Hamburg. Jeder dritte Niedergelassene über 60 Jahre alt. Das bedeutet auch, dass Patienten sich beim Thema Hausarzt umgewöhnen müssen.

Wovon träumen junge Ärztinnen und Ärzte? Rechtsmediziner werden wie die echten Professoren Klaus Püschel und Michael Tsokos oder der erfundene Prof. Boerne aus dem Münster-Tatort? Oder Spezialisten wie die, die sich mit den medizinischen Fragen rund um Magen, Niere oder Gefäße beschäftigen? Schaut man in die letzte verfügbare Statistik der Ärztekammer Hamburg, sieht man einen überdurchschnittlichen Anstieg in genau diesen Einzeldisziplinen.

Überhaupt neigen Ärztinnen und Ärzte an Alster, Bille und Elbe zu einem Spezialistentum, das beeindruckend ist. Allerdings will der Nachwuchs in der Medizin-Metropole Hamburg immer seltener das Stethoskop auflegen, die neuen Tabletten für Oma (Diabetes) und Opa (Bluthochdruck) verschreiben, vielleicht auch zu ihnen ins Heim fahren oder sich über renitente Babys beugen und ein Püschern provozieren, um eine Urinprobe zu nehmen.

Ärzte in Hamburg: ein Demografie-Drama

Hamburg wächst – mit vielen Wunschkindern. Und Hamburg altert – mit einem zunehmenden Anteil an Menschen, die engmaschige medizinische Versorgung nachfragen. Was dagegen schrumpft, ist die Zahl der Haus- und Kinderärzte oder zumindest die Zeit, die sie für Patientinnen und Patienten zur Verfügung haben. Es ist ein stilles Demografie-Drama, das sich da abspielt.

Ärztekammerpräsident Dr. Pedram Emami sieht deshalb „existenzielle Herausforderungen“ in der Gesundheit auf uns zukommen. Daten der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), die dem Abendblatt vorliegen, zeigen, dass jede und jeder dritte Niedergelassene 60 Jahre oder älter ist. Knapp sieben Prozent der als Kassenarzt Gemeldeten sind über 70, einige praktizieren noch mit über 80, eine Psychotherapeutin war mit 96 noch gelistet. KV-Chef John Afful sagt: „Viele denken gar nicht ans Aufhören. Sie wollen ihre Patientinnen und Patienten weiter versorgen.“ Das ist extrem löblich. Jedoch ist es auch riskant wie bei dem Augenarzt, der nach einem Schlaganfall und Fahrradsturz seine Praxis nicht wie gewollt übergeben konnte.

Ärzte in Hamburg: Mehr Teilzeit, weniger Selbstständigkeit

Deutschlandweit ist nach Zahlen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) das Durchschnittsalter der niedergelassenen Ärzteschaft in zehn Jahren nur um ein Jahr auf 54,2 gestiegen. Und noch mehr Hausärzte sind bundesweit über 60 Jahre alt (36 Prozent) als in Hamburg (33). Doch der Trend dürfte für Patientinnen und Patienten alarmierend sein: Hausärzte und Kinderärzte in den Hamburger Praxen sind im Mittel noch deutlich älter als ihre Fachkolleginnen. Die Ärztinnen arbeiten häufiger Teilzeit und die Neigung, sich als Selbstständige niederzulassen, ist noch geringer.

„Jüngere Ärztinnen und Ärzte fragen sich: Möchte ich so arbeiten wie meine Vorgänger? Antwort: nein, das ist nicht meins. Jüngere sind im Team-Gedanken groß geworden, sie wollen eine verträgliche Work-Life-Balance, bei ihnen steht auf der Prioritätenliste die Familie weiter oben“, sagt KV-Chef Afful. Bevor er Walter Plassmann als Vorstandsvorsitzender nachfolgte, war er unter anderem für die Zahlen und die Abrechnungen verantwortlich und kennt aus eigener Anschauung Praxen, Ärzte und ihre Gemütslage wie kaum ein Zweiter. Afful sagt: „Wer vor der Entscheidung zu einer Praxisübernahme steht, scheut oft das wirtschaftliche Risiko. Das ist verständlich, denn die Krankenkassen haben gerade wieder eine Nullrunde bei den Honoraren angekündigt. Das ist bei steigender Inflation und diesen Energiepreisen nicht akzeptabel.“

Karl Lauterbachs Versprechen an die Hausärzte

Dr. Jana Husemann arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis auf St. Pauli. Die Vorsitzende des Hausärzteverbandes sagt: „In Hamburg wäre die Entbudgetierung, also das vollständige Bezahlen aller abgerechneten Leistungen, ein entscheidender Schritt, um den nachfolgenden Hausärztinnen und Hausärzten den Weg in die Niederlassung zu erleichtern.“ Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte den Hausärzten im Koalitionsvertrag versprochen, dass endlich alles voll bezahlt werde, was sie behandeln. Das ist bislang ebenso ein Versprechen geblieben wie die Aussicht auf weniger Bürokratie.

Husemann hat Ideen, wie man trotz älterer Ärzteschaft auch eine angemessene Versorgung schafft: Abschied von den Quartalsabrechnungen, hin zu einem Jahresbudget. Krankschreibungen sollten weiter per Telefon möglich sein, die meisten nichtärztlichen Aufgaben sollten qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stemmen. Zudem könne es eine „Sozialberatung“ in der Hausarztpraxis geben. „Wir wünschen uns einen Pool von Sozialberaterinnen und -beratern, der von der Stadt finanziert wird und bei Bedarf von Hausarztpraxen angefordert werden kann.“

Haus- und Kinderärzte unter einem Dach?

Einen Trend zur „Teampraxis“ mit Teilzeitmodellen kann sich auch Afful vorstellen. Er sieht Haus- und Kinderärzte unter einem Dach. „Im Hier und Jetzt bin ich zuversichtlich, dass wir eine breite und gute Versorgung sicherstellen können. Doch in einigen Jahren wird die Struktur eine anderen sein müssen.“ Moderne Technik könne helfen, das Arbeiten in der Praxis zu erleichtern. Die Bedarfsplanung, also wie viele Praxen wo sein müssen oder dürfen, wirkt angesichts der Trends bei den Ärzten in Hamburg und dem noch schlimmer vom bevorstehenden Mangel betroffenen Umland antiquiert. „Zu unflexibel“, sagt Afful.

Dasselbe gelte für die Arbeitsweise der Ärzte. „Der Arzt kann nicht von zu Hause arbeiten, weil er keinen Zugriff auf das Praxissystem hat. Das ist absurd. Dabei könnte man auch sonnabends oder sonntags zum Beispiel die ein oder andere digitale Sprechstunden von zu Hause anbieten und die Versorgung so für Patientinnen und Patienten und für die Ärzteschaft flexibler gestalten.“

Die "stille Reserve" der Ärzte

Schaut man tiefer in die Statistik der Ärztekammer, sieht man 1285 gemeldete Allgemeinmediziner, aber 272 arbeiten nicht als Ärztin oder Arzt. Bei den Kinderärzten sind es 149 von 762. Schlummert hier eine „stille Reserve“?

Und wenn man die Zahl der Medizin-Studienplätze erhöht, wie bereits UKE-Chef Prof. Christian Gerloff im Abendblatt vorgeschlagen hat? „Das ist eine Option, ein Baustein, der in ein Paket von Überlegungen gehört. Es geht jetzt darum, die Versorgung auf stabilere Beine zu stellen“, sagt Kammerpräsident Emami. Husemann sagt, das sei sicher nicht falsch. „Wir haben aber vor allem ein Verteilungsproblem. Es entscheiden sich noch immer zu wenig Studierende für die Allgemeinmedizin.“

"Das gibt es in keiner Branche"

Man müsse noch viel deutlicher machen, dass Hausärztinnen und Hausärzte unter allen Fachgruppen die höchste Berufszufriedenheit hätten. Emami ergänzt zu den Kinderärzten: „Sie betreuen Patienten über mehrere Lebensabschnitte hinweg. Das Arbeiten in einer eigenen Praxis ist für sie nicht weniger attraktiv als in einem Krankenhaus. Da so wenige in die Praxis drängen, liegt der Eindruck nahe, dass das an den Rahmenbedingungen liegt.“

Also an der Entlohnung, der Bürokratie, der schleppenden Digitalisierung, die „nicht funktioniert“ (Emami) und an dem politischen Umfeld, gegen das die Niedergelassenen sich seit Monaten mit Protesten stemmen. Als angestellter UKE-Doktor und spezialisierter Neurochirurg wirft sich Emami für Kinder- und Hausärzte in den Praxen ins Zeug: „Für die Ärzteschaft und die Patientinnen und Patienten geht es um Verlässlichkeit. Dabei sollte das Bundesgesundheitsministerium nicht mit jedem neuen Minister alle vier Jahre alles umwerfen. Diese fehlende Planbarkeit gibt es in keiner Branche. Dabei stehen wir in der Gesundheit aufgrund der Demografie vor existenziellen Herausforderungen.“