Hamburg. Dr. Claudia Haupt über Grippewellen, RS-Viren, erschreckende Corona-Folgen und warum Politiker bei Kindern scheinheilig handeln.

Sie weiß, wo die Kleinen der Schuh drückt – und mehr. Dr. Claudia Haupt ist Vorsitzende des Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg. In ihrer Praxis versorgt sie nicht nur die Babys, Kleinkinder und Jugendlichen aus Blankenese, Iserbrook und Osdorf. Ihre Patientinnen und Patienten kommen mittlerweile aus weit entfernten Stadtteilen und aus Flüchtlingsunterkünften.

Hamburger Abendblatt: Frau Dr. Haupt, wie schlimm war oder ist noch die Welle an Atemwegserkrankungen, die Hamburgs Kinder gerade getroffen hat?

Claudia Haupt: Die Kinder haben sehr, sehr viele Infekte. Wir sehen eine viel zu frühe und heftige Grippewelle. Und damit ist nicht das gemeint, was der Volksmund als Grippe bezeichnet, sondern das ist die Influenza. Die Kinder fiebern fünf, sechs, sieben, manchmal zehn Tage sehr hoch. Dabei stecken sie natürlich ihre Familien an, die dann, wenn sie nicht geimpft sind, auch ziemlich krank werden.

Wie zeigt sich eine Erkrankung bei den Kindern?

Der klassische Verlauf ist der: Es tritt plötzlich auf – mit Fieber, Kopfweh, Gliederschmerzen, Halsweh, Hüsteln. Oft macht sich am Anfang so ein bisschen der Bauch bemerkbar. Dann gibt es am dritten, vierten Tag eine Besserung, anschließend erneutes Anfiebern und ein schlimmer Husten.

Müssen Sie Abstriche nehmen, um genau zu wissen, was es ist, oder reicht es, das Fieber, den Husten, den Durchfall zu behandeln? Und was halten Sie von dem neuen Vierfach-Schnelltest, der Corona, Influenza A und B sowie RSV erkennt?

Wenn die Mehrzahl der PCR-Tests aus dem Labor positiv zurückkommen, brauchen wir nicht mehr alle Kinder zu testen. Wenn Sie eine fünfköpfige Familie haben, von denen zwei einen zweigipfligen Fieberverlauf mit einer Temperatur von 40 Grad und typische Grippesymptome über zehn Tage haben, dann kann man auf weitere Tests bei den erkrankten Familienmitgliedern verzichten. Den neuen Test benutzen wir, aber nicht inflationär. Dieser Test muss „ge-igelt“ werden (Individuelle Gesundheitsleistung, die Redaktion), den bezahlen die Eltern aus der eigenen Tasche, weil die Krankenkassen das nicht übernehmen. Natürlich übernehmen wir auch mal die Kosten, wenn ich weiß, dass die Familie selbst die fünf Euro für den Test nicht zahlen kann.

Kinderärzte in Hamburg: Grippewelle war absehbar

Viele sagen, die Welle an RS-Viren und Influenza war absehbar, weil der Expertenrat der Bundesregierung bereits ab dem Sommer davor gewarnt hat. Was hätten Sie, was hätte die Politik unternehmen können oder müssen?

Natürlich steht das da drin und wir haben ja auch fest damit gerechnet, dass die Grippewelle ganz heftig werden wird. Nur hat das keine Konsequenzen gehabt. Wir konnten ja nicht deswegen mehr Mitarbeiter einstellen. Zum einen finden wir keine, zum anderen könnten wir sie nicht bezahlen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat vorgeschlagen, in der aktuell angespannten Lage die U-Untersuchungen zu verschieben. Was halten Sie davon?

Das finde ich so schwachsinnig wie nur irgendwas. Eine Vorsorgeleistung wegfallen zu lassen, gerade wenn so viel passiert in den jungen Lebensjahren, wo wir noch die problematischen Fälle – insbesondere auch die Folgen der Pandemie – rausfischen können, ist absurd.

"Verkauf mal deinen Porsche"

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für die anhaltende Misere der Gesundheitsversorgung der Kinder?

Wir leiden seit Jahren unter einem Mangel an Kinderarztkapazitäten. Die Bedarfsplanung und ihre Berechnung ist irreführend. Und wir sind auch gar nicht damit einverstanden, dass wir einen großen Teil unserer Leistungen nicht bezahlt bekommen. Kinderheilkunde macht keiner, weil er Geld verdienen will. Wir sind kleine Betriebe und müssen unsere Mitarbeiterinnen gut bezahlen. In der Gesundheitspolitik schaut man immer auf die Krankenhäuser. Das sind Institutionen, und da hat jeder sein festes Gehalt. Es ist mir allerdings wichtig zu sagen, dass auch die Kinderkliniken absoluten Notstand haben und dringend unterstützt werden müssen.

