Binnen weniger Monate hat sich die Fachkräfte-Debatte komplett gedreht. Was passiert, wenn die Baby-Boomer in Rente gehen?
Es ist noch keine zehn Jahre her, da war das drohende Desaster noch nicht einmal als Problem erkannt. Wenn es um die Zukunft der Beschäftigung ging, ging es nicht um einen Mangel an Arbeitskräften, sondern um den Mangel an Arbeit. Angesichts des Vormarsches von Digitalisierung, Automatisierung und Künstlicher Intelligenz schien der Mensch in den Fabrikhallen und Büros von morgen entbehrlich – an seine Stellen sollten Roboter und Algorithmen treten.
2013 verbreiteten die beiden Wirtschaftswissenschaftler Carl Benedikt Frey und Michael Osborne aus Oxford Angst und Schrecken: 47 Prozent der Arbeitsplätze seien durch die Digitalisierung bedroht, warnten sie nach einer großen Analyse. Und vor vier Jahren prophezeite der Digitalverband Bitkom nach einer Umfrage, dass die Digitalisierung jede zehnte Stelle bis zum Jahr 2023 vernichten werde. Jedes vierte Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitern sehe sich durch die Digitalisierung gar in seiner Existenz bedroht. Woran man wieder sieht, wie recht Karl Valentin hatte, als er feststellte: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.“
Geht uns die Arbeit aus? Oder sind es die Arbeiter?
Das allerdings gilt nicht unbedingt für die Demografie. Da sich die Alterskohorten wie Wanderdünen bewegen, lässt sich schon heute das Arbeitsangebot von morgen ziemlich genau berechnen. Dafür genügt ein Blick in die Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Die Sache ist einfach: Wer heute mindestens 55 Jahre oder älter ist, wird spätestens 2035 draußen sein. „Das Problem ist da und wird von Woche zu Woche größer, weil starke Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden“, sagt Sönke Fock, der Chef der Hamburger Agentur für Arbeit, dem Abendblatt. Knapp über 210.000 der 1,038 Millionen Beschäftigten gehören dieser Altersgruppe an, jeder fünfte Hamburger blickt langsam seiner Rente entgegen.
Brisant: 184.380 führt die Statistik als Fach- und Führungskräfte, für die der Ersatz nicht eben an den Bäumen wächst. 78.147 davon werden als Mitglieder der Ü-60-Generation schon bis zum Jahr 2030 ausscheiden. Damit verabschieden sich Menschen mit Know-how und Fachwissen, die Verantwortung in Unternehmen, Verwaltungen, der Polizei oder dem Bildungswesen tragen. Immerhin: Hamburg, so sagt es Arbeitsagenturchef Sönke Fock, ist wegen seiner wachsenden Bevölkerung weniger hart vom demografischen Wandel betroffen. „Wenn, wie prognostiziert, die Stadt bis zum Jahr 2040 auf 2,035 Millionen Einwohner wächst, dürfte das die Folgen mildern.“
Anzahl der Erwerbstätigen könnte um 7,5 Millionen sinken
Trotzdem ist die Lage ernst: Im Jahr 2030 dürfte mehr als ein Drittel in Deutschlands der Altersgruppe 60+ angehören. Die Anzahl der Erwerbsfähigen im Alter bis 65 Jahre wird demnach von heute knapp 50 Millionen um ca. 7,5 Millionen Menschen sinken. Inzwischen berichten 73 Prozent der Betriebe über Engpässe bei Fachkräften, wie jüngst der Fachkräftemigrationsmonitor 2022 der Bertelsmann Stiftung meldete.
Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr waren es 60 Prozent, 2020 sogar nur 55 Prozent. „Die niedrigen Geburtenraten der Vergangenheit holen uns jetzt ein“, sagte Susanne Schultz, Expertin für Migrationspolitik bei der Bertelsmann Stiftung. „Mit dem Renteneintritt der Generation der Babyboomer wird das Problem nun noch größer. Ohne Zuwanderung kann Deutschland den Wohlstand nicht sichern.“
Im Jahr 2013 gründete sich das Hamburger Fachkräftenetzwerk. Wichtige Arbeitsmarktpartner aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung wussten damals schon um die Herausforderungen, erarbeiteten Strategien, um den Fachkräftebedarf in Hamburg zukünftig zu sichern. Seltsam war nur, dass in den Personalabteilungen fast niemand das sich abzeichnende Desaster ernst nahm. „Vor über zehn Jahren gingen wir bei und mit Jungheinrich mit dem Thema Demografischer Wandel in die Öffentlichkeit“, sagt Knut Böhrnsen, Sprecher der Agentur für Arbeit Hamburg. Ein Unternehmen, das die Zeichen der Zeit früh erkannt hatte, war damals die Ausnahme. „Der Arbeitsmarkt tourte hoch, mögliche Folgen waren noch nicht sicht- beziehungsweise spürbar, und freie Jobs konnten zeitnah besetzt werden“, so Böhrnsen.
Die Stadt als Insel der Seligen? Schön wäre es
Das mag auch damit zu tun gehabt haben, dass die Zeiten mit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen nur wenige Jahre zurücklagen und lange Zeit Vorruhestand und Frühverrentungen als adäquates Mittel der Arbeitsmarktpolitik galten. Vielen schien der demografische Wandel als Fortsetzung dieser Politik mit anderen Mitteln.
Noch 2014 hieß es im Demografiebericht der Hansestadt: „Während bundesweit das Erwerbspersonenpotenzial – nach den bisherigen Projektionen – bis 2035 um 8,6 Mio. Personen gegenüber 2011 zurückgeht“, werde Hamburg 2030 nicht weniger Erwerbstätige haben. „Damit könnte die Entwicklung deutlich günstiger als im Bundesgebiet und in den meisten deutschen Großstädten verlaufen.“
Die Stadt als Insel der Seligen? Schön wäre es. Die kommenden Jahre werden auch in Hamburg eine echte Herausforderung. „1964 war der stärkste Jahrgang: 2029 werden diese Menschen 65 Jahre alt und beginnen auszuscheiden“, sagt Fock. „Und danach folgen viele weitere Jahre, in denen die Neurentnerjahrgänge größer sind als die Einsteigerjahrgänge.“ Erst um das Jahr 2040 dürfte sich dieses Missverhältnis wieder ausgleichen.
Hamburg hat sein Potenzial an Beschäftigen fast ausgeschöpft
Erschwerend kommt hinzu, dass das Erwerbspersonenpotenzial in der Hansestadt ebenfalls begrenzt scheint: Dieses umfasst alle Personen, die bei einer günstigen Arbeitsmarktsituation willens und in der Lage sind, eine Beschäftigung anzunehmen. „Da bewegen wir uns schon knapp unter der 80-Prozent-Marke und damit mehrere Prozentpunkte über den Flächenländern“, sagt Fock. Das ist einerseits eine gute Nachricht, weil sie zeigt, dass die Hansestadt in den vergangenen Jahren vieles richtig gemacht hat. Hamburg ist ein attraktiver Arbeitsort, das Lohnniveau ist hoch, Ganztagsschulen und ein umfangreiches Angebot an Kita-Plätzen erleichtern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Auf der anderen Seite ist durch den Erfolg von gestern das Potenzial für morgen beschränkt.„Aus eigener Kraft können wir das Erwerbspersonenpotenzial nicht mehr groß steigern“, sagt Fock. „Aber weil Hamburg gut aufgestellt ist, kann die Stadt wachsen – sie ist attraktiv zum Leben, zum Arbeiten und Investieren.“ Der Chef der Agentur für Arbeit Hamburg konstatiert zugleich, dass Wohnraum zum limitierenden Faktor des Wachstums werden könnte. Und noch ein Faktor belastet: Ein großer Teil der Steigerung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geht auf Teilzeit zurück: „Das muss man sich auch leisten können. In Hamburg ist Teilzeit eher möglich als im Osten“, sagt Fock.
