Hamburg. Deutschlands Bevölkerung wird immer älter: Über Möglichkeiten und Herausforderungen von Zuwanderung – und eine verpasste Chance.

Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe“, soll der britische Premier und Literaturnobelpreisträger Winston Churchill einmal gesagt haben. Mit Statistiken lässt sich nicht nur wunderbar Politik machen, man kann mit ihnen auch Bestseller landen. So löste die deutsche Geburtenexplosion – ja, so etwas gab es einmal – in Großbritannien zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast eine Hysterie aus.

Der gebürtige Ungar Emil Reich veröffentlichte 1907 das Buch „Germany’s Swelled Head“ und warnte vor einem Deutschland, das angesichts seiner schieren Größe und seines Größenwahns zur Gefahr für den Frieden werden würde. So war das Land von 25 Millionen Einwohnern im Jahr 1800 auf 40 Millionen zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1870 gewachsen.

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs lebten zwischen Maas und Memel 67 Millionen Menschen. Der Bestsellerautor Reich extrapolierte und kam für das Jahr 1964 auf eine Bevölkerungszahl von 104 Mio. Deutschen. Im Jahr 1980 sollten es dann 150 Millionen und im Jahr 2000 gar 200 Millionen sein. Wie man sich irren kann.

Demografie: Kann Einwanderung wirklich die Lösung sein?

Im Jahr 2000 lebten rund 82 Millionen Menschen zwischen Ems und Oder. Und die Fachleute des Statistischen Bundesamtes kamen damals im Rahmen der 9. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung zu anderen Zahlen. Bis zum Jahr 2050 sollte die Bevölkerung, abhängig von zwei Zuwanderungsszenarien, auf 65 bis 70,4 Millionen sinken; „ohne Zuwanderungsüberschüsse der ausländischen Bevölkerung ginge die Bevölkerung auf 59 Millionen zurück“, so die Statistiker.

Für 2023 berechneten die Experten vor einem knappen Vierteljahrhundert zwischen knapp 78 und knapp 80 Millionen Einwohner. Genau in diesem Jahr kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Bürgerdialog in Potsdam an: „Das Statistische Bundesamt hat eine Rechnung vorgelegt, die ganz plausibel ist, dass es weiter gegen 90 Millionen wächst.“ Derzeit sind es 84,3 Millionen Einwohner.

Was ist da passiert? Ein Geburtenboom hat die Republik nicht erfasst, auch wenn die Zahl der Kinder pro Frau zuletzt gestiegen ist. Nach der Wiedervereinigung fiel die sogenannte Fertilitätsrate 1994 auf 1,24, bevor sie danach langsam bis auf derzeit rund 1,6 gestiegen ist. Deutschland verharrt also weiter unter dem nötigen Reproduktionsniveau, das bei rund 2,1 liegt.

Angela Merkel änderte 2015 den bisher von der Politik angestrebten Kurs

Das Land schrumpft aber nicht, weil es seit Jahrzehnten Ziel für Arbeitsmigranten und Flüchtlinge, Aussiedler und Übersiedler ist. War es zunächst die Einwanderung von Deutschen aus dem Ostblock, kamen ab 1955 sogenannte „Gastarbeiter“ hinzu, zunächst aus Italien, dann aus Spanien, Griechenland, der Türkei und anderen Staaten. Bis 1973 wanderten 14 Millionen Ausländer in die Bundesrepu­blik ein, elf Millionen kehrten zugleich in ihre Heimat zurück.

Mit dem Ölpreisschock 1973 stoppte die sozialliberale Bundesregierung die Anwerbung. Dies führte dazu, dass die Gastarbeiter in Deutschland blieben und ihre Familien nachholten. Weil die Bundesrepublik sich nie als Einwanderungsland verstand und auch keines sein wollte, unterblieben nötige Integrationsmaßnahmen. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, stellte schon 1965 der Schweizer Schriftsteller Max Frisch fest.

