Hamburg. Der Chef der Kassenärzte gibt Einblicke in den komplizierten Aufbau des Hamburger Impfzentrums und erklärt das Erfolgsrezept.

Es begann mit einem Flop. In rekordverdächtiger Zeit hatte die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) auf Bitten der Sozialbehörde ein Testzen­trum zwischen Hauptbahnhof und ZOB errichtet. Doch als es am 3. September 2020 eröffnet wurde, war es bereits überholt: Denn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte die allgemeine Testpflicht wenige Tage zuvor aufgehoben. Das Testzentrum blieb einige Monate im Betrieb, doch die Auslastung war lächerlich – am „Rekordtag“ waren gerade einmal zehn Prozent der möglichen 2000 Test durchgeführt worden.

So etwas sollte nicht noch einmal vorkommen. Deshalb schlug die KVH ein „Corona-Zentrum“ an der Messe vor. Die Behörde war angetan, aber das Bundesgesundheitsministerium nicht. Von dort hieß es, Impflinge sollten nicht mit möglicherweise infektiösen Menschen zusammenkommen. Also wurde die Planung auf ein reines Impfzentrum umgestellt.

Impfzentrum in Hamburg: Teppich für die Atmosphäre

Die Blaupause hatte das Testzen­trum geliefert: Abläufe wie am Flughafen mit getrennten Laufwegen, vielen Check-in-Schaltern und kreuzungsfreien Wegen. Das Architektenbüro Schindel, das bereits das Testzentrum aufgebaut hatte, begann mit den Planungen für die Messe. Das Ziel: ein hocheffizienter Ablauf in gemütlicher Atmosphäre.

Den Impflingen sollte Scheu oder gar Angst genommen werden. Also wurde die Halle mit Teppichboden ausgelegt, und es kamen Fenster in die Kabinenwände. In einer denkwürdigen Sitzung am 18. November gab die Behörde grünes Licht. Und sie tat etwas, was sich als zentral für den Erfolg des Impfzentrums herausstellen sollte: Sie ließ lange Leine. „Das Zentrum muss am 15. Dezember startklar sein.“

Imfpzentrum passte in keine Bauverordnung

Das war die einzige Vorgabe, die Staatsrätin Melanie Schlotzhauer mitgebracht hatte. Es gab also lächerliche vier Wochen, um etwas auf die Beine zu stellen, das es noch nirgendwo gegeben hatte. Es passte in keine Bauverordnung. Eine Mischung aus Arztpraxis und Reihenimpfung in einer Messehalle war rechtlich nicht vorgesehen.

Die KV Hamburg hatte hierfür auch keine Mitarbeiter. Da fiel der Name Guido Tuschen. Tuschen ist Biochemiker, was beim Umgang mit dem völlig neuartigen mRNA-Impfstoff helfen würde, er hat die (ambulante) Praxisklinik in Mümmelmannsberg erfolgreich saniert und kennt Praxisabläufe ebenso wie das Personal-Recruiting. Doch von Tuschens Arbeitgeber, der „alanta health group“, kam eine Absage – er sei unabkömmlich.

„alanta“ wollte „pro bono“ arbeiten

Stattdessen bot Mitinhaber Thomas Boner seine Hilfe an. Das war reizvoll, denn „alanta“ kennt sich aus mit der Herstellung von Pharmazeutika und Produktionsabläufen im Medizinbetrieb. Und „alanta“ wollte „pro bono“ arbeiten, also ohne Honorar. Boner: „Wir haben wirtschaftlich gute Jahre hinter uns und wollen der Gesellschaft etwas zurückgeben.“

Und so rückte Boner an mit der Chefin seines Labors, der Apothekerin Pia Sundermann, dem leitenden Arzt Claus Christoph Steffens, dem IT-Experten Tim Albers und dem Personalchef Benjamin Laatzen. Doch wer kann viele Menschen durch ein komplexes System in möglichst kurzer Zeit schleusen und dabei gute Laune verbreiten? Veranstalter!

Rock ‘n‘ Roll gegen das Coronavirus

Fast alle angefragten Firmen winkten ab: zu groß, zu kompliziert. Bis auf einen: „Ramp 106“ hatte kurz zuvor „Online Marketing Rockstars“ gekauft, die schon die Festivals in Wacken und auf dem Nürburgring organisiert hatten. Als Callcenter kam die Dresdner Firma
„gevekom“ hinzu und als Personaldienstleister „doctari“. Aus rechtlichen Gründen musste die Sozialbehörde die Mitarbeiter am Check-in stellen sowie den Sicherheitsdienst.

Was folgte, war purer Rock ‘n‘ Roll. Entscheidungen fielen im Minutentakt, mehr als einmal mussten alle in sehr kaltes Wasser springen und sehr kreative Wege gehen. Nur der Impfstoff fehlte. Es sollte bis in den Januar dauern, bis die ersten Impflinge in der Messe begrüßt werden konnten. Natürlich lief nicht alles reibungslos, sodass in der Presse bald vom „Impfchaos“ die Rede war. Den größten Wirbel gab es um die Terminvergabe.

