Hamburg. Verzweifelte HNO-Spezialisten: Medizinische Versorgung von Kindern besonders gefährdet. Welche Entwicklungsstörungen drohen.
Weil erneut die medizinische Versorgung von Kindern auf dem Spiel steht, haben sich niedergelassene Ärzte jetzt zu einem drastischen Schritt entschlossen: Sie fordern eine Viertagewoche, um bei vollem Lohnausgleich für ihre Medizinischen Fachangestellten (MFA) die Praxen mittwochs zuzusperren, Energie zu sparen – und der Politik ihre Protestbereitschaft zu signalisieren.
Der Vorsitzende des Niedergelassenen-Verbandes Virchowbund, Dr. Dirk Heinrich, sagte dem Abendblatt: „Wir fordern die Ärzte zu einer Viertagewoche auf. Herr Lauterbach nimmt uns nicht wahr. Die Krankenkassen verweigern eine Erhöhung der Budgets – und die Bürokratie ist noch einmal erweitert worden.“
Das Streichen der Neupatientenregel (volle Bezahlung für neue Patienten ohne die üblichen Zwangsrabatte), die explodierenden Preise für Medizinprodukte und Energie hätten die Arztpraxen in große Nöte gestürzt, sagte der HNO-Arzt aus Horn. An einem Tag der Woche sollten die Ärzte Abrechnungen und Bürokratie bewältigen. Für die Patienten und Patienten sollten zum Beispiel mittwochs schon von morgens an die Notfallpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) zuständig sein. „Eine Viertagewoche kann uns niemand verbieten“, sagte Heinrich.
Ärzte in Hamburg: Warnung vor Folgen für Kinder
Auslöser dieses Ärzteärgers ist eine Absenkung des Honorars für ambulante Eingriffe, die vom 1. Januar an gilt. Für Mandel- und Mittelohroperationen bei Kindern soll es weniger Geld geben. Das ist Teil einer Reform beim ambulanten Operieren, die zwischen den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vereinbart wurde.
Der Bundesverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte zeigt sich empört. Sein Präsident Dr. Jan Löhler (Bad Bramstedt) sagte: „In den letzten Tagen haben uns zahlreiche Brandbriefe von verzweifelten Operateuren und den Angehörigen der kleinen Patienten erreicht. Die Vergütung ist mittlerweile so schlecht, dass die verantwortlichen Ärzte bei jedem Eingriff draufzahlen müssen. Gleichzeitig werden die Operateure von Anfragen für die Eingriffe überrannt.“
„Wir brauchen umgehend Hilfe in einer akuten Notlage"
Bei Kindern werden in einem Eingriff unter Narkose Paukenröhrchen ins Ohr eingelegt, um das Mittelohr zu „belüften“, wenn die Ohrtrompete verstopft ist. Die Wartezeit auf diese Eingriffe liege, so der Verband, „mittlerweile bei vier bis fünf Monaten – Tendenz steigend“. Krankenhäuser nähmen keine neuen Patienten mehr auf, heißt es.
Solche Operationen seien für sie nicht mehr wirtschaftlich. Und die niedergelassenen Spezialisten haben ebenso lange Wartelisten. HNO-Verbandspräsident Löhler sagte: „Wir brauchen umgehend Hilfe in einer akuten Notlage. Zumindest die Kinder-Eingriffe müssen schnellstens deutlich besser bezahlt werden.“
105 Euro für einen "Standardeingriff" – zu wenig?
Die HNO-Ärzte weisen darauf hin, dass man bei Erwachsenen planbare Operationen verschieben könne. Für Kinder jedoch habe das weitreichende Folgen – auch mit Blick auf die grassierenden Atemwegsinfekte derzeit. Löhler sagte: „Die kindlichen Eingriffe sind extrem notwendig für die betroffenen Kinder hinsichtlich kognitiver Störungen, Gedeihstörungen, Schlafstörungen mit Atemaussetzern und Sprachentwicklungsverzögerungen.
Auch zur Vermeidung rezidivierender Infekte, gerade in der aktuellen Jahreszeit, spielen die Operationen eine entscheidende Rolle.“ Auch chronisch entzündete Rachenmandeln müssen mitunter operiert werden. Kinder hören dann meist schlechter und nehmen infolgedessen nicht nur weniger wahr, sondern weniger am sozialen Leben teil. Ärzte können durch einen kleinen Eingriff verhindern, dass sogenannte Mittelohrtumoren entstehen.
Krankenhäuser erhalten Krisen-Zuschüsse, Praxen nicht
105 Euro erhalten die Ärzte für einen „Standardeingriff“ mit der Einlage eines Paukenröhrchens. 170 Euro gibt es für eine Lasertonsillotomie, also die Teilentfernung von Mandeln. Der Verband listet auf, was davon zu bezahlen sei: OP-Material, Raummiete, Personalkosten für eine Operations-Assistenz, die Instrumente und ihre Aufbereitung, die Haftpflichtversicherung und eine sicherheitstechnische Kontrolle (jedes Jahr).
Da die Ärzte wie alle von der Inflation, den steigenden Energiekosten und vor allem einem Fachkräftemangel betroffen seien, habe sich die Lage dramatisch zugespitzt. Die Krankenhäuser erhalten Krisen-Zuschüsse, die Praxen nicht. Nach den Kinderärzten warnen die HNO-Ärzte: Wenn die Politik nicht gegensteuere, sei die medizinische Versorgung der Kleinsten ernsthaft in Gefahr. Verbandschef Löhler sagte: „Dies wäre ein katastrophales Armutszeugnis für die Wohlstandsgesellschaft, in der wir leben.“
Was Karl Lauterbach den Ärzten versprach
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte den Kinderärzten versprochen, dass ihre Leistungen ohne Rücksicht auf feste Budgets honoriert werden. Mehrere Vertreter des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte hatten Lauterbach jedoch bereits Wortbruch vorgeworfen und ihm den Rücktritt nahegelegt. Der Minister hatte zudem angestoßen, dass die Krankenkassen für die von Kindern aktuell besonders benötigten Medikamente wie Fiebersäfte mehr Geld bereitstellen.
Lauterbach hatte sich erschrocken gezeigt, als Intensivmediziner darauf hingewiesen, wie katastrophal die Situation für kranke Kinder sei. Das liege aber am generellen Pflegenotstand, weniger an der Grippe- und Infektwelle oder Corona, hatten die Ärzte betont. Lauterbach versprach Soforthilfe, indem unter anderem Personal von den Erwachsenenstationen helfen solle und die Telemedizin ausgebaut werde.
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Wie Ärzte auf Lauterbach reagieren
Ärzte nannten diese Vorschläge wenig hilfreich oder „unsinnig“. Die Hamburger Ärztekammer sieht die Probleme in der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen als „Ergebnis einer jahrelangen verfehlten Gesundheitspolitik“. Kammerpräsident Dr. Pedram Emami sagte: In der aktuellen Ausnahmesituation zeige sich, dass das System über Jahre mehr als vernachlässigt wurde.
Vizepräsidentin Dr. Birgit Wulff sagte: „Wir brauchen eine Pädiatrie, die sowohl ambulant als auch stationär auch unerwartete Krankheitswellen abfedern kann. Dazu kommt, dass sich die Kinderärztinnen und Kinderärzte auch in der Regelversorgung schon seit längerer Zeit geänderten Bedarfen und Anforderungen gegenübersehen, die viel zusätzliche Zeit und großen Einsatz erfordern, aber nicht angemessen honoriert werden.“
In Hamburg hatten sich Kinderärzte sowie Kliniken wie das Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Brandbriefen an Lauterbach und die Sozialbehörde gewandt. Nach einem Streit zwischen Kassenärzten und Krankenhäusern um eine angemessene Notfallbehandlung hatte Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer einen Krisengipfel einberufen. Eine erste Konsequenz war die Einrichtung einer reinen Infektpraxis speziell für Kinder an der KV-Notfallpraxis an der Stresemannstraße.