Dieser Trend bremst inzwischen das Wachstum in der ganzen Republik: Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem sank seit der Wiedervereinigung von insgesamt 1554 auf 1340 Stunden, ein Rückgang um 14 Prozent. Lag der Anteil der Teilzeitjobber 1991 nur bei 14 Prozent, verdoppelte er sich seither auf 29 Prozent. Immerhin – hier liegt auch Potenzial für eine Arbeitszeitausweitung. „Natürlich muss sich Arbeit lohnen und Mehrarbeit sich auszahlen“, sagt Fock. Er betont, dass diese Frage nicht nur eine volkswirtschaftliche, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Dimension hat. „Wir müssen die größtmögliche Teilhabe aller ermöglichen.“
Arbeit wird zunehmend durch KI und Rechner ersetzt
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Besteuerung des Faktors Arbeit technische Innovation befördert – oftmals war der Einsatz von Maschinen günstiger als die Beschäftigung von Menschen. Dieser Prozess werde sich beschleunigen, sagt Fock – auch weil vielerorts Beschäftigte fehlen. Was der Chef der Arbeitsagentur meint, lässt sich in Dienstleistungsbranchen schon besichtigen: Essen bestellen die Gäste in Restaurants zunehmend nicht mehr beim Kellner, sondern auf einem iPad, im Supermarkt oder der Modekette zahlen die Kunden an Scannerkassen.
„Der Prozess ist in vollem Gange, Arbeit wird zunehmend durch KI und Rechner ersetzt“, sagt Fock. Dies betreffe in Zukunft nicht nur die Jobs der Niedrigqualifizierten, sondern auch von Hochqualifizierten. Ein Beispiel sei die Medizin. „Künstliche Intelligenz wird viele Diagnosen übernehmen“, sagt Fock. Dieser technische Fortschritt mache es schwierig, den Arbeitsmarktbedarf der Zukunft genau vorherzusagen. Zumal die Vergangenheit gezeigt hat, dass Prognosen nicht immer aufgehen: „Keiner hätte vor zehn Jahren erwartet, dass der Arbeitsmarkt auch viele Un- und Angelernte trotz überschaubarer Wachstumsraten aufnimmt.“
Fock ist sich sicher, dass der deutsche Arbeitsmarkt in Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sein wird. „Wir brauchen Jahr für Jahr 400.000 bis 500.000 zusätzliche Arbeitskräfte als Antwort auf die demografische Entwicklung. Wohlgemerkt netto.“ Weil die Rück- und Abwanderung derzeit beträchtlich sei, könne selbst eine Einwanderung von einer Million Menschen nicht ausreichen, wenn zugleich 700.000 wieder gingen. Die deutsche Wirtschaft stehe längst in Konkurrenz mit anderen Ländern, die ebenfalls mit Überalterung zu kämpfen haben. „Wir müssen die Abwanderung in den Blick nehmen. Wir müssen uns als Aufnahmeland stärker mit der Frage auseinandersetzen, wie es gelingen kann, die Belegschaft zu binden und den Menschen Perspektiven aufzuzeigen.“
Zuwanderung allein ist noch kein Konzept
Dabei sei die gesellschaftliche Aufnahmebereitschaft wichtig. Fock zieht denn auch eine positive Bilanz der Integration der Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland strömten. „Nach fünf Jahren lagen wir bei einer Arbeitsmarktintegration von 50 Prozent – für Hamburg hat sie bis zum Eintritt der Pandemie gut funktioniert, Corona hat uns leider zwei Jahre gekostet.“ Durch die Pandemie wurde nicht nur der Aufbau von Beschäftigung abrupt gestoppt, zugleich wurden gerade junge Menschen entlassen.
Ausdrücklich begrüßt Fock nun die Maßnahmen der Bundesregierung, ausländische Arbeitskräfte zu gewinnen. Eine erleichterte Einwanderung über ein Punktesystem, Aufenthaltstitel für ausländische Studenten und der Spurwechsel für hier lebende, oft nur geduldete Menschen gingen in die richtige Richtung. „Je früher wir mit Angeboten anfangen, desto schneller sind wir bei der Integration.“
Allerdings ist Zuwanderung allein noch kein Konzept: Ein beträchtlicher Anteil der Migranten – in den vergangenen Jahren mindestens stets ein Drittel – kam über das Asylsystem und wandert damit tendenziell zunächst einmal in die Sozialsysteme ein. Nach Zahlen des Hamburger Programms W.I.R. (Work and Integration for Refugees“) von 2019 verfügt jeder zweite Geflüchtete über berufliche Kompetenzen. Rund 20 Prozent besitzen formale, berufliche oder akademische Qualifikationen. Non-formale Qualifikationen bringen rund 30 Prozent der Flüchtlinge mit – das heißt aber auch, dass die andere Hälfte dem Arbeitsmarkt nicht schnell zur Verfügung steht. Immerhin: Rund zwei Drittel sind im erwerbsfähigen Alter zwischen 18 und 35 Jahren.