Wir sind nicht dafür bekannt, dass wir nörgeln. Aber man kann den Kinderärzten nicht sagen: Verkauf mal deinen Porsche und geh nicht mehr jedes Wochenende golfen und dann kommst du schon über die Runden.

Arbeiten Arztgruppen wie Orthopäden so anders als Sie?

Vielleicht kann man mit der Apparatemedizin Geld verdienen. Wir haben hier im Wesentlichen Waage, Stethoskop, Ohren- und Augenspiegel und ein Gerät, mit dem wir Entzündungsmarker bestimmen. Kinderärzte machen, was unbedingt notwendig ist. Keinem Kind wird Blut abgenommen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ebenso wird es nur bei dringendem Bedarf in ein Röntgen- oder Kernspingerät gesteckt. Es ist umgekehrt ein sehr hoher Aufwand, bei einem Säugling oder einem Kleinkind beispielsweise Urin zu gewinnen und zu untersuchen. Das wird mit 75 Cent vergütet. Dabei hühnern wir lange mit einem Kind herum, bis wir ein Ergebnis haben. Beispiel Ultraschall: Einem Erwachsenen sage ich: Legen Sie sich bitte hin. Das Kleinkind dreht und wendet sich. Beides wird gleich bezahlt.

Eltern tricksen für Termine

Was genau werfen Sie den Gesundheitspolitikern vor?

Der Aufwand für Kinder ist ungleich größer. Es wird häufig gesagt, wie unheimlich wichtig und schützenswert die Kinder sind – unser höchstes Gut, unsere Zukunft. Und Prävention ist alles. Aber wenn es darum geht, dass das Geld kostet, dann ist die Bereitschaft, das zu priorisieren, wesentlich geringer.

Wie finden junge Eltern in Hamburg noch einen Kinderarzt, wenn so viele Praxen einen Aufnahmestopp haben?

Viele schreiben uns ein paar Monate, bevor das Baby kommt. Es gibt jedoch kaum noch Kapazitäten. Die meisten Kollegen und ich müssen jede Woche 50 Familien absagen. Es gibt Fälle, da ruft die Patientenberatung an und hat für Blankenese eine Frau aus Bergedorf, die mit ihrem Kind gar nicht unterkommt. Vielleicht ist das eine Inobhutnahme oder ein behindertes Kind. Die nehmen wir dann als Quereinsteiger, aber das kommt bei meinem Team auf Dauer nicht gut an.

Immerhin sind diese Kinder dann versorgt …

Ja, diese Kinder und ihre drei Geschwister, von denen wir noch nichts ahnten. Die wurden aus strategischen Gründen nicht erwähnt.

Das kann man den Eltern nicht verdenken.

Nein. Unsere Mitarbeiterinnen müssen am Telefon nach der Postleitzahl fragen. Sie glauben nicht, was da getrickst wird: „Wir ziehen bald nach Blankenese“ und andere Ausreden aus purer Verzweiflung, einen Kinderarzt zu finden.

Kinderärzte: Viele gehen demnächst in Rente

Die Kassenärztliche Vereinigung hat schon einmal über eine Sonderbedarfszulassung neue Kinderarztsitze bewilligt.

Der Hamburger Senat und die KV sollen und wollen sich hier stärker engagieren. Das kostet Geld und Anstrengungen, aber man muss es durchsetzen, eben weil wir so viele Kinder haben. Das ist doch auch schön!

Die neue Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) scheint da aufgeschlossen.

Die Politik erkennt, dass der Bedarf da ist. Doch die Planung geht über den Gemeinsamen Bundesausschuss. Selbst wenn wir da erfolgreich wären, sieht man ein Ergebnis vielleicht in fünf Jahren. Und eine Sonderzulassung bedeutet: Die Gemeinschaft der Kinderärzte bezahlt das von ihrem Gesamthonorar, wenn in Hamburg mehr Sitze geschaffen werden. Das haben wir häufig gemacht. Das ist gar keine Option mehr. Das Geld im Topf wird auf mehr Köpfe verteilt. Es muss mehr Geld in den Topf fließen.

Wo gäbe es denn überhaupt noch Kinderärztinnen und -ärzte, die dann in eine Praxis kämen?

