Für wachsende Städte wie Hamburg wird der Verkehr zum Problem. Umso wichtiger ist ein Öffentlicher Nahverkehr, der für alle nutzbar ist.

Wer die Zukunft erklären will, muss in die Vergangenheit schauen: Hätte man uns vor 20 Jahren erklärt, in Hamburg würden heute 500 Fahrzeuge elektrisch durch die Stadt summen und jeden mitnehmen, der mit seinem Mobiltelefon eine Reise bucht, niemand hätte es geglaubt – schließlich war noch nicht einmal das Smartphone erfunden. Hätte man uns dann noch erzählt, das Auto würde jeden mit Namen persönlich begrüßen und die Fahrzeit anzeigen – wir hätten es nicht für möglich gehalten. Was damals Zukunftsmusik war, fährt heute als Moia durch den Alltag der Stadt. Diese Mischung aus Taxi und Bus will Mobilität für alle ermöglichen – den Nahverkehr flexibilisieren, ihn attraktiv auch für Ältere machen und das Verkehrswachstum in den Stadt digital managen.

Hamburg liegt auf der Sonnenseite – die Probleme, die die Hansestadt hat, hätten andere gerne: Während man sich an der Elbe auf weiteres Bevölkerungswachstum vorbereitet und 2031 zwei Millionen Einwohner erwartet, haben sich ländliche Gebiete im Osten längst auf Schrumpfen eingestellt: Der Landkreis Elbe-Elster im südlichen Brandenburg hat seit der Wiedervereinigung 30 Prozent seiner Bevölkerung eingebüßt.

Geht es nach den Wissenschaftlern des Berlin-Instituts, muss sich der Kreis bis 2035 auf einen Bevölkerungsschwund von weiteren 25 Prozent einstellen – dann hätte die Gegend rund um Liebenwerda innerhalb von zwei Generationen fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren. Kaum besser sieht es im Kreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt aus: Die Stadt Eisleben hat seit den Sechzigerjahren die Hälfte der Einwohner eingebüßt. Und bis 2035 könnte noch ein weiteres Viertel schwinden.

In solchen Regionen sind die Probleme dramatisch, hier geht es um den Rückbau der Infrastruktur: Wo lohnt in schrumpfenden Landkreisen noch der öffentliche Nahverkehr, wo ergibt der Breitbandausbau überhaupt Sinn, welche Schulen und Krankenhäuser müssen geschlossen werden, wo funktionieren die Kanalisationen dauerhaft, welche Straßen können noch ausgebessert werden?

Diese Fragen beleuchten die finstere Seite des demografischen Wandels, hier wird ein Land nicht mehr auf-, sondern zurückgebaut. Oftmals verstärkt sich der Schwund noch selbst – wenn Läden, Kitas und Kinos schließen, der Bus nicht mehr fährt, ziehen viele junge Menschen fort, nur die Alten bleiben zurück. 2004 sprach der Beirat für Raumordnung vom „Implosionsrisiko“ ganzer Regionen. „Schrumpfende Gesellschaften reduzieren den Druck auf die natürlichen Ressourcen. Aber darüber werden wir nicht jubeln“, schreiben Darrell Bricker und Jay Ibbitson in ihrem Buch „Empty Planet“ – das wegweisende Werk wurde ins Französische und Italienische, aber nicht ins Deutsche übersetzt. Sie schreiben weiter: „Städte müssen neu geplant werden.“

Ostdeutschland hat in 75 Jahren mehr als ein Drittel seiner Bewohner verloren

In Ostdeutschland ist es längst so weit – die ehemalige DDR hatte 1949 noch 19,1 Millionen Einwohner, zur Zeit der Wiedervereinigung nur noch 16,4 Millionen und heute lediglich 12,5 Millionen Bewohner. „In Ostdeutschland sind in manchen Kreisen bereits mehr als ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt“, sagt Jan Strehmann, Leiter des Referats Mobilität, Wirtschaft und Regionalpolitik beim Deutscher Städte- und Gemeindebund.