Senioren über 80 Jahren zuerst eingeladen

Als erste Gruppe waren die Senioren über 80 Jahre per Brief zur Impfung eingeladen worden. Allerdings war in dem Schreiben nicht klar genug darauf aufmerksam gemacht worden, dass das Verhältnis von Eingeladenen zu verfügbaren Impfterminen 1:1000 betrug. Das Callcenter war überlastet, weil die Gespräche deutlich länger dauerten als kalkuliert, und so schaukelten sich die Emotionen hoch. „So geht man nicht mit alten Leuten um“, schimpfte das „Abendblatt“. Stimmt, aber die Diskrepanz zwischen der Impfnachfrage und der lächerlich niedrigen Impfstoffmenge war durch keine Maßnahme zu überdecken.

Auf 7000 Besucher war das Impfzentrum ausgelegt, in der Spitze kamen mehr als 10.000. In den Tagen bis zur Schließung am 31. August werden nur noch Zweitimpfungen durchgeführt.
Auf 7000 Besucher war das Impfzentrum ausgelegt, in der Spitze kamen mehr als 10.000. In den Tagen bis zur Schließung am 31. August werden nur noch Zweitimpfungen durchgeführt. © Roland Magunia/Funke Foto Services | Unbekannt

Zwar wurde die Kapazität des Callcenters verdreifacht, die Funktionen der Buchungs-Software mehrfach erweitert, aber es sollte bis zum Einstieg der Vertragsärzte in die Impfkampagne im April dauern, bis der Druck auf das Impfzen­trum ein wenig nachließ. Im Impfzen­trum hatten die „Rockstars“ ganze Arbeit geleistet: „Care Teams“ umsorgten jeden Impfling, vom Ankommen bis zum Abschied. Andere kümmerten sich um Menschen mit Handicaps, versorgten Wartende mit Getränken und guter Laune.

Viele Dankschreiben über die hilfsbereiten Mitarbeiter

Walter Plassmann, Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, hatte vier Wochen, um das Impfzentrum aufzubauen.
Walter Plassmann, Vorstandschef der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg, hatte vier Wochen, um das Impfzentrum aufzubauen. © Roland Magunia/Funke Foto Services | Unbekannt

Es gab nur eine geringe Zahl an Beschwerden, aber eine Flut von begeisterten Dankschreiben über die tolle Atmosphäre und die hilfsbereiten Mitarbeiter. Die geringe Auslastung in den ersten Wochen nutzte Benjamin Laatzen, der von seinem Arbeitgeber „alanta“ freigestellt wurde und als operativer Leiter des Impfzentrums fungierte, um die Abläufe zu optimieren. Die Impf-Aufklärung wurde in den Check-in-Bereich gezogen, die freien Schalter mit Ärzten besetzt. Jeder Mitarbeiter fühlte sich für das Ganze verantwortlich, gleichgültig, ob er Papier in den Druckern auffüllte, Spritzen in die Impfboxen brachte oder sich um das Wohlergehen der Impflinge bemühte.

Um die 800 Menschen arbeiteten an Spitzentagen in einer Schicht. Die mussten versorgt werden. Für den Nachschub sorgte Jasper Ramm, Einkäufer bei OMR: Erfrischungsgetränke, Kaffee, Snacks, Obst und „Überraschungen“ wie Gebäck, Brezel oder Eis. „Sie haben hier das aktuell größte Getränkelager in Deutschland“, verriet ein Fahrer im ersten Lockdown, nachdem er Paletten mit Erfrischungsgetränken abgeladen hatte.

Panne im Hamburger Impfzentrum

Ramm sammelte bei Großhändlern Ware ein, die kurz vor dem Verfallsdatum stand und appellierte sehr erfolgreich an die Spendierlaune der Firmen. Das Erstaunliche: Die Spender dürfen aus rechtlichen Gründen nicht genannt werden. Abgehalten hat das niemanden.

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Ganz ohne Panne ging es aber doch nicht. Als die Ständige Impfkommission die Intervalle zwischen der ersten und der zweiten Impfung veränderte, wurden die Betroffenen über neue Termine informiert – und dabei wurde bei drei Tagen diese Frist falsch berechnet. Als dies ans Licht kam, wurden in einer Gewaltaktion möglichst alle mit Mail und Anruf umdisponiert.

Schlange bis in den Schanzenpark

Trotzdem würde es nur funktionieren, wenn mehr als 9000 Impfungen am Tag durchgeführt würden – also 35 Prozent mehr als die geplante Maximalkapazität. Und ausgerechnet an diesen Tagen wurde das Impfzentrum das erste Mal mit undisziplinierten Impflingen konfrontiert. Das „Brücken-Wochenende“ zu Christi Himmelfahrt hatten viele zu spontanen Ausflügen genutzt und ihren Impftermin eigenhändig „verschoben“.

Zu den geplanten kamen viele ungeplante Impfungen, es gab eine Schlange bis in den Schanzenpark und Wartezeiten von mehreren Stunden. Aber: Alle wurden geimpft. Die Statistik wies spät- abends 10.579 Impfungen aus – Rekord! Das Impfzentrum hat keinen Termin absagen müssen und keine Impfdosis verworfen.

KV hätte sich ein Fest in Hamburg gewünscht

Die KV hätte gerne ein großes Fest für die Mitarbeiter gegeben. Sehr namhafte Hamburger Künstler hatten von sich aus schon angeboten, Konzerte ohne Gagen zu geben. Doch auch die versammelten Juristen-Hirne von KVH und Sozialbehörde vermochten nicht die Hürden der Anti-Korruptionsregeln der Stadt zu überwinden. Ein „free concert“ war nicht machbar. Das war denn doch zu viel Rock ‘n‘ Roll.

Walter Plassmann ist Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung, die das Impfzentrum betreibt