Anders als viele Nachbarstaaten hielt die Politik bis zur Jahrtausendwende an diesem Kurs fest. Als die Süssmuth-Kommission im Auftrag der rot-grünen Bundesregierung 2001 ein zeitgemäßes Zuwanderungskonzept vorlegte, stellte sich die Union – übrigens unter der damaligen Vorsitzenden Angela Merkel – quer: Sie lehnte Zuwanderung aus demografischen Gründen ab. Als Kanzlerin war sie es dann, die 14 Jahre später den entgegengesetztes Kurs fuhr und mit dem Offenhalten der Grenzen Deutschland veränderte.

Deutschlands Wachstum erklärt sich nur durch Einwanderung

Heute leben 924.000 Syrer im Land – vor zehn Jahren waren es 29.000; zugleich stieg die Zahl der Afghanen von 50.000 auf 377.000 – unter Hamburgern ist der Geburtsort Kabul unter den Top 3 – noch vor Hannover, Bremen oder Kiel.

Im vergangenen Jahrzehnt hat die Bundesrepublik eine in großen Teilen chaotische, unregulierte Zuwanderung über das Asylrecht erlebt – die so notwendige und weniger umstrittene Fachkräftezuwanderung hingegen blieb hinter den Erwartungen zurück. „Die, die wir bekommen, wollen wir nicht. Und die, die wir möchten, kriegen wir nicht“, umschrieb ein Politiker einmal das Problem.

Zugleich ist der Streitpunkt Migration ein Sprengsatz für die Gesellschaft. Die Etablierung der populistischen AfD wäre ohne die Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre kaum möglich gewesen. Einmal mehr bestimmen radikale Positionen den Diskurs – zwischen der moralisch aufgeladenen „Kein-Mensch-ist-illegal“-Bewegung auf der einen und der störrischen „Deutschland-ist-kein-Einwanderungsland“ auf der anderen Seite bleibt wenig Platz für eine Politik von Maß und Mitte.

Auch ein offenes Einwanderungsland braucht strenge Regeln für Zuwanderung

„Die Migrationsfrage ist angesichts der demografischen Entwicklung eine zen­trale Frage“, sagt der Ökonom Thomas Straubhaar, der sich seit Langem sowohl mit Fragen der Zuwanderung als auch der Alterung der Gesellschaft befasst: „Man sollte sich einerseits klar dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein, das offen ist. Aber genauso glasklar sollte man bleiben und die Zuwanderung strengen Regeln unterwerfen. An festen Quoten für Arbeitsmigration führt kein Weg vorbei. Und bei humanitärer Migration – also Flucht und Asyl – bedarf es gemeinsamer europäischer Regeln, um für alle Beteiligten sowohl moralisch-ethische wie auch sozioökonomisch akzeptable Lösungen zu finden.“

Doch die Diskussion ist so zugespitzt und moralisch aufgeladen, dass nüchterne Lösungen kaum möglich sind: Da werden Asylfragen mit Fachkräftezuwanderung vermengt, Maximalpositionen formuliert und Kompromisse mit den europäischen Partnern von vornherein für unmöglich erklärt.

Da waren wir vor einem knappen Vierteljahrhundert schon einmal weiter: „In Deutschland werden seit etwa 30 Jahren weniger Kinder geboren. Ohne weitere Zuwanderung und bei gleichbleibender Kinderzahl pro Frau wird die Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2050 voraussichtlich von derzeit 82 Millionen auf weniger als 60 Millionen sinken. In diesem Fall würde die Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland von heute 41 auf 26 Millionen zurückgehen“, hielt die Kommission rund um die Politikerin Rita Süssmuth (CDU) fest.

Aktivere Familienpolitik gegen den Rückgang der Bevölkerung

Deshalb müsse Deutschland die Realität als Einwanderungsland benennen und gestalten: „Die demografische Alterung und der Rückgang der Bevölkerung lassen sich durch Zuwanderung in wirtschaftlich und sozial verträglichem Ausmaß nicht abwenden; sie können aber durch eine aktivere Familienpolitik und Zuwanderung abgeschwächt werden. Eine gesteuerte Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften sollte das Arbeitskräfteangebot und die Erwerbstätigkeit insgesamt erhöhen und damit auch einen Beitrag zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme leisten.“

Ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild sollte junge und gut ausgebildete Einwanderer „von Anfang an zum festen Bestandteil der dauerhaften Wohnbevölkerung“ machen und ihnen die „Perspektive der Einbürgerung eröffnen.“ Der Anwerbestopp von 1973 wäre aufgehoben und zunächst 50.000 junge Arbeitskräfte angeworben worden.

Deutschland braucht 400.000 Zuwanderer pro Jahr

In dem Papier heißt es auch: „Gegenwärtig kommt eine Zuwanderung niedrig qualifizierter Arbeitskräfte außerhalb saisonaler Beschäftigung nicht in Betracht.“ Vieles klingt so bekannt wie notwendig, wurde aber bis heute kaum umgesetzt: Schnellere Asylverfahren, eine bessere Rückführung und eine europäische Harmonisierung wurden eingefordert.

Die Süssmuth-Kommission hatte die gesamte Breite der Gesellschaft abgebildet, von Ralf Fücks (Grüne) bis hin zum früheren BDI-Chef Hans-Olaf Henkel, der sich später kurz in die AfD verirrte, vom Rechtsexperten Kay Hailbronner bis zu Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Damals, 2001, hätte Deutschland in Migrationsfragen erwachsen werden können – es ist es bis heute nicht.

22 Jahre später ist das Problem eher größer denn kleiner. Detlef Scheele brachte es als Vorstandschef der Bundesagentur für Arbeit 2021 auf den Punkt: „Die Demografie ist kritischer als die Transformation. Ich verstehe nicht, warum darüber niemand redet“, sagte er in einem Interview mit der „SZ“ vor eineinhalb Jahren. „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangenen Jahren.“ Man könne sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. „Aber das funktioniert nicht.“

Die Ausbildung vieler Geflüchteter ist für den deutschen Arbeitsmarkt unpassend

Genau so wenig funktioniert die Hoffnung, die Flüchtlingszuwanderung werde das Problem der Fachkräfte lösen. Denn das Asylrecht sieht temporären Schutz vor Verfolgung vor und ist nicht in den Lage, die Nachwuchsprobleme einer hochindustrialisierten Volkswirtschaft zu lösen.

Zudem stammen die meisten Flüchtlinge aus Staaten, in denen die Ausbildung kaum für den deutschen Arbeitsmarkt erfolgen konnte. Nur jeder zweite Geflüchtete verfügt über berufliche Kompetenzen. Natürlich gibt es Ausnahmen wie den syrischen Mediziner oder den irakischen Ingenieur; auch sind Migranten längst das Rückgrat etwa in den Ausbildungsjahrgängen der Baugewerke.

Das 2015 verheißene Wirtschaftswunder: ein leeres Versprechen

Und doch sind die Zahlen der beruflichen Integration von Flüchtlingen trotz massiver Anstrengungen ausbaufähig. Die Beschäftigungsquote der Afghanen etwa lag im Juli bei 41 Prozent, die der Syrer bei 38,6 Prozent, die der Iraker bei 36,6 Prozent.

Bei Türken hingegen beträgt der Anteil 54,8 Prozent, bei Vietnamesen 57,1 Prozent. Bei Einheimischen liegt die Ziffer bei rund 70 Prozent. Das 2015 verheißene Wirtschaftswunder entpuppt sich als ein leeres Versprechen.

Zudem behindert die Fokussierung auf oftmals illegale Migration die Öffnung für legale Migration. Während wir wie die Kesselflicker über Asylfragen streiten, spielt die legale Einreise von Fachkräften erst seit Kurzem eine wirkliche Rolle. Allerdings warnen Experten davor, in der Migration ein Allheilmittel zu sehen. Wie soll ein Land, das schon daran scheitert, pro Jahr 400.000 neue Wohnungen zu bauen, jährlich 400.000 Arbeitskräfte aufnehmen?

Migranten, die schon in Deutschland sind, sollten besser integriert werden

„Einen vermeintlichen Fachkräftemangel durch Zuwanderung beheben zu wollen, hat noch nie funktioniert. Wieso versucht man es nun dennoch wieder?“, fragt der Ökonom Thomas Straubhaar, der als Schweizer nach Deutschland kam.

„Zuwanderung ist so komplex, dass man nicht alles am Reißbrett der Politik steuern kann.“ Er hält es für geboten, die bereits im Land lebenden Migranten besser zu integrieren. „Das ist die klügste Zuwanderungspolitik. In Deutschland leben jetzt bereits Millionen von Menschen mit Mi­grationshintergrund, die systematisch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt bleiben. Da liegen ungenutzte Potenziale, die man korrigieren muss.“

Ohnehin ist die berufliche Integration von zentraler Bedeutung für die Eingliederung in die Gesellschaft. Natürlich ist Deutschland längt ein Einwanderungsland – es krankt aber noch daran, die Neubürger gut einzubeziehen.

Zuwanderer haben die Pflicht, die Sprache zu lernen und Gesetze zu achten

Zudem ist der Integrationsdruck für Migranten angesichts großer Gruppen von eingewanderten Landsleuten gesunken; längst kann sich ein Afghane oder Syrer auch in Parallelgesellschaften in Hamburg zurechtfinden. Je bunter aber eine Gesellschaft wird, desto wichtiger ist ein allgemeingültiges, von allen akzeptiertes Fundament aus Regeln und Werten.

Für eine funktionierende Integration sind Anstrengungen beider Seiten erforderlich, wusste schon das Süssmuth-Papier: „Während die Aufnahmegesellschaft Zuwanderern mit dauerhafter Aufenthaltsperspektive einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt und zum Bildungssystem ermöglichen muss, sind die Zuwanderer ihrerseits gefordert, Deutsch zu lernen. Zudem haben sie selbstverständlich – wie jeder andere Bürger – die Pflicht, die Verfassung und die Gesetze zu achten und zu befolgen.“

Aus diesem Grund gehört zu einer großzügigen Aufnahmepolitik auch eine konsequente Rückführungspolitik – bleibt sie aus, nützt das nicht nur politischen Rattenfängern, es schadet vor allem den vielen gut integrierten Zuwanderern. Wenn Deutschland attraktiv für die klügsten Köpfe der Welt sein will, gehört ein funktionierender Rechtsstaat dazu. Ein üppiger Wohlfahrtsstaat lockt manche in die Sozialsysteme, nicht aber Leistungsträger ins Land.

Berufliche Mobilität anstatt illegaler Migration

Auch das gehört zur Wahrheit: Als Hochsteuerland ist Deutschland weniger attraktiv, als wir glauben. Die Fachkräfte stehen nicht Schlange. Hinzu kommt: Die klassischen Herkunftsstaaten leiden längst ebenfalls unter Bevölkerungsrückgängen – ob Polen (1,4 Kinder pro Frau), Bulgarien (1,5), Italien (1,22) oder Spanien (1,27), alle Länder haben die gleichen demografischen Probleme.

Während Europa seit Jahren demografisch schrumpft, wächst Afrika noch immer rasant. Bis 2100 könnte sich die Bevölkerungszahl dort vervierfachen. Es ist klüger, frühzeitig mit afrikanischen Ländern nach gemeinsamen legalen Migrationswegen zu suchen, als sich auf Mauern und Stacheldraht zu verlassen.

Straubhaar bringt es auf den Punkt: „Es braucht offene Grenzen, um Impulse von außen zu erhalten, aber die haben wir innerhalb der EU bereits. Gegenüber außereuropäischen Staaten sollte man Quoten festschreiben und eher auf eine Vereinfachung beruflicher Mobilität und weniger auf permanente Migration mit Familiennachzug setzen.“

Zuwanderung ist nicht unbedingt ein Heilmittel gegen demografische Alterung

Er empfiehlt temporäre Arbeitserlaubnis oder Studienplätze für Migranten. „Wer aber ein bleibendes Aufenthaltsrecht bekommt, sollte sehr früh und umfänglich integriert werden.“ Möglichst rasch die deutsche Staatsangehörigkeit zu verleihen, wie es die Regierung plant, trage eher zum Integrationserfolg bei als ein in die Länge gezogener Schwebezustand.

Straubhaar rät, Fragen der Integration insgesamt lockerer anzugehen: „Zuwanderung sollte weder zum Guten noch zum Schlechten instrumentalisiert oder für Missstände verantwortlich gemacht werden“, sagt der Ökonom. „Aber Zuwanderung sollte eben auch nicht als Heilmittel gegen die demografische Alterung oder den Fachkräftemangel überbewertet werden.“ Aber das fällt den Deutschen schwer – fragen Sie mal Rita Süssmuth.