Hamburg. 1991 sind die Sorgen in der giftverseuchten Bille-Siedlung riesengroß. Und in Bergedorf machen sich glatzköpfige Extremisten breit.
Das passte haargenau: Just zum Start des 10. Ratshausfests am 29. August 1991 erreicht der wachsende Bezirk diese besondere Marke: Der 100.000 Bergedorfer ist da! Mit Katharina Bedei, soeben mit ihren Eltern Jörg und Petra aus Schwarzenbek hergezogen, begrüßte Bezirksamtsleiterin Christine Steinert die sehr junge Jubilarin in Bergedorf passend zum Aufgalopp der Feierlichkeiten mit Kutsche, Spielmannszügen, Fanfaren und Co. auf der Festwiese. Kaum anzunehmen, dass die kleine Katharina im Alter von dreieinhalb Monaten den Trubel um sich herum begriff.
Ein Quantensprung auch für Bergedorfs Berufsfeuerwehrleute: Am 9. April erhalten sie für die Investitionssumme von 9,5 Millionen Mark ihre neue zentrale Feuerwache am Sander Damm. Zum Zeitpunkt der Eröffnung war der 1800-Quadratmeter-Bau der modernste der Hansestadt inklusive Schulungs- und Besprechungsraum, Aufenthalts-, Lese- und Ruhebereich sowie Bürotrakt. 100 Spezialisten verrichten nun in diesem Gebäude ihren Dienst. Das war im Vorgängerbau an der Chrysanderstraße 2d nur schwer möglich. Dort platzte das Gebäude ob der Mannschaftsstärke aus allen Nähten.
150 Jahre bz: Neue Wachen für Bergedorfs Feuerwehr und Polizei
Der damalige Innensenator Werner Hackmann (SPD) ist höchstpersönlich bei der Feierstunde anwesend. Er betont gegenüber der bz-Redaktion, warum im Zuge der zu der Zeit insgesamt sieben neu gebauten Wachgebäude dieses nahe der Bergedorfer Straße angesiedelte so immense Bedeutung besitzt: „Schließlich ist Bergedorf der am schnellsten wachsende Stadtteil Hamburgs.“
Doch damit korrespondiert diese Verzögerung wiederum nicht: „Zentralwache drei Monate später fertig“, lautet die für die Bergedorfer Polizei ernüchternde Schlagzeile vom 8. November. Das trifft die Verantwortlichen für Recht und Ordnung unerwartet, die eigentlich neben den Feuerwehrleuten am Sander Damm noch 1991 einziehen wollten.
Polizei kann ihr neues Gebäude erst im September 1992 beziehen
Doch Probleme überwiegen: „Die Aufstockung verzögert sich wegen statistischer Überprüfungen“, schreibt die bz. Otto Steigleder, damaliger Sprecher der Bergedorfer Verwaltung, berichtet: „Diese Untersuchung hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen, mehr als zuvor angenommen.“ Nun spekuliert unsere Zeitung dahingehend, dass die Gesetzeshüter nicht vor Juli/August 1992 in ihr neues Gebäude einziehen werden. Es ist dann tatsächlich September 1992, als die Polizei aus ihrem alten Dienstgebäude an der Lohbrügger Landstraße auszieht, das in der Folgezeit zum Stadtteilkulturzentrum Lola umgebaut wird.
Und was passiert an der Chrysanderstraße 2d, im altehrwürdigen Schumacher-Haus, das ja im Jahre 1926 einst als gemeinsame Dienststelle sowohl für Polizei und Feuerwehr geplant war und auch einige Jahre in dieser Funktion fungierte? Dort zeichnet sich schnell ab, dass die Freiwillige Feuerwehr Bergedorf zurückkehren möchte und den Grabendamm, seit 1976 die Heimat der FFB, verlassen wird.
Bille-Siedlung: Gärten mit Arsen, Cadmium, Blei und Dioxin verseucht
Schon seit April legen 29 Kameraden Hand an, sanieren das Dienstgebäude in 2500 Stunden ehrenamtlicher Fleißarbeit und räumen auf. Der damalige Wehrführer Uwe Sturr lässt sich von Redakteur Peter von Essen wie folgt am 6. Mai zitieren: „Die Bergedorfer sollen wissen, dass das Gebäude wieder von uns genutzt wird.“ Darauf weist schon frühzeitig ein Schild hin. Am letzten August-Wochenende des Jahres 1991 ist der Wiedereinzug perfekt.
Einen Wiedereinzug wird es für die meisten Menschen aus der Bille-Siedlung nicht geben. Arsen, Cadmium, Blei und Dioxin wurden in gesundheitsschädigenden Mengen unter ihren Siedlungshäusern gefunden, genauer gesagt in der Aufschüttung aus Hafenschlick, die eigentlich die Bodenqualität verbessern sollte.
