Hamburg. 1971: Die Wirtschaft boomt, doch erstmals fällt auf, dass das alles seinen Preis hat. Und dann geschieht ein schreckliches Unglück.
Im Jahr 1971 ist das Jahrzehnt noch jung. Doch es ist schon zu spüren, dass es eine äußerst politische Dekade werden wird. Jüngere Menschen werden gegen die Konventionen der Älteren aufbegehren. Sie werden für freie Liebe, für Gleichberechtigung und für das Recht der Frauen auf Abtreibung kämpfen. Um 1971 formiert sich auch die RAF, die später im Namen ihrer eigenen, linksextremistischen Agenda schwere Verbrechen begehen wird. Die Älteren indes treiben im Land und auch in Bergedorf vor allem die Wirtschaft weiter voran – und bemerken doch erstmals, dass das alles seinen Preis hat.
Umweltschutz ist das Thema der Stunde. 1971 ist nicht nur das Jahr, in dem sich Greenpeace gründet. Es ist auch das Jahr, in dem die Bergedorfer hitzig über die Verschmutzung des Schleusengrabens, die Verantwortung der Unternehmen für die Umwelt, über den zu warmen Winter und den zu trockenen Mai diskutieren. Es werden auch Nägel mit Köpfen gemacht: So wird die „Reit“ in Reitbrook im März zum Naturschutzgebiet erklärt. Und doch wird vieles noch nicht infrage gestellt, der Konsum etwa: In Bergedorf wird 1971 vor allem für den Einzelhandel gebaut und geplant.
Bergedorf 1971 zwischen Einkaufslust und Umweltfrust
Im Herzen Bergedorfs, auf dem ehemaligen Grundstück der Holzhandlung Behr, wird im August 1971 mit dem Bau des CCB begonnen. Schon zuvor, im Februar, zeigt ein Bild in der Bergedorfer Zeitung die leere Sandwüste auf der „Behrschen Insel“. Dort soll – und wird – das CCB entstehen, die „Krone der Bergedorfer City“, wie unsere Zeitung schreibt. Später im Jahr, nachdem bereits die Bagger rollen, wird es allerdings ein Skandälchen um das neue Einkaufszentrum geben. Wurde mit dem Bau begonnen, ehe es eine Genehmigung gab, wie die „Zeit“ berichtet? Die Verwaltung weist das entschieden von sich: Es habe keine „krummen Sachen“ gegeben, gibt die Bergedorfer Zeitung damals eine Erklärung an die Bezirksversammlung wieder. Es gebe nur noch keine Genehmigung für den Wohnturm, heißt es. Das wird später folgen.
Das neue CCB soll in der City aber nicht allein bleiben: Auch für die Alte Holstenstraße in Lohbrügge werden beim jetzigen Marktkaufcenter Pläne geschmiedet. Reibungslos läuft das allerdings nicht: Obwohl die Planentwürfe noch ganz frisch sind und frühestens 1973/74 gebaut werden soll, werden im Frühjahr 1971 an der Alten Holstenstraße bereits in großem Stil die Mieter der Altbauten gekündigt. Das Bauunternehmen verspricht zwar neue Wohnungen. Doch die Mieter fragen sich, ob das für sie finanziell zu stemmen ist. „Sollen wir etwa ins Obdachlosenasyl?“, fürchten sie in der Bergedorfer Zeitung. Auch die Bezirkspolitik muss einräumen, dass „bedauerlicherweise Härten“ eintreten, so der SPD-Fraktionsvorsitzende Jörg König. Ein paar Tage später greift die Bergedorfer Zeitung das Thema erneut auf – diesmal mit dem Versprechen des Einwohneramtsleiters, dass alle Mieter Ersatzwohnungen erhalten sollen: „Keiner muss Angst haben!“ Ob er recht behalten wird?
Bergedorf 1971: Freude über die Fußgängerzone Sachsentor ist groß
Ungeteilter ist die Freude da bei einem anderen Einkaufsparadies. Denn 1971 ist das Jahr, in dem das Sachsentor zur Fußgängerzone umgebaut wird. Nachdem die Verkehrsströme nun auf den anderen Straßen laufen, vor allem auf der unfallträchtigen Bergedorfer Straße/B5, sollen hier im Sachsentor die Passanten ungestört bummeln können. Anfang September ist es so weit: „Tausende kamen gestern zur Eröffnung der Fußgänger-Einkaufsstraße Sachsentor in Bergedorf“, titelt die Bergedorfer Zeitung und schreibt: „Ein Volltreffer“. Eröffnet wird hier zunächst nur der erste Teilabschnitt zwischen Mohnhof und Markt– doch die Begeisterung kennt keine Grenzen. Auch in den folgenden Wochen berichtet die Zeitung vom Andrang in der Fußgängerzone, von Volksfeststimmung und zufriedenen Kunden. Leerstand? Unvorstellbar.
