Boberg. Ehemaliger Finanzprüfer und St.-Pauli-Fan Wolfgang Kamenske sieht sich als Bauernopfer – und schildert die Affäre aus seiner Sicht.
Ein erzwungenes Geständnis, zwei Tote und eine Razzia beim Fußball-Bundesligisten. Das Ganze noch gespickt mit dem Namen eines Innensenators, eines Polizeichefs und eines Wirtschaftssenators – getoppt von einem Generalstaatsanwalt, der gegen sich selbst ermitteln lässt: Es könnte ein blutrünstiger Krimi aus dem tiefsten Sizilien sein. Doch so kaltblütig hört es sich nicht an, wenn Wolfgang Kamenske seine Geschichte erzählt: „Einfach nur unfair“, meint der Fußballfan, dem sein Prozess vor bald einem Jahr noch immer in den Kochen steckt.
Der 65-Jährige, den in Boberg alle nur den Bürgermeister nennen, ist seit dem Jahr 2000 im Vorstand des Boberger Bürgervereins. Hier kümmert er sich um die Jugendarbeit und anfangs auch viel um die Baumängel im Quartier. Wie ausgerechnet er in den Verdacht geraten war, in seinem Job als Finanzbeamter getrickst zu haben, kann sich kein Boberger ernsthaft vorstellen – bis zu dieser großen Razzia am Millerntor im August 2019. Der Vorwurf: Vorteilsannahme durch Freikarten beim FC St. Pauli. Das streitet Kamenske gar nicht mal ab – „aber aus beruflichen Gründen“.
Freikarten-Affäre bei St. Pauli: Razzia wegen Verdachts auf Vorteilsannahme
„Sie waren bewaffnet, klopften morgens um 6 Uhr an meine Tür und nahmen gleich mein Handy mit. Dann fuhren sie mich im Streifenwagen zu einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wo ich zur aktuellen Betriebsprüfung meinen Rechner eingeschlossen hatte“, erinnert sich der Mann, der seit seinem 17. Lebensjahr bei der Hamburger Finanzbehörde arbeitet – mit großer Leidenschaft.
Die ist ein bisschen schwer zu erklären, denn „ich bin kein Paragrafenreiter mit Ärmelschonern, arbeite gern mit den Menschen“, betont der in Billwerder aufgewachsene Kamenske, der sich vom Steueranwärter bis zum Betriebsprüfer hochgearbeitet hat – mit einem Fachgebiet: Gemeinnützigkeitsrecht. Es ist immer das Finanzamt, das über die Gemeinnützigkeit entscheidet etwa von Wohlfahrtsverbänden, Krankenhäusern und Sportvereinen. „Deshalb müssen wir die Satzung prüfen, die Buchhaltung checken und den Betrieb im Blick haben“, erklärt der Diplomfinanzwirt.
Bestechungsversuche nicht selten
Da liegt es nahe, dass die Betriebe sich freundlich geben. „Wir müssen äußerst sensibel sein und aufpassen.“ Etwa wenn die Geschäftsführung einer Hamburger Werft eine kleine Probefahrt mit einer Luxusjacht vorschlägt. So etwas lehne man natürlich ab, denn schon das Versprechen eines Vorteils sei eine Straftat.
Und trotzdem brauche es einen Einblick in den Betrieb: „Ich muss mir den Laden zeigen lassen. Auf der Horner Rennbahn etwa will ich den Zuschauer- und den Wettbereich sehen, wobei ich schon mal zugucken durfte, wo die Jockeys gewogen werden. Oder in den VIP-Bereich geführt werde, wo ich eigentlich nichts zu suchen habe.“
Es sei stets ein schmaler Grat. War es denn für Finanzprüfer beruflich wirklich notwendig, im Stadion ein Fußballspiel zu gucken, ohne Eintritt zu bezahlen? „Ja, ganz sicher sogar“, ist Wolfgang Kamenske bis heute überzeugt – mit gutem Gewissen. Doch die Zeilen vom 9. Oktober 2022 aus der „Bild“-Zeitung waren bitter: „… ließ sich vom FC St. Pauli Eintrittskarten schenken, als er dort zeitgleich als Betriebsprüfer tätig war“, hieß es.
Und um es gleich vorwegzunehmen, es war ein großes Brimborium: Nach drei Razzien in Privatwohnungen sowie Durchsuchungen im Finanzamt, in der Finanzbehörde und bei Dataport ist der ganze Vorgang, vor allem aber das Strafverfahren gegen ihn, „wegen Geringfügigkeit“ eingestellt worden.
Freikarten-Affäre: „Keiner war an der Wahrheit interessiert“
„Das hat alles unverhältnismäßig viel Steuergeld gekostet und vor allem meinen Glauben an das Rechtssystem. Früher hätte ich gesagt, man brauche keine Angst haben, wenn man sich nichts zu Schulden kommen lässt. Heute würde ich nicht mehr freiwillig mit der Polizei reden“, sagt der Mann, der zunächst krankgeschrieben war, dann versetzt wurde und vor zwei Jahren in den vorzeitigen Ruhestand ging.
Vor Gericht habe ihm keiner lange zuhören wollen, „da war keiner an der Wahrheit interessiert, zumal weder die Richterin noch die Staatsanwältin an Fußball interessiert sind“, meint Kamenske, der schon 1998 als Betriebsprüfer beim HSV war, auch häufiger beim FC St. Pauli – immer zu zweit bei den Bundesligisten, denn: „Wir müssen uns akribisch absichern, inzwischen ist auch immer ein Bundesbetriebsprüfer beteiligt.“
Um die Sache mit den Freikarten zu verstehen: Da gibt es zum Beispiel welche für Schulklassen, welche für Behinderte und welche für Werbepartner: „Es kommt darauf an, in welcher Funktion ich den geldwerten Vorteil bekomme, ob er vielleicht – wie manchmal bei Ligaspielern – Teil meines Lohn ist, den es zu versteuern gilt“, erklärt der Finanzwirt, der 2014/15 seine vorerst letzte Betriebsprüfung bei einer Vermarktungsfirma des FC St. Pauli machte – nach dreien im selben Betrieb werde nämlich stets eine Pause eingelegt.
Daher wollte er seinen jungen Kollegen einarbeiten und gleich auch die neue Vorgesetzte, die von Fußball keine Ahnung hatte. Da sie aber im November 2014 beim Spiel gegen Kaiserslautern in Urlaub war, platzte die erste Verabredung – „und nein, ich habe nie Karten bekommen, konnte also auch nichts weiter vertickern“, betont er, um die nächste Idee abzuwehren. Dann habe der Pauli-Vorstand einen zweiten Termin vorgeschlagen, so guckten sie am 25. Oktober 2015 (mit VIP-Tickets im Wert von dreimal 167 Euro) das „Knallerspiel gegen Freiburg“ – mit einem erquicklichen 1:0-Sieg für die Kiezkicker.
Seine Chefin kaufte sich ein Shirt im Fanshop
Die Vorgesetzte sei begeistert gewesen, habe sich vorab noch ein T-Shirt im Merchandising-Shop gekauft – und sich von Wolfgang Kamenske die Fan-Kurven erklären lassen: „Wo der Familienblock ist, wo die Gäste sitzen, wo die Ultras. Das muss man verstehen, schließlich nehmen die Fans auch Einfluss auf die Sponsorensuche.“ Bei St. Pauli wird bekanntlich die Mitbestimmung bei der Verwendung der Gelder groß geschrieben, daher haben die Mitglieder auch schon mal eine Bank und einen Wettanbieter abgelehnt.
Jedenfalls habe es Currywurst und Bier gegeben, „zudem begrüßte uns der Vorstand im kleinen Ballsaal über der Südtribüne, nachdem eine Buchhalterin uns die Geschäftsstelle gezeigt und viele Abläufe erklärt hatte“, berichtet Kamenske, der trauert: Sowohl jene Buchhalterin als auch der Bundesbetriebsprüfer sind zwischenzeitlich gestorben, können also keine Beweise mehr erbringen. Und seine Vorgesetzte, die dabei war, räumte im Gerichtssaal plötzlich einen Fehler ein, habe gesagt: „Ich hätte wissen müssen, dass das nicht richtig war“ und 400 Euro Strafe zahlen müssen. So notierte es die Hamburger Morgenpost am 7. Oktober 2022.
St.-Pauli-Freikarten: Senatoren und Polizeipräsident kamen glimpflich davon
Würde es sich tatsächlich um einen sizilianischen Kriminalroman handeln, würde genau jetzt der Handlungsfaden seine Richtung ändern. In der Tat: Es sei ausgerechnet der junge Kollege, den Kamenske eingearbeitet hat, gewesen, dem bei seiner Prüfung 2018 auffiel, dass viele Freikarten ausgegeben worden waren: Wie das Hamburger Abendblatt am 20. September 2019 und am 3. Juli 2020 berichtete, waren es acht für den damaligen Bezirksamtsleiter und heutigen Innensenator Andy Grote. Dazu kamen zwei für den damaligen Wirtschaftssenator Frank Horch und vier für Hamburgs Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer.
So meldete der Familienvater seinen Verdacht der Steuerfahndung, die wiederum die Staatsanwaltschaft einschaltete, Abteilung Korruption. „Das ist der ordentliche Weg, sonst hätte sich mein Kollege selbst strafbar gemacht“, betont der 65-Jährige.
Vielleicht war schon an Durchsuchungen bei den hohen Staatsvertretern gedacht worden, aber Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich sah keinen belastbaren Anfangsverdacht: Schließlich hatten Grote und Meyer bekräftigt, die Karten nur in dienstlicher Funktion genutzt zu haben. Horch indes schloss aus, in seiner Amtszeit als Senator überhaupt bei einem Spiel am Millerntor gewesen zu sein.
„Stattdessen ist man im August 2019 mit einer Kavallerie beim St. Pauli-Ticketshop angetreten und hat alles durchsucht. Und wie zufällig stand schon ein Übertragungswagen von NDR-Panorama davor. Bis heute ist wohl nicht bekannt, wie die Journalisten an das Protokoll der internen Besprechung kamen“, sagt der Boberger „Bürgermeister“, der den Bericht im Hamburger Abendblatt vom 28. August 2019 verfolgte wie auch den NDR-Bericht einen Tag zuvor.
Disziplinarverfahren gegen Generalstaatsanwalt
Drei Jahre später, als nun der Finanzbeamte Kamenske 2022 vor Gericht stand, wurde es brisant, als Generalstaatsanwalt Fröhlich um ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst bat – um den möglichen Vorwurf zu entkräften, er habe aus politischen Gründen (vor der Bürgerschaftswahl) eine Hausdurchsuchung bei Senator Grote verhindert. So schilderte es das Hamburger Abendblatt am 22. Oktober 2022. Das Ergebnis überrascht wenig: Ein Dienstvergehen habe nicht vorgelegen, meldet die Justizbehörde.
Die drei Männer kamen immerhin straffrei davon, während Kamenske ein Bußgeld aufgebrummt wurde. Inzwischen sind die Menschen ja sensibler geworden – spätestens nach dem Konzert der Rolling Stones im Hamburger Stadtpark im Jahr 2017. Da ging es ja auch um Freikarten für Beamte der Hansestadt. Inzwischen gibt es ein Budget für solche Fälle, können in den Behörden offiziell Anträge gestellt werden.
Senator Grote, so hieß es, hätte eine Genehmigung bekommen, wenn er sie beantragt hätte. Dies sei ein „Fehlverhalten“ gewesen. Warum aber, fragt sich Wolfgang Kamenske, soll es bei ihm mehr als ein Fehlverhalten gewesen sein? „Zumal ich doch das Einverständnis meiner Vorgesetzten hatte.“ Hier werde mit zweierlei Maß gemessen: „Ich fühle mich als Bauernopfer. Die Diskrepanz ist nicht in Ordnung, die beschuldigten Spitzenpolitiker wurden sehr anders behandelt als ich.“
5000 Euro Strafe nach „erzwungenem Geständnis“
Zwar stimmte das Gericht im Oktober 2022 schließlich zu, das Verfahren wegen geringer Schuld einzustellen. Wohl aber musste Wolfgang Kamenske eine Geldstrafe in Höhe von 5000 Euro bezahlen – auf seinen Wunsch hin für die städtische Jugendarbeit.
Besonders arg wiegt für ihn aber bis heute sein „erzwungenes Geständnis“: Er sei doch „eine ehrliche Haut“. Aber mit Blick auf eine befürchtete Pensionskürzung habe ihm sein Anwalt ebenfalls dazu geraten, einen Fehler einzugestehen. „Ich war völlig überfordert und sah mich schon Flaschen sammeln. Aber wahrscheinlich war dieses gestotterte Geständnis meine einzige Chance.“
Trotzdem: Er sei noch immer davon überzeugt, keine Straftat begangen zu haben, und könne daher noch sehr gut in den Spiegel schauen – wenn er da mittlerweile auch ein sehr hageres Gesicht sieht. Zwar habe er alles gut überstanden, doch mancher Flurschaden bleibt: „Da muss doch wohl mehr gewesen sein“, glaubten etwa die Nachbarn. „Die haben vielleicht Kinderpornos auf seinem Dienstrechner gefunden“, kursierte ein Gerücht im Büro.
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Warum er das jetzt alles erzählt? Es war seine Tochter Franziska, die sich an die Bergedorfer Zeitung wandte: „Es wurde krampfhaft nach Indizien gesucht und ihm ein Unrechtsbewusstsein angedichtet“, meint die 37-Jährige, die in Frankfurt wohnt und nicht gut zusehen konnte, wie ihr Vater „eingeknickt“ ist, nicht mal Revision einlegte: „Warum konnte mit der gleichen Handlung einer bestochen werden, drei aber nicht?“, fragt sich die Fotografin.
Jedenfalls fühle man sich „ohnmächtig angesichts solch geballter Staatsmacht“, fasst Wolfgang Kamenske zusammen. Und da er schon mal den Glauben an den Rechtsstaat verloren hat, will er auch sein Disziplinarverfahren nicht abwarten, bevor der Frührentner einen Minijob annimmt: „Der Steuerberater von St. Pauli hat mich gefragt, ob ich ihn in Sachen Gemeinnützigkeit beraten mag. Das macht mir Spaß.“ Und wann war er zuletzt bei einem Spiel am Millerntor? „Tatsächlich war ich jetzt beim ersten Heimspiel gegen Düsseldorf eingeladen. Denn die Kanzlei hat Dauerkarten“, sagt Kamenske grinsend.