Bürgerschaft sagt Umsiedlungshilfen in Höhe von 16 Millionen Mark zu
Die Siedler der Bille-Siedlung, in den späten 1980er-Jahren und zu Jahresbeginn 1991 durch Horror-Giftwerte im Boden unter ihren Häusern aufgeschreckt, erhalten Unterstützung. Am 13. April sagt die Hamburgische Bürgerschaft den Betroffenen weitere 16 Millionen Mark an Umsiedlungshilfen zu. Die splitten sich in fünf Millionen DM pauschalisierte Umzugshilfen und elf Millionen DM an zinslosen Darlehen bei Finanzierungslücken beim Umzugsvorhaben auf. Das heißt: Jeder Siedlungsbewohner erhält 10.000 DM und pro weiterem Haushaltsangehörigen weitere 2000 DM.
Doch das Vertrauen in den Wohnort und die Behörden hat gelitten: Wie unsere Zeitung am 22. und 23. März berichtet, wollen viele der etwa 800 Siedler „dem Bezirk Bergedorf den Rücken kehren“. Das sei das Ergebnis einer Umfrage eines Senatsbeauftragten für die Bille-Siedlung, wonach ein gutes Drittel definitiv umsiedeln will – „nach Duvenstedt und Witzhave bei Reinbek“, wie es heißt. Problem beim Duvenstedter Wunschziel: Das dortige Neubaugebiet dauert in der Entwicklung mehrere Jahre.
Viele Siedler wollen „möglichst weit weg vom Hamburger Osten“
Dabei wollen die Ortswechselwilligen „möglichst weit weg vom Hamburger Osten“. Zum einen, weil sie nicht ständig ihren alten, verseuchten Wohnort vor Augen haben wollen. Zum anderen lautet die Zielrichtung, an Wohnorte umzusiedeln, die noch nicht durch „Bodenverunreinigungen in Verruf“ geraten sind. Zudem bestehe auch der Wechselwunsch ins neu entstehende Allermöhe II sowie nach Fünfhausen. Und: Viele Bille-Siedler planen, in eine Mietwohnung umzuziehen - aus finanziellen Gründen und wegen der „Furcht, erneut mit Bodenbelastungen konfrontiert zu sein“.
Und auch die finanzielle und sonstige Unterstützung aus dem Hamburger Rathaus wird zunehmend kritisch betrachtet: „Bille-Siedler: Wut und Enttäuschung“ heißt es im Bergedorf-Teil der bz-Ausgabe vom 30. Mai. Viele Siedler sind mit den Entschädigungen für ihre Grundstücke unzufrieden. Deswegen bekommt Hamburgs damaliger SPD-Bürgermeister Henning Voscherau einen dreiseitigen „Hilferuf!“ vor einer Ausschusssitzung übergeben. Tenor: „Von echter Hilfe ist bisher nichts zu spüren.“
Dann sorgt auch noch ein toxikologisches Gutachten der Universität Freiburg für Verunsicherung. Demnach soll die gesundheitliche Belastung durch die gefundenen Schadstoffe bei Kleinkindern wesentlich schlimmer als bei Erwachsenen durchschlagen, weswegen die Wissenschaftler empfehlen, sie sofort aus der Bille-Siedlung herauszubringen. Die Einschätzung: „Kleinkinder sind danach im schlechtesten Fall täglich dem 400-fachen an Schadstoffen ausgesetzt“. Allerdings: Der Senat lehnt das Aufstellen von Containern als Zwischenlösung in Duvenstedt ab, um die gefährdeten Kinder schnell aus der dioxinverseuchten Bille-Siedlung zu bringen. Grund: Kinder könnten aus Sicherheitsgründen nicht auf einer Baustelle leben.