Doch die Freude um die neue Fußgängerzone ist noch nicht abgeklungen, da erschüttert wenige Tage später, am 6. September, ein schweres Unglück die Stadt Hamburg und auch den Bezirk Bergedorf: Kurz nach dem Start am Hamburger Flughafen verunglückt ein Ferienflieger schwer, es gibt Tote und Verletzte. Was war geschehen? Aus dem Flugzeug waren plötzlich Flammen geschlagen. Flugzeug-Kapitän Reinhold Hüls musste notlanden. Weil der Flughafen zu weit war, steuerte der Pilot die A7 an, die gerade erst in einem Teilstück eröffnet worden war. Die Maschine setzte nahe Hasloh mit 200 km/h auf, das linke Fahrwerk brach ein, das Flugzeug geriet in Schräglage und raste auf einen Brückenpfeiler zu. Beide Tragflächen wurden abgerissen, Seitenruder und Heck zerstört, der Rumpf zerbrach in drei Teile.
Flugzeugabsturz von Hasloh: Bergedorfer sind unter den Überlebenden
22 Menschen sterben – doch 99 überleben dank der Leistung des Piloten. Unter ihnen: fünf Bergedorfer. Sie berichten danach in der Bergedorfer Zeitung von dem Absturz, von der brachialen Notlandung, von Leichen und schreienden Menschen am Absturzort. Viele Helfer hätten Menschen gerettet, einige aber auch herumliegende Wertsachen eingesammelt, schildert eine Nettelnburgerin in der bz. Später wird sich herausstellen, dass wohl menschliches Versagen der Grund für den Absturz war: Statt destilliertem Wasser war irrtümlich eine mit brennbarem Kerosin gemischte Flüssigkeit in die Zusatztanks gefüllt worden.
Es bleibt nicht bei diesem Unglück. 1971 muss unsere Zeitung wiederholt über zahlreiche schwere Unfälle auf den überlasteten Straßen Bergedorfs berichten – und am Ende des Jahres eine schlimme Bilanz ziehen. 69 Verkehrstote allein in Bergedorf, darunter sieben Kinder: ein neuer und dramatischer Negativrekord. Debatten über die unsicheren und „kriminellen Kreuzungen“ füllen wöchentlich das Blatt.
Ein Leichendiebstahl sorgt 1971 für Schlagzeilen
Für Schlagzeilen sorgen auch andere Einsätze, etwa schwere blutige Prügeleien am Vatertag und ein Brudermord an Pfingsten. Ein kriminelles Kuriosum beschäftigt im April die Polizei. „Wer stahl die Leiche?“, fragt die Bergedorfer Zeitung ungläubig in großen Lettern auf dem Titel. Denn eine nahezu unglaubliche Geschichte hat sich in Gülzow zugetragen. Mitten auf einem Acker hat eine Frau einen Sarg gefunden, aufgeklappt und leer. Die Leiche des 82-Jährigen, der am nächsten Tag beerdigt werden sollte: verschwunden. Wer hat das getan? Und warum? Der Tote bleibt verschwunden, die Tat rätselhaft. Doch wenige Tage später wird ein Mann festgenommen, ein zweiter stellt sich später. Sie seien betrunken gewesen, so die Männer. Und gestehen: Gemeinsam hätten sie den Sarg gestohlen und den Leichnam von einer Brücke in die Elbe geworfen. Erst nach intensiver Suche wird die Leiche schließlich Tage später gefunden. Den beiden Übeltätern wird schließlich kurz vor Weihnachten 1971 der Prozess gemacht: Drei Monate auf Bewährung und eine Geldstrafe brummt der Richter ihnen auf.
Weitere Einsätze spiegeln in jenem Jahr die politisch angespannte Grundstimmung der 70er-Jahre wider. Etwa ein Großeinsatz in der Nacht zum 16. Januar 1971 in Aumühle. Am Bismarckdenkmal treffen dort etwa 300 Teilnehmer der rechtsradikalen „Aktion 2000“ auf etwa 500 Gegendemonstranten der Deutschen Kommunistischen Partei. Die Rechten wollen hier den 100. Jahrestag der Reichsgründung begehen. Doch die Linken erklimmen das Denkmal, recken die Fäuste, skandieren und singen. Silvesterraketen steigen auf, Knallfrösche explodieren. Die Lage droht zu eskalieren, als rechte Demonstranten zum Denkmal stürmen. Nur mühsam gelingt es schließlich der Polizei, die mit mehreren Hundertschaften und Wasserwerfern angerückt ist, die Lage zu entschärfen und beide Gruppen zu vertreiben.
