Hamburg. Seit dem ersten Lockdown kann Eve Champagne nicht mehr auf Hamburgs Bühnen tanzen. Warum die Krise für sie auch eine Chance war.
Evelyn Szepa trägt unter der FFP2-Maske kaum Make-up. Ihr rotes Haar hat sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Mit ihrer Größe von 1,81 Metern und ihren Kniestrümpfen fällt sie unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Hamburger Impfzentrum zwar auf. Es ist jedoch vor allem ihre tiefe, raue Stimme, die sie verrät. Denn Hamburger dürften Evelyn eher unter ihrem Künstlernamen Eve Champagne kennen. Bis zum ersten Corona-Lockdown tanzte der „Burlesque-Star“ auf dem Kiez – war Host und künstlerische Leitung im The Bunny Burlesque St. Pauli und galt als erste biologische Frau in der Olivia-Jones-Familie.
Im Impfzentrum an den Messehallen dominiert nicht nur optisch „Evelyn“. „Ich mache hier nicht nur einen Job, ich möchte mich höchstpersönlich dafür einsetzen, dass diese Pandemie endet“, sagt die 36-Jährige. An fünf Tagen in der Woche arbeitet sie vor allem in der Warteraumaufsicht und im Care-Bereich. Sie holt ältere Personen mit Rollstuhl ab, und begleitet sie durch den Impfprozess. Dabei kann sie auch ihre Entertainer-Fähigkeiten einbringen.
Eve Champagne nimmt älteren Menschen beim Impfen die Angst
„Die älteren Herrschaften wissen zwar, dass sie Abstand halten müssen, aber die tippen einem dann trotzdem mal auf die Schulter. Da kriege ich sofort Gänsehaut, weil ich mich so freue über jeglichen Körperkontakt.“ Sie möchte den Impflingen auch die Angst vor der Spritze nehmen, fährt schon mal das ein oder andere Rennen durch die Halle, um die Stimmung zu lockern.
„Das sind Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges. Die haben Todesangst gehabt. Trotzdem sind das die unfassbar putzigsten, entspanntesten und nettesten Leute, die ich kenne. Ich bin ein großer Fan der Ü-80-Truppe!“ Die Impflinge selbst zählen altersmäßig zwar nicht zu ihrer Zielgruppe auf der Reeperbahn. Deren Begleitpersonen erkennen sie jedoch ab und zu.
Mit Drag Queen Veuve Noire im Livestream
Dann erzählt Szepa gerne von ihren Auftritten und Shows. „Mit ihnen steppen werde ich wohl nicht mehr. Aber ich lade sie ein, mal vorbeizuschauen, wenn ich wieder auf der Bühne stehen kann.“
In ihr Kostüm ist sie zuletzt Anfang Februar geschlüpft. Mit Drag Queen Veuve Noire war sie im Livestream „The Drag Attack“ auf der Streaming-Plattform Twitch zu sehen. „Das war total schön, mal wieder Eve Champagne zu sehen und nicht nur versteckt zu spüren. Das hat mir sehr viel Schwermut genommen“, so Szepa. In der Pandemie habe sie jedoch gemerkt, dass sich Eve und Evelyn sehr voneinander unterscheiden. Sie sagt, dass sie durch die Pandemie nachdenklicher geworden ist. Wirklich ruhig wurde es bei ihr in den vergangenen Monaten jedoch nicht.
Durch Corona die „große Liebe“ getroffen
Während des ersten Lockdowns hat sie Spargel gestochen, sammelte anschließend im Elbschlosskeller Lebensmittelspenden und fuhr zuletzt Corona-Tests vom Berliner Flughafen ins Hamburger UKE. Seit Mitte Februar arbeitet sie nun im Impfzentrum.
„Ich bin ein aufgewecktes altes Mädchen, und mich muss man in Bewegung halten“, so Szepa. Durch die Corona-Krise habe sie neue Menschen, neue Jobs und neue Sichtweisen kennengelernt und ihre „große Liebe“ getroffen. „So schräg es klingt. Es ist die schlimmste und schönste Zeit für mich. Ich habe die Pandemie meines Lebens. Ich bin vom Glück gesegnet“, sagt Szepa.
Mit den Kolleginnen trifft sie sich regelmäßig virtuell
Auch mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Impfzentrum, die vor allem aus der Veranstaltungsbranche und der Gastronomie kommen, verstehe sie sich gut. „Wir, die als nicht systemrelevant gelten, haben es geschafft, in so kurzer Zeit, eine Struktur aufzubauen. So viele Tausende Menschen zu impfen wäre ohne uns fast nicht möglich“, sagt sie. Dennoch vermisst Szepa die Bühne, den Applaus und den Kontakt zu Menschen. „Ich darf nicht auf die Bühne, ich darf keine Leute bewirten. Ich habe einen Beruf und eine Berufung, die ich nicht ausleben darf, dadurch entsteht eine innere Unruhe“, sagt sie.
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Mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem Bunny Burlesque und aus der Olivia Jones Familie trifft sie sich regelmäßig virtuell – dann trinken sie Prosecco und zeigen sich ihre Kostüme, erzählt Szepa. Einige hielten es psychisch kaum aus, nicht aufzutreten. Für sie habe die Bühne eine therapeutische Wirkung. „Ich kann zum Beispiel mein ADHS dort ausleben. Viele haben als Teenager ihre Körper gehasst, erst auf der Bühne lernen sie ihn lieben und schätzen“, sagt sie, das würden viele nicht verstehen.
Pläne der Burlesque-Queen: „Entertainen und die Welt retten!"
Auch Evelyn Szepa kam zum Burlesque, weil sie sich als Teenager „unglaublich hässlich“ fand. „Ich war Mobbingopfer Nummer eins. In die Pubertät kam ich ziemlich spät.“ Heute zeige sie ihren Körper sehr gerne, weil sie wisse, wie es ist, dafür gemobbt zu werden. Burlesque hieße nicht, sich einfach nur auszuziehen, sondern Geschichten zu erzählen. 2005 wurde Eve Champagne erste Burlesque-Solo-Tänzerin, und baute die „Queen Calavera“, Deutschlands erste Burlesque-Bar auf St. Pauli mit auf. Vor etwa zehn Jahren suchte Olivia Jones dann ein Gesicht für ihren neuen Laden und kam auf Evelyn zu. „Sie hatte mich im TV und im Stadtteil gesehen und gedacht, ich bin ’ne coole Socke, ’ne Rampensau, wie sie sie brauchte“, sagt Szepa.
Aufhören möchte die Burlesque-Queen von St. Pauli, die auch als Kult-Kieztour-Guide unterwegs ist, noch lange nicht. „Und wenn ich irgendwann im Rollstuhl sitze und nur noch die Decke auf meinem Schoß wechsle oder ein kleines Cabaret betreibe“, sagt sie. Bis Ende Mai möchte sie sich noch um die Impflinge in den Messehallen kümmern. Parallel arbeite sie an einer Revue-Show. Wenn sie noch im Frühjahr wieder auf der Bühne stehen kann, möchte sie beides machen: „Entertainen und die Welt retten! Da habe ich Bock drauf! “