Zum Start der ersten Windkraftanlage in Bergedorf fehlt der Stargast
Dass der Bezirk auch an anderen Stellen ein Giftproblem hat, wird spätestens mit der Auflistung von 61 dioxinbelasteten Verdachtsflächen deutlich, welche die Umweltbehörde sukzessiv in den 1990er-Jahren sanieren möchte. Der Plan für 1992: sechs Flächen grundsanieren, darunter Teile des ehemaligen Gewerbeparks am Curslacker Neuen Deich, Kampchaussee sowie Schlossstraße. Und: „In der Bille-Siedlung soll 1993 zunächst der Ölschaden am Vorlandering beseitigt werden.“
Altlasten hier, Zukunftstechnologie anderswo: In Ochsenwerder startet die erste kommerzielle Windkraftanlage der Stadt, die 400.000 Mark kostet. Die dort produzierte Energie, der sogenannte „Windstrom“, soll 75 Haushalte im Jahr umweltfreundlich versorgen und ist auch ansonsten von der Umweltbilanz Trendsetter: 75 Tonnen Steinkohle in einem Kohlekraftwerk und 240.000 Kilogramm Kohlenmonoxid werden so eingespart. Dazu notierte die bz allerdings die folgende Beobachtung: „Bei der Einweihung glänzte der wichtigste Gast mit Abwesenheit, der Wind.“
Dafür glänzte es umso heller aus der unfassbaren Weite des Weltraums: Forscher der Bergedorfer Sternwarte entdecken zehn Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt einen sogenannten „Super-Quasar“, „den hellsten Stern des Universums“, wie bz-Redakteur Joachim Schmidt am 9. Juli schreibt. Das Astronomen-Team von Professor Dieter Reimers unterläuft mit dieser Sensationsentdeckung die Vormachtstellung der US-Amerikaner auf diesem Gebiet: „Wir holen auf“, kommentiert ein Mitarbeiter stellvertretend für seinen Chef und fügt hinzu: „Was wir gefunden haben, geht an die Grenzen des Vorstellbaren.“
Skinheads verfolgen Türken: Totschlag, Platzpatronen, Massenschlägereien
Leider sehr vorstellbar wird in Bergedorf die Gewaltbereitschaft von sogenannten Skinheads im Sommer 1991, zweifelsfrei der rechtsextremen, nationalistischen Szene zuzuordnen. Drei von ihnen verprügeln am 20. Juli den Türken Erkan K. an der Serrahnstraße derart brutal, dass tagelang nicht klar ist, ob der Mann überleben wird. Das Trio kommt danach wegen versuchten Totschlags in Untersuchungshaft.
Der Kripo-Chef äußert die Befürchtung, dass dies nicht die letzten „Gewalttätigkeiten zwischen Türken und Skinheads“ sein dürften. In den Gastronomiebetrieben an Serrahnstraße und Alter Holstenstraße bleiben Gäste ob der drohenden Gewaltwelle fern. Bei einem beliebten Skinhead-Treffpunkt am Binnenfeldredder, einem Grill-Imbiss, kommt es nach einem Drohanruf fast zum nächsten Aufeinandertreffen, dieses Mal von etwa 20 türkischstämmigen Mitbürgern und fünf „Glatzenträgern“, die sich zeitlich aber verpassen.
Am Bergedorfer Bahnhof kommt es zu schweren Auseinandersetzungen
Die Aussage der Kripo bestätigt sich: Am 29. Juli berichtet unsere Zeitung von schweren Zusammenstößen am Bergedorfer Bahnhof, wo etwa 30 Skins einen türkischen Jungen bedrängen, hernach an einem Lokal die Scheibe zertrümmern, einen Brandsatz hineinwerfen und mit Platzpatronen hineinfeuern.
Etwa zur selben Zeit versammeln sich ebenfalls 30 Türken am See Hinterm Horn, um gegen Skins mobil zu machen. Die Polizei nimmt an beiden Orten etwa 20 Personen vorläufig fest. Erst Anfang September kann Innensenator Hackmann leichte Entwarnung geben. Die Skinhead-Problematiken seien rückläufig, das Polizeiaufgebot nur noch an Wochenenden verstärkt. 29 Delikte, an denen Skinheads beteiligt sind, registriert die Polizei bis zum Hackmann-Statement.
Sloty statt Mark: Aufsteller von Zigarettenautomaten verzeichnen Verluste
Auch im Umland geht es hoch her: Am 14. Oktober wird in dieser Zeitung von einer fast ausufernden Straßenschlacht zwischen Skinheads und Ausländern mit Baseballknüppeln und Billardqueues in Geesthacht berichtet. Zuvor waren zwei Skins vor dem Lokal Club Royal bei einer Schlägerei verletzt worden, mutmaßlich durch Mitglieder einer türkischen Gang, die dann flüchtete, um sich Verstärkung zu organisieren. Es brauchte 17 Streifenwagen und 35 Polizeibeamte, um etwa 120 potenzielle Gewalttäter voneinander fernzuhalten.
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Demgegenüber regt eine andere Form von Kriminalität heute eher zum Schmunzeln an: bz-Redakteur Wolf Gütschow schreibt über die „Riesenverluste durch Sloty-Münzen“, den Bergedorfer Firmen mit Waren aus Automaten erleiden. Offenbar passt die polnische 20-Sloty-Münze wie ein Markstück in Zigaretten- und andere Automaten. Vor allem die Aufsteller von Zigarettenautomaten sind betroffen, beklagen Verluste in Höhe von „Zigtausend Mark“ – die Sloty-Münze hatte damals einen Wert von gerade einmal 0,3 Pfennig.