Beweis- und Festnahmeeinheit der Bundespolizei (BFE), die extra vom Fußballspiel HSV gegen Magdeburg im nicht weit entfernten Volksparkstadion abgezogen worden war.
Auch die Einheiten von SEK (Spezialeinsatzkommando) und USE (Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen) rückten mit mehreren Gruppen an. Die Feuerwehr und weitere Rettungskräfte waren ebenfalls zahlreich vor Ort.
Passagiere schildern dramatische Eindrücke am Hamburg Airport
Parallel schilderten Passagiere aus den evakuierten Flugzeugen ihre Eindrücke während der Räumungsaktion: „Beängstigend“ und „gruselig“, hieß es da. Eine junge Frau, die abends nach Mallorca fliegen wollte, sagte, sie habe ein Feuer gesehen und erst gedacht, das werde wohl schnell wieder gelöscht. Das sei schon „gruselig“ gewesen.
Eine andere Frau, die ebenfalls nach Mallorca fliegen wollte, sagte, sie habe nur ihre Handtasche mitnehmen dürfen, als das Flugzeug geräumt wurde. Alle hätten sich dabei ruhig verhalten, aber es sei auch beängstigend gewesen, weil man nicht wusste, was los war.
Eine Passagierin schilderte, dass sie beim Einsteigen gesehen habe, dass es auf dem Vorfeld brannte. Zwei Minuten vor dem geplanten Start sei dann die Durchsage gekommen: „Verlassen Sie bitte ruhig das Flugzeug“. Dann hieß es plötzlich, alle sollten sich jetzt beeilen.
Flughafen Hamburg: Viele Starts und Landungen am Sonntag bereits gestrichen
Auf der Homepage des Flughafens hieß es: „Der Flugbetrieb bleibt auf unbestimmte Zeit eingestellt. Es kommt den gesamten Sonntag über zu Flugstreichungen und Verzögerungen. Die Polizei bittet, dass Fluggäste vorerst nicht zum Flughafen anreisen, das Gelände ist weiträumig abgesperrt.“
Airport-Sprecherin Katja Bromm sagte zur Lage am späten Sonnabendabend, dass von der offiziellen Sperrung des Flughafens um 20.24 Uhr bis Betriebsschluss um 23 Uhr normalerweise sechs Starts und 21 Landungen erwartet worden wären. Betroffen waren demnach rund 3200 Passagiere. Für Sonntag waren urpsrünglich insgesamt 286 Flüge (139 Abflüge und 147 Ankünfte) mit rund 34.500 Passagieren vorgesehen.
„Es ist zurzeit noch nicht absehbar, wann der Betrieb wieder aufgenommen werden kann“, sagte Bromm aam Sonnabendabend. Fluggäste sollten sich unbedingt bei Fragen zu ihrem Flug direkt an ihre Airline wenden.
Am Sonntagmorgen waren bereits viele für den Vormittag vorgesehenen Abflüge und Ankünfte gestrichen. Gegen 8 Uhr waren bereits 61 Flüge (34 Abflüge und 27 Ankünfte) betroffen. Es werde „den gesamten Tag über zu weiteren Streichungen und Verzögerungen kommen“, teilte der Flughafen mit. „Die Folgen werden für alle, die heute in Hamburg abfliegen oder ankommen möchten, spürbar sein. Wir bitten daher alle Passagiere, ihren Flugstatus im Blick zu behalten“, sagte Airport-Sprecherin Janet Niemeyer.
Zuletzt mehrere Sicherheitsvorfälle am Hamburger Flughafen
Bereits im Oktober war der Hamburger Flughafen gesperrt worden, damals allerdings wegen einer Anschlagsdrohung auf eine Passagiermaschine von Teheran nach Hamburg.
Im vergangenen Juli hatten Klimaaktivisten der Gruppe „Letzte Generation“ den Hamburger Flughafen für Stunden lahmgelegt. Der Flugbetrieb musste für mehrere Stunden aus Sicherheitsgründen eingestellt werden. Tausende Passagiere, darunter viele Familien mit Kindern, waren betroffen. Damals hatte es Forderungen nach einer Verstärkung der Sicherheit gegeben.
Ein grundsätzliches Sicherheitsproblem am Hamburger Flughafen sehen die Verantwortlichen derweil nicht. „Die Sicherung des Geländes entspricht allen gesetzlichen Vorgaben und übertrifft diese größtenteils“, sagte eine Flughafensprecherin am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur.