Hamburg. Das Abendblatt zieht Bilanz: Von der ersten Impfung zu den Rekorden, den Pannen, den Kosten und einem müden Rock 'n' Roller.
Karin Sievers war die erste Kandidatin im Impfzentrum. Die offiziell erste, die überhaupt in Hamburg gegen das Coronavirus immunisiert wurde. Kurios: Nicht sie kam mit ihren 84 Jahren in die Messehallen. Sondern das Impfzentrum kam zu ihr. Karin Sievers lebt im Hospital zum Heiligen Geist in Poppenbüttel.
Und als Dr. Dirk Heinrich, der Sprecher der medizinischen Leiter im Impfzentrum, ihr am 27. Dezember das frisch zugelassene Vakzin von Biontech/Pfizer in den Arm pikste, da schaute ein habilitierter Labormediziner zu. Peter Tschentscher (SPD), ehemals Arzt im UKE, blickte auf den HNO-Arzt aus Horn, der später als „Mr. Impfzentrum“ deutschlandweit zum medizinischen Erklär-Bär der Impfkampagne wurde.
Mit Abstand, Mundschutz und gemischten Gefühlen stand auch Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) neben dem für diese Pandemie in Hamburg historischen Akt. Noch Tausende Male würde man diese Szenen in den kommenden Wochen sehen, im Fernsehen, im Internet, in Twitter-Videos von Erleichterten und dem Impfen skeptisch Gegenüberstehenden. Beim Zuschauen tut’s irgendwie weh, beim Armhinhalten fast weniger.
Impfzentrum Hamburg schließt – das Impfen geht weiter
Auch an diesem Dienstag, da das Impfzentrum nach acht Monaten Dauerbetrieb von morgens acht bis abends acht und oft auch länger, die Tür hinter dem letzten Impfling schließt, geht es Karin Sievers noch gut. Wieder werden jetzt verstärkt mobile Impfteams durch Hamburg fahren und für die letzten Ungeimpften die Spritzen aufziehen. In den Arztpraxen wird natürlich weitergeimpft, in zehn Krankenhäusern, in Unternehmen von Betriebsärzten.
Das Impfzentrum schließt, aber die Pandemie ist bei Weitem nicht vorbei. Zeit für einen Rückblick auf Deutschlands größtes Impfzentrum, das es so eigentlich gar nicht geben durfte und am Ende purer Rock ‚n‘ Roll war, wie der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, Walter Plassmann im Abendblatt schrieb.
Jan Delay bot kostenloses Konzert an
Das lag an Philipp Westermeyer (Online Marketing Rockstars) und seiner Crew von Ramp 106, den flachen Hierarchien auch bei den Pharmaexperten der Alanta Health Group und den Tausenden Mitarbeitern, Ärzten und Helfern, die das Impfen zu einer „coolen“, aber herzlichen Sache machten, wie man an Tausenden Dankeschöns sehen konnte. Sie verbreiteten sich per Brief, E-Mail, Twitter, Instagram. Einige waren wie Jan Delay so beseelt vom Impfzentrum, dass sie kostenlose Konzerte geben wollten. Aus – in diesem Fall unverständlichen – Compliance-Gründen hat der Senat das unterbunden.
Aber die Zusammenarbeit mit der Alanta Health Group stand von Anfang an unter einem speziellen Vorbehalt. Wie das Abendblatt erfuhr, wird weiter gegen die Firma wegen mutmaßlichen Abrechnungsbetruges ermittelt. Dabei geht es um möglicherweise illegale Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern sowie Pharmazeuten. Die Ermittlungen gehen zurück auf eine Razzia, die im Dezember 2019 stattgefunden hat. Weder gibt es bislang eine Anklage noch ist das Verfahren eingestellt worden. Alanta hält die Vorwürfe für gegenstandslos.
Schauspieler und Gastro-Mitarbeiter im Impfzentrum
Im Impfzentrum selbst herrschte eine Atmosphäre, die geprägt war von den vielen jungen Leuten, die hier aushalfen. Es waren Schauspieler dabei, ehemalige Gastro-Mitarbeiter, in Eve Champagne mindestens eine Burlesque-Tänzerin (in Hamburg weltberühmt), dazu viele Geflüchtete, die in der Pandemie-Bekämpfung in ihrer neuen Heimat eine Gelegenheit sahen, tatkräftig mitanzupacken.
Das Impfzentrum als der zentrale Ort der Hamburger Kampagne hatte sich trotz anfangs fehlenden Impfstoffes und trotz Priorisierung und Ärger über Impf-Schummler so schnell, so charmant als „The place to be“ etabliert, dass selbst die niedergelassenen Ärzte mit Beginn ihres Impfens in den Praxen abgehängt wurden. Auch ihnen fehlten ausreichend Dosen von Biontech und Co. Sie mussten die Diskussionen über die Priorisierung ertragen, weil sie zunächst die Impfkandidaten persönlich einluden. Schließlich machte ihnen das Hin und Her über Astrazeneca zu schaffen.
Auch die Betriebsärzte nahmen später die Impfungen auf, Beiersdorf baute generalstabsmäßig ein eigenes Impfzentrum auf. Das kann man erwarten von dem Nivea-Multi. Doch auch für den Konzern, der aufgrund seines China-Geschäfts früh die Auswirkungen des Coronavirus mitbekam, war es die erste Pandemie, die er bewältigen musste.
Die Pannen: Menschenschlange rund um den Schanzenpark
Das Impfzentrum eilte von Rekord zu Rekord. Für 7000 Impfungen zunächst ge-dacht, wurden es dann schnell mal 8000, dann fiel die 10.000er Marke. Mehr als 11.000 waren es am 17. Mai. Diese Spitzenmarken hatten auch mit Pannen zu tun, die leider passierten. Mal klappten die Einladungen nicht, E-Mails gingen mit falschen Inhalten raus, mal gab es überproportionale viele, die ihre Termine eigenständig verlegen wollten. Es gab Tage, an denen sich die Menschenschlange um den Sternschanzenpark wand.
Überhaupt beklagten sich zu Anfang viele Impfwillige über unterschiedliche Aus-sagen von Verantwortlichen und überforderten Mitarbeitern der Hotline 116 117. Dort gab es zunächst kaum ein Durchkommen, weder am Telefon noch im Internet. Der Andrang war gewaltig.
Insgesamt wurden laut Bilanz der Sozialbehörde 399 aufbereitete Spritzen „verworfen“. Bei der Aufbereitung des Impfstoffes wurden Fehler gemacht oder eine Spritze fiel auf den Boden. Bei 329 Fläschchen, die von den Herstellern angeliefert wurden, hatten die Impfapotheker und Ärzte Be-denken, weil sie Partikel enthielten. Aus Sicherheitsgründen wurden sie nicht verwendet.
Was eine komplette Impfung kostete
Rund 600.000 Menschen wurden bei mehr als einer Million Impfungen in den Messehallen gegen Corona immunisiert. Die Kosten für das Impfzentrum inklusive Miete und Personal belaufen sich nach Senatsangaben auf 106 Millionen Euro. Den Impfstoff selbst bezahlt die Bundesregierung. Das hieße 176 Euro pro Impfkandidat. Bereits im April hatte das Abendblatt exklusiv berichtet, es gebe Prognosen über 200 Euro pro Immunisierung.
Es gab Astra-Tage, an denen nur Astrazeneca verimpft wurde, auch an Menschen, die damals noch gar nicht in der Priorisierung waren. Es gab erste zaghafte Versuche, eine lange Nacht des Impfens ohne Termin zu veranstalten, ehe die Terminpflicht dann endlich komplett gestrichen wur-de.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nutzte einen Besuch in den Messehallen, um für große Pläne zu trommeln. Spahn kündigte hier Ende April an, bei einer Biontech-Zulassung auch Schulkinder ab 12 impfen zu wollen – in den Sommerferien. Doch die Zulassung ließ auf sich warten, im Impfzentrum gab es keine Kinderärzte. Die Hamburger Schüler sollen nun mit mobilen Teams versorgt werden.
Walter Plassmann: Der "Bauherr" des Impfzentrums geht Ende 2021
Mitten in die Hoch-Zeit des Impfens platzte die Nachricht, dass der „Bauherr“ und Betreiber des Impfzentrums vorzeitig in Rente gehen will. KV-Chef Walter Plassmann hat um Auflösung seines Vertrages zum Jahresende gebeten. Eine Kommission wird jetzt einen Nachfolger finden müssen – oder eine Nachfolgerin.
Und was macht Mr. Impfzentrum, wenn er das letzte Mal den weißen Reißverschluss-Sweater auszieht? Dr. Dirk Heinrich impft einfach weiter. In seinen Praxen in Horn und Rahlstedt und immer dort, wo er gebraucht wird. Denn die dritte Impfung steht an, die Auffrischung für die, die gleich Anfang des Jahres ihren Piks bekamen. Karin Sievers aus Poppenbüttel wird dabei sein.
Impfzentrum: 6000 Menschen am letzten Tag geimpft
Am Finaltag wurden rund 6000 Menschen geimpft, 500 von ihnen bekamen die erste Spritze. Diese Erstimpfungen wurden zumeist mit Johnson & Johnson gemacht, dem Einmal-Vakzin. Wie Dr. Dirk Heinrich dem Abendblatt sagte, seien in den letzten Tagen viele der Erstimpfkandidaten Menschen gewesen, deren Arbeitgeber 2G einführen wollten oder die jetzt verstanden hätten, dass das Testen künftig kostenpflichtig wird.
Heinrich sagte, nun mache es auch keinen Sinn mehr, das Impfzentrum offen zu halten. „Wir haben die Entwicklung vom Impfstoffmangel zum Impflingmangel erlebt.“ Es sei jetzt geboten, mit mobilen Teams zu denen zu gehen, die zögern, „man muss sie abholen, wo sie sind“. Das sei in den Praxen, den Stadtteilen, vor allem dort, wo überwiegend Deutsch nicht die Muttersprache sei.
Im Impfzentrum liefen die Mitarbeiter mit Karnevalshüten oder kleinen Krönchen auf dem Kopf umher. An einem Cluster hingen etliche Luftballons.
Letztes Geheimnis des Impfzentrums gelüftet
Wenn er auf die acht Monate zurückschaue, arbeite das Impfzentrum zur Schließung anders als am Anfang. „Wir haben unsere Prozesse permanent angepasst. Die Spritzen wurden immer mit dem Vier-Augen-Prinzip aufgezogen. So etwas wie in Friesland wäre bei uns wohl nicht möglich gewesen.“ Dort hatte eine Mitarbeiterin Kochsalzlösung statt Biontech in die Spritzen gebracht.
Dramatische Momente hatte es aber auch in den Messehallen gegeben, genauer gesagt: davor. Vor ihren Impfterminen haben mehrere Menschen zum Teil lebensbedrohliche Schwächeanfälle erlitten. Heinrich sagte: „Wir hatten sechs Reanimationen, fünf waren erfolgreich.“
Als die Türen schlossen und der letzte Impfstoff in Sicherheit war, durfte Abendblatt-Fotograf Marcelo Hernandez das „verbotene Foto“machen: von oben in die Messehalle und die Impfcluster hinein. Das letzte Geheimnis des Impfzentrums war gelüftet.