Die Infrastruktur ist ausgedünnt. „Vielerorts fehlen ernstzunehmende Alternativen zum Auto“, sagt er. Ein Blick auf die Karten auf dieser Seite zeigt, wie schwer es mitunter ist, ein Mittelzentrum zu erreichen – in dünn besiedelten Regionen ist ein öffentlicher Personennahverkehr kaum aufrechtzuerhalten. „Da wird Digitalisierung eine Möglichkeit, Wege zu vermeiden – etwa mittels Digitalmedizin oder über digitale Bürgerämter.“

Wege vermeiden ist auch ein Credo der Metropolen geworden, die sich in so genannte 15-Minuten-Städte verwandeln wollen. Alles, was man zum Leben benötigt – ob Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung, Freizeitangebote oder Bildungsstätten – soll binnen einer Viertelstunde erreichbar sein. Auch für wachsende Städte wird der Verkehr zum Pro­blem: Der Platz ist begrenzt, Straßen- und Parkräume können kaum mitwachsen. Damit kommt dem öffentliche Nahverkehr in der Mobilität von morgen eine Schlüsselstellung zu.

Doreen Kerinnis kümmert sich beruflich um die Zukunft. Sie ist Bereichsleiterin des Hamburg-Taktes bei der Hochbahn und verantwortlich für Angebotsplanung, Weiterentwicklung und Produktentwicklung. Sie sieht zwei große Trends. „Wir bewegen uns in Richtung Silver Society. Einerseits werden wir älter, andererseits bleiben wir länger fit. Darin liegen enorme Herausforderungen für die Stadtgesellschaft.“

Sie warnt davor, die Menschen allein nach ihrem Alter einzuschätzen und Demografie nur in Zahlen zu denken: „Die Menschen haben unterschiedliche Biografien und Lebensstile, das Alter allein ist nicht entscheidend.“ Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) biete als Unternehmen der Daseinsvorsorge Mobilität für alle, unabhängig von der Lebensphase. „Dabei geht es eben nicht nur um den Berufsverkehr, sondern auch um Mobilität für Freizeit oder Einkaufen.“

Mobilität der 65- bis 75-Jährigen ist sehr autozentriert

Gerade die Älteren, die in den kommenden Jahren in den Ruhestand drängen, sind für den ÖPNV keine einfache Zielgruppe. Die Auswertung für Hamburg zeigt, „dass die heutige Generation ab 65 aufgrund ihrer bisherigen Verkehrssozialisation und einer höheren Führerscheinbesitzquote etwas häufiger den Pkw nutzt als früher“. Daher sei zukünftig in der Gruppe der Älteren noch mit einer vergleichsweisen hohen Bedeutung des Autos zu rechnen, heißt es im Demografiekonzept der Stadt. Die Hoffnung: Diese Verschiebung könnte in Hamburg dank vieler alternativer Angebote geringer ausfallen als im bundesweiten Vergleich. Und sie wächst sich über die Jahre aus.

Verkehrsverhaltensstudien belegen, dass die Mobilität der 65- bis 75-Jährigen sehr autozentriert ist – sie legen 40 Prozent ihrer Wege mit dem Fahrzeug zurück, gehen häufiger zu Fuß, nutzen aber seltener den ÖPNV. „Diese Generation sind die Kinder der automobilen Gesellschaft“, sagt Kerinnis. „Sie sind mit dem Auto als Art Wohlstandsversprechen groß geworden; manche steigen mit Renteneintritt sogar vom Nahverkehr aufs Auto um. Und Studien zeigen: Zu diesem Zeitpunkt kaufen viele Menschen zum letzten Mal einen Neuwagen.“

Tatsächlich werden beispielsweise in Amerika heute mehr Neuwagen an Über-70-Jährige verkauft als an Unter-30-Jährige. Und Werber verballhornen die geländegängigen SUV als Abkürzung für „Senioren und Versehrte“.

Mobilität verändert sich: Junioren und Senioren sind insgesamt weniger mobil als der Rest der Bevölkerung – wobei die Senioren sich in zwei Gruppen aufspalten, die aktiven Älteren und die passiven Älteren. Umfragen zufolge geht es Frauen noch 7,7 Jahre, Männern 7,5 Jahre nach ihrem 65. Geburtstag gut oder sogar sehr gut; „mittel“ fühlen sich Frauen gesundheitlich bis 82, Männer bis 80 Jahren. So lange sie fit und gesund sind, sind Senioren oft viel unterwegs. Erst im hohen Alter wird die Welt kleiner, der Pkw bleibt stehen, Reisen werden kürzer und dann ganz eingestellt. „Auch Fahrrad fahren Senioren im hohen Alter nicht mehr“, sagt Jan Strehmann vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Drei Viertel der Über-80-Jährigen steigen nicht mehr aufs Rad. Er verweist auf einen weiteren Trend, der für den Verkehr in Zukunft wichtig sein könnte. „Der Motorisierungsgrad bei Zuwanderern ist anfänglich geringer.“

Bislang steigen die Pkw-Zulassungszahlen weiter

Bislang aber steigen die Pkw-Zulassungszahlen kontinuierlich weiter. Im Jahr 2022 standen und fuhren auf Hamburgs Straßen 813.847 Fahrzeuge – ein Jahrzehnt zuvor waren es nur 731.283. Dieser Zuwachs um elf Prozent liegt noch oberhalb des Bevölkerungswachstums in der Hansestadt. „Viele haben sich ein neues Stehzeug gekauft“, sagt Doreen Kerinnis. „Diesen Menschen müssen wir ein Angebot machen.“

Erreichen will die Hochbahn sie mit dem Hamburg-Takt. Er verbindet zwei Ziele, die sich in Zahlen fassen lassen. Bis 2030 soll jeder Hamburger von morgens bis abends binnen fünf Minuten ein öffentliches Mobilitätsangebot erreichen können. Ein Fahrplan wäre damit überflüssig. Der charmante Nebeneffekt: Der Marktanteil des ÖPNV soll so von 22 Prozent im Jahr 2017 auf 30 Prozent steigen.

Nicht eben einfacher macht das Ziel, dass die Gesamtverkehrsleistung in Deutschland weiter steigt: Zwar ist die Zahl der Wege rückläufig, aber die zurückgelegte Wegstrecke wächst. Während das Fahrrad zwischen 2002 und 2017 bundesweit seinen Anteil von neun auf elf Prozent steigern konnte, legte der ÖPNV von neun auf elf Prozent zu – der Autoverkehr bleib mit 58 Prozent indes unverändert.

Und weil die Zahl der Mitfahrer um drei Prozentpunkte sank, stieg die Zahl der Autos noch. Dahinter steckt die Vereinzelung der Gesellschaft – wer allein lebt, hat selten Mitfahrer. Immerhin: Hamburg verbesserte den Fahrradanteil binnen 15 Jahren von neun auf 15 Prozent, auch der ÖPNV legte zu. Dabei sind die Zahlen in der Stadt sehr unterschiedlich: In den Vier- und Marschlanden und den Walddörfern liegt das Auto konstant bei über 50 Prozent, in der Kernstadt hingegen greifen die Hamburger nur bei einem Viertel der Wege zum Pkw.

In Zukunft dürfte in Hamburg die Zahl der zurückgelegten Kilometer zunehmen

In Zukunft dürfte in Hamburg die Zahl der zurückgelegten Kilometer zunehmen. Experten rechnen mit einem Plus von zwölf Prozent, auch wegen des Tourismus. Dieses Wachstum wird der sogenannte „Umweltverbund“ stemmen müssen – also Fußgänger, Fahrradfahrer und der ÖPNV. Digitalisierte Züge und der 100-Sekunden-Takt bei U 2 und U 4 sollen mehr Menschen ans Ziel bringen. In alle Planungen spielt die Demografie hinein: Das Angebot hängt von der Einwohnerzahl, ihrer Verteilung und der Alterspyramide ab. Schon eine Verschiebung des Renteneintrittsalters hat Konsequenzen auf die Belegung der Bahnen zur Hauptverkehrszeit. Und wenn in den kommenden Jahren deutschlandweit rund 500.000 Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden als neu hinzukommen, dürfte sich das in den Stoßzeiten bemerkbar machen. Manches deutet daraufhin, dass dank Homeoffice und flexiblerer Arbeitszeiten sich die Verkehre gleichmäßiger über den Tag verlagern.

„Der Hamburg-Takt richtet sich nicht nur nach Angebot und Nachfrage, sondern auch auf die Bedürfnisse der Menschen aus: Warum fahren die Menschen Auto?“, fragt Kerinnis. Gerade die Nebenverkehrszeiten, also die Stunden außerhalb des Berufsverkehr, seien klassische Autozeiten. Der Arztbesuch, der Einkaufsbummel, die VHS-Stunde – Mobilität ist eine soziale Grundvoraussetzung.

„Menschen sind bereit, eine gewisse Zeit täglich für Mobilität zu reservieren, im Schnitt 90 Minuten. Während sie ihre Parkplatzsuche aber nicht mit einkalkulieren, zählen sie die Wartezeiten auf den Bus immer mit“, sagt die Expertin Kerinnis. Die Konsequenz daraus: Die Hochbahn muss Wartezeiten reduzieren. „Das alte Bild vom Rentner als Mensch mit Krückstock, der Zeit hat, ist längst passé“, sagt sie.

Die Hochbahn will nicht nur schneller werden, sondern auch ein engeres Netz knüpfen, um die Menschen zum Umstieg zu motivieren: „Autonomes Fahren erschließt mittelfristig Gegenden in der Stadt, die bisher kaum oder gar nicht bedient werden können.“ Zugleich geht es um Qualität: „Uns schwebt nicht der Wechsel vom eigenen Auto in einen Doppelgelenkbus vor, sondern ein komfortables Angebot, in dem man ungestört lesen kann.“ Moia ist eines der Beispiele, wie Mobilität morgen aussehen kann.

Bundesweit hingegen weisen manche Zahlen in eine andere Richtung: Laut der Modal-Split-Analyse „Mobilität in Deutschland“ hat sich der Anteil der Wege der Über-80-Jährigen zwischen 2002 und 2017 im eigenen Wagen von 17 auf 32 Prozent fast verdoppelt, auch die 70- bis 79-Jährigen nutzten für 40 Prozent der eigenen Wege das Auto – Anfang des Jahrtausends waren es nur 31 Prozent. Während die Jüngeren bis 39 Jahre immer weniger fahren, nutzen die Älteren ab 50 Jahre das Auto intensiver. Doch auch das Fahrrad wurde für Senioren wichtiger: Gerade für die Silver Generation könnte es eine Renaissance erleben – denn Pedelecs erleichtern das Radfahren über längere Distanzen und in hügeligen Gebieten. Die Hälfte aller Pedelec-Wege geht auf das Konto von Über-60-Jährigen, 29 Prozent werden von Menschen ab 70 Jahren zurückgelegt.

Schon bald wird nur eine einzige Haltestelle nicht barrierefrei sein

Viel wird davon abhängen, die Baby-Boomer vom öffentlichen Nahverkehr zu überzeugen. In den vergangenen Jahren hat die Hochbahn ihr Angebot seniorenfreundlich gemacht: Inzwischen sind 89 von 93 U-Bahn-Stationen barrierefrei oder im Umbau. „In jeden Supermarkt kommt man barrierefrei, warum nicht auch in den ÖPNV?“, fragt Hochbahn-Sprecher Christoph Kreienbaum. Was ursprünglich erst in den 2040er-Jahren erreicht werden sollte, kann mit dem Umbau der Stationen Saarlandstraße und Sierichstraße noch in diesem Jahrzehnt Wirklichkeit werden. An der Sternschanze laufen die Planungen für den Neubau, Zieldatum noch offen. Danach wird nur eine einzige Haltestelle nicht mit dem Rollator erreichbar sein – die kaum frequentierte Kiekut auf der U 1.

In einer Gesellschaft, die älter wird, geht es um einfachere Führung der Reisenden über taktile Hilfen, um Unterstützung für Hörgeschädigte und Blinde, aber auch um seniorengerechte Handy-Apps. Und um Kundenfreundlichkeit: „Auf absehbare Zeit bieten wir Zugang zu Fahrkartenkauf und Automaten“, verspricht Kreienbaum.

Immerhin lichtet eine Idee den Tarifdschungel. „Das 49-Euro-Ticket wird uns helfen. Es erleichtert die Nutzung des ÖPNV und lädt zum Umstieg auf den ÖPNV ein. Und es macht unser Angebot günstiger – dann kostet ein Monat Mobilität weniger als ein Reifenwechsel“, sagt Kerinnis. Sie sieht langfristig die Zeit auf ihrer Seite. Zukünftige Generationen seien leichter für den ÖPNV zu gewinnen: „Junge Menschen machen zwar oft noch einen Führerschein, aber kaufen nicht gleich ein Auto. Diese Generation wird weniger Auto fahren.“ Und viele aufgeregte Debatten der Gegenwart werden sich damit irgendwann von selbst erledigen.