Es gibt angestellte Ärztinnen, die in Teilzeit sind und Kapazitäten hätten. Aber: Viele der Babyboomer gehen bald in Rente, und dann sieht es bei den Kinderärzten zappenduster aus. Und das könnte noch schneller der Fall sein, wenn die älteren Kolleginnen und Kollegen aus Frust vorher hinschmeißen. Wir haben allerdings auch Fälle von 70-Jährigen, die immer weiterarbeiten.

Was macht die jungen Ärztinnen und Ärzte aus?

Die nachrückenden Generationen arbeiten nicht schlechter als wir. Aber sie wollen nicht dieselbe lange Arbeitszeit haben. Sie möchten überwiegend in Teilzeit angestellt sein. Ein Arztsitz, der heute mit 60 Stunden von irgendjemanden betrieben wird, muss dann auf zwei oder drei Leute aufgeteilt werden.

Finanzinvestoren kaufen Arztpraxen auf

Können große Medizinische Versorgungszentren (MVZ) eine Lösung sein?

Ich sehe gerade die investorengetriebenen Praxen, die Private-Equity-Unternehmen hinter den MVZ problematisch. Es wäre furchtbar, wenn auch bei den Haus- und Kinderärzten vor allem das gemacht würde, was Geld bringt. Ich bin überzeugt davon, dass man es schaffen kann, dass sich Ärzte Sitze teilen und ein Praxisinhaber mit vollem Herzen dafür eintritt, dass es seinen Patienten gut geht. Das ist die bessere Option gegenüber irgendeinem Konzern. Noch einmal: Mit Kindern kann ein Arzt kein großes Geld verdienen. Sich wirklich mit den Kindern zu befassen, auch sozial, und viele Gespräche mit den Eltern zu führen – das wird eben nicht besonders gut vergütet.

Die großen MVZ bieten erheblich mehr Videosprechstunden und Telemedizin an.

Ich kann mir nicht vorstellen, in einer Kinderarztpraxis im größeren Umfang Telemedizin einzusetzen. Wir sind ein Fach, das extrem davon lebt, dass wir die Kinder sehen, hören, fühlen, ja sogar riechen. Das ist so elementar bei der Untersuchung eines Kindes, da können Sie nicht am Bildschirm fragen: So, und nun erzähl mal, was hast du und wie geht es dir? Wir bekommen viele Fotos zugeschickt und anhand deren kann man teilweise auch sagen, was das für ein Hautausschlag ist. Doch sobald irgendwas nicht stimmt, muss ich das Kind sehen.

Eltern googeln, statt die Kinder anzuschauen

Täuscht der Eindruck, oder haben viele Mütter und Väter das Gefühl dafür verloren, dass sie in Eigenverantwortung ihre Kinder beim Gesundwerden unterstützen können? Viele rennen beim ersten Husten in die Kinder-Notaufnahme.

Die Eltern haben kein Vertrauen mehr in ihre elterlichen Kompetenzen, ihre Instinkte. Man kann ihnen das im Laufe der Zeit beibringen. Das eigene Kind genau anzuschauen, wie es ihm geht, eine Idee dafür zu entwickeln, ob es schwerer krank ist oder nicht. Viele trauen sich auch nicht mehr, die Kinder zu erziehen, weil sie fürchten, etwas falsch zu machen.

Wie konnte das Gefühl dafür verloren gehen?

Eine Ursache ist, dass ständig im Internet herumgewurschtelt wird. Da werden Ängste geschürt in halbseidenen Foren von selbsternannten Spezialisten. Da steht dann beispielsweise an erster Stelle, dass Kopfschmerzen ja auf einen Hirntumor hindeuten könnten. Anderes Beispiel: Wenn ihr Baby schlecht trinkt, schwer atmet oder hoch fiebert, müssen sie zeitnah zum Arzt. Wenn der Dreijährige drei Tage Husten hat und Fieber, aber trinkt und spielt wie immer – dann nicht. Fieber ist kein Feind, der immer sofort weggebügelt werden muss.

Kinderärzte in Hamburg: So leiden die Kinder unter den Folgen der Pandemie

Die Corona-Pandemie hat nach mehreren Studien wie der COPSY vom UKE Kinder und Jugendliche zum Teil verstört zurückgelassen. Wie ist Ihr Eindruck?

In den Familien, die das gut gewuppt haben, sind die Kleinen wieder im Tritt. Andere kämpfen noch mit Sprachdefiziten, die sie aufholen müssen. Wir haben viele Kinder, bei denen man merkte, dass ihnen ihre Therapien gefehlt haben, die Physio- oder Ergotherapie, die Logