Hamburg. Hamburgs Ärztekammer und der Landesverband der Kinder- und Jugendärzte schlagen Alarm: “Müssen jede Woche 50 Familien absagen“
- Eine ungewöhnlich frühe und heftige Grippewelle beeinträchtigt die Versorgung von Kindern und Jugendlichen
- Die Vorsitzende des Landesverbands der Kinder- und Jugendärzte spricht über Influenza, Corona und mehr
- Die Ärztekammer Hamburg kritisiert die Gesundheitspolitik auf Bundesebene
Viele Kinder werden Weihnachten 2022 krank im Bett verbringen, denn seit Wochen tobt in Hamburg eine sehr heftige und ungewöhnlich frühe Grippewelle. Die Zahl der Erkrankten hat bereits ein Rekordhoch erreicht. „Und damit ist nicht das gemeint, was der Volksmund als Grippe bezeichnet, sondern das ist die Influenza“, sagt Dr. Claudia Haupt, Vorsitzende des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. „Die Kinder fiebern fünf, sechs, sieben, manchmal zehn Tage sehr hoch. Dabei stecken sie natürlich ihre Familien an, die dann, wenn sie nicht geimpft sind, auch ziemlich krank werden.“
Für Ärzte und das Praxispersonal bedeute das eine enorme Belastung, denn die Bedarfsplanung und der Bedarf an Kinderärzten seien in Hamburg nicht mehr stimmig: „Die meisten Kollegen und ich müssen jede Woche 50 Familien absagen“, sagt Haupt, die mit einer Kollegin eine Praxis in Blankenese betreibt. Viele Eltern würden tricksen, um einen Kinderarzt zu finden, indem sie falsche Adressen nennen oder angeben, ihr Umzug in den Stadtteil stehe bevor, wenn sie in einer Praxis aufgenommen werden wollen. Viele Eltern, die ein Kind erwarten, meldeten sich schon Monate vor der Geburt an.
Kinderärzte in Hamburg: Pensionierungswelle droht
Mit großer Besorgnis sieht die Ärztin die bevorstehende Pensionierungswelle bei Kinderärzten. Viele junge Mediziner wollten lieber angestellt werden und in Teilzeit arbeiten, statt eine 60-Stunden-Woche in der eigenen Praxis zu haben. „Es muss mehr Geld ins System“, fordert Haupt.
Sie spricht auch über Folgen der Corona-Pandemie für Kinder und Jugendliche, wie Angststörungen, Essstörungen, aber auch Selbstverletzungen und Depressionen. „Es gibt eine unglaubliche Zunahme an Kindern in Hamburg, denen es seelisch schlecht geht. Das ist ein Debakel“ Haupt forderte mehr Beratungslehrer und Schulpsychologen.
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Wie Dr. Google auf Eltern wirkt
Auch weil Mütter und Väter immer mehr das Gefühl dafür verloren haben, ob und wie schlecht es ihren Kindern gesundheitlich geht, ist derzeit der Ansturm auf die Praxen und die Notaufnahmen so groß. Haupt sagte: „Viele trauen sich auch nicht mehr, die Kinder zu erziehen, weil sie fürchten, etwas falsch zu machen."
Eine Ursache sei sozusagen Dr. Google: „Da werden Ängste geschürt in halbseidenen Foren von selbst ernannten Spezialisten. Da steht dann beispielsweise an erster Stelle, dass Kopfschmerzen ja auf einen Hirntumor hindeuten könnten. Anderes Beispiel: Wenn ihr Baby schlecht trinkt, schwer atmet oder hoch fiebert, müssen sie zeitnah zum Arzt. Wenn der Dreijährige drei Tage Husten hat und Fieber, aber trinkt und spielt wie immer – dann nicht. Fieber ist kein Feind, der immer sofort weggebügelt werden muss."
Ärztekammer sieht jahrelange Verfehlungen in der Gesundheitspolitik
Die aktuellen Probleme in der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen sind nach Ansicht der Hamburger Ärztekammer das Ergebnis einer jahrelangen verfehlten Gesundheitspolitik: „Vor 20 Jahren wurden in den Kliniken Fallpauschalen auch für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen eingeführt. Seither sind rund 30 Prozent der Krankenhausbetten für Kinder und Jugendliche abgebaut worden“, sagt Pedram Emami, Präsident der Hamburger Ärztekammer.
Schon ohne Krankheitsspitzen sei die Arbeit im pädiatrischen Bereich schon schwierig zu bewältigen gewesen. „Auch in normalen Zeiten war das nur unter enormem Einsatz der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen und des medizinischen Personals im stationären wie im ambulanten Bereich möglich, da der Bedarf an pädiatrischer Versorgung durch häufigere und intensivere Kontakte, Vor- und Nachsorgeuntersuchungen etc. weiter gestiegen ist“, sagt Emami. In einer Ausnahmesituation wie derzeit zeige sich aber, dass das System über Jahre mehr als vernachlässigt wurde.
Kinderärzte Hamburg: Einsatz wird "nicht angemessen honoriert"
Die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigten Maßnahmen für eine bessere finanzielle Ausstattung der Kinderheilkunde seien zwar ein Schritt in die richtige Richtung, wichtig sei aber, schnell tragfähige Lösungen zu bekommen, sagt Birgit Wulff, Vizepräsidentin der Ärztekammer Hamburg. „Wir brauchen eine Pädiatrie, die sowohl ambulant als auch stationär auch unerwartete Krankheitswellen abfedern kann. Dazu kommt, dass sich die Kinderärztinnen und Kinderärzte auch in der Regelversorgung schon seit längerer Zeit geänderten Bedarfen und Anforderungen gegenübersehen, die viel zusätzliche Zeit und großen Einsatz erfordern, aber nicht angemessen honoriert werden.“
Erforderlich sind nach Ansicht von Emami und Wulff in der Akutsituation eine Entbudgetierung der niedergelassenen Kinderärzte genauso wie die Berücksichtigung der besonderen Bedarfe der Kinderheilkunde in Kliniken und Praxen sowie attraktivere Arbeitsbedingungen beispielsweise für Beschäftigte in der Kinderkrankenpflege und Medizinische Fachangestellte in kinderärztlichen Praxen.