Viele Migranten bringen nur wenige Berufskenntnisse mit – gerade hier ist der Mangel besonders groß. Während 2020 noch 37 Prozent der Unternehmen über Engpässe klagten, sind es in diesem Jahr laut Bertelsmann-Studie schon 58 Prozent. Fachkräfte fehlen vor allem in der Kranken- und Altenpflege, im Bau und im Handwerk, in der Industrie und Logistik sowie im Tourismus.
Ab- und Auswanderung werden zum Problem
Zugleich macht die Abwanderung der Deutschen Sorgen – zwar geht ein beträchtlicher Teil nur vorübergehend ins Ausland, die meisten in die Schweiz, die USA, nach Österreich, Großbritannien oder in die Türkei. Und doch ist die Bilanz negativ: Nach Zahlen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sind im vergangenen Jahrzehnt knapp 1,8 Millionen deutsche Staatsangehörige ins Ausland umgezogen, aber nur rund 1,3 Millionen Menschen kamen zurück. Das ist ein jährlicher Wanderungsverlust von 50.000 Menschen.
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Und die große Mehrheit sind qualifizierte Fachkräfte, fast drei Viertel haben ein abgeschlossenes Studium. Zudem sind sie meist jung und unabhängig: Die Hälfte der zuletzt ausgewanderten Deutschen war 32 Jahre alt oder jünger. Sie gingen auch, weil sie außerhalb Deutschland attraktiver Jobs, ein besseres Leben und niedrigere Steuern fanden. Gerade Auswanderer aus IT-Berufen und den Naturwissenschaften kehren oft nicht zurück. „Eine Beschäftigung in dieser Branche senkt die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr deutlich“, heißt es in einer Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Auch hier wartet eine Baustelle auf die Republik.
Längst klagt auch die öffentliche Verwaltung über fehlende Fachkräfte: „Die Personalabgänge in den nächsten Jahren werden sehr hoch sein“, heißt es im Demografiebereich der Stadt Hamburg von 2019. In den nächsten acht Jahren würden demnach von den derzeit fast 70.500 Beschäftigten mehr als 17.550 Beschäftigte aus Altersgründen ausscheiden. „Die Verbesserung des Fachkräftemarketings und die damit einhergehende Personalrekrutierung und -bindung wurden als wichtige Themenfelder identifiziert, mit konkreten Maßnahmen in Angriff genommen und in den Personalberichten des Personalamtes ausführlich dargestellt.“ Im Klartext: Den Kampf um die knappen Köpfe werden Bund, Länder und Kommunen forcieren müssen.
Viele Fachkräfte wechseln nach einigen Jahren in andere Branchen
Arbeitsagenturchef Fock fordert so noch weitere Maßnahmen, um den Fachkräftemangel zu lindern. In Anbetracht der absehbaren Veränderungen bedürfe es anderer Arbeitszeitmodelle, die auch die biografischen Lebensumstände einbeziehen. So liege der Pflegenotstand vor allem darin begründet, dass viele Fachkräfte nach einigen Jahren in andere Branchen wechseln, etwa wegen Überlastung. „Wir benötigen mehr Flexibilität etwa beim Arbeitsumfang. Was spricht gegen die Lebensarbeitszeit? Was heute schon für Tage und Wochen an Flexibilität möglich ist, sollte doch auch über Jahre möglich sein.“
Auch das Know-how und den Einsatz der Älteren müsse das Land besser nutzen. „Ein starres Renteneintrittsalter wird niemandem gerecht. Und Hinzuverdienste neben der Rente sollten erleichtert werden.“ Fürchtet Fock eine sinkende Arbeitsmoral der jüngsten Generation? „Sicherlich haben sich Ältere stärker über ihre Arbeit definiert und daraus Anerkennung gezogen. Aber auch die Generation Z wird sich ökonomisch verhalten. Nur dürften bei ihnen auch andere Maßstäbe mitbestimmen.“