Fast eine Lappalie im Vergleich zu dem, was am 16. Juli folgen wird. „Heute früh: Jagd auf Baader von Bergedorf nach Aumühle“ titelt die Zeitung am 16. Juli. Zeugen meinten, Andreas Baader in einem Zug zwischen Bergedorf und Aumühle gesehen zu haben. Der Terrorist ist seinerzeit einer der meistgesuchten Männer Deutschlands: 1968 war er wegen Kaufhausbrandstiftungen verurteilt, doch 1970 durch Ulrike Meinhof und weitere Helfer aus der Haft befreit worden. Bis heute gilt die Flucht als Geburtsstunde der linksextremistischen Terrororganisation RAF, die in den kommenden Jahren schwere Straftaten begehen wird. 33 Tote gehen über die Jahre auf ihr Konto.
Alle verfügbaren Kräfte werden an jenem Morgen eingesetzt und alle Züge zwischen Bergedorf und Aumühle durchsucht. Und nicht nur das: Im gesamten Großraum Hamburg gibt es eine Großfahndung nach Baader und weiteren Komplizen. Baader wird zwar nicht gefunden. Doch an der Stresemannstraße durchbricht ein Wagen eine Straßensperre, zwei Insassen flüchten. Es sind die RAF-Mitglieder Werner Hoppe und Petra Schelm. Bei einem Schusswechsel mit der Polizei wird Schelm schließlich erschossen. Sie ist damit das erste RAF-Mitglied, das bei einem Polizeieinsatz zu Tode kommt. Der Hamburger Osten wird indes 1982 erneut zum Schauplatz einer Suche nach RAF-Terroristen, diesmal erfolgreich. In jenem Jahr wird Christian Klar im Sachsenwald festgenommen.
Die Angst der Bergedorfer vor Umweltverschmutzung ist groß
Was beschäftigt die Bergedorfer sonst in diesem Jahr? Lokale Aufreger wie der mögliche Abriss der maroden Kornwassermühle, der Neubau von Schulen, die Tristesse neuer Wohngebiete wie Bergedorf-West oder auch der Besuch Willy Brandts in Reinbek finden sich in Artikeln wieder – Brandt wird in jenem Jahr den Friedensnobelpreis erhalten. Auch das Thema Umweltschutz nimmt immer wieder breiten Raum ein, denn die Angst der Deutschen und auch der Bergedorfer ist groß vor Wasser- und Luftverschmutzung und den riesigen Abfallmengen der Wohlstandsgesellschaft.
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Das klingt vertraut – ebenso wie manch andere Debatte. Immer häufiger geht es auch in der Bergedorfer Zeitung um die Gleichstellung der Frau, um Themen wie eine Entlohnung für ihre Hausfrauenarbeit, um eine Besserstellung bei Scheidung, um Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, um die Pille als Kassenleistung oder das Recht auf Abtreibung. Doch der moralische Kompass, nach dem sich Frauen richten sollen, ist ebenso klar: In einem Artikel zur Abtreibungsdebatte heißt es etwa, dass die Zahl der nichtehelichen Geburten bei Mädchen unter 21 Jahren „etwa dem heutigen Stand der tödlichen Verkehrsunfälle“ entsprechen. Uneheliche Babys so schlimm wie tödliche Unfälle? Ein Vergleich wie Donnerhall.
Doch während die Frauen bitte möglichst nicht außerehelich schwanger werden sollen, hält die Freizügigkeit auch bei der Lokalzeitung Einzug. Nackte Brüste, Frauen in Bikinis, Saunaberichte: Was in den prüden 60ern noch undenkbar gewesen wäre, ist nun häufiger zu sehen. Und im Februar widmet die bz dem Thema Sex gar eine indirekte Titelschlagzeile. Nachdem ein neues Waldgesetz festlegt, dass die Wälder nur noch auf den Wegen betreten werden dürfen, ist die Botschaft klar. „Schäferstündchen sind nur noch auf Waldwegen erlaubt“, so die Schlagzeile. Und damit es auch jeder versteht: „Gegen nächtliche Schäferstündchen im Wald hat der Gesetzgeber auch künftig nichts einzuwenden, sofern sie nicht außerhalb der Waldwege zustandekommen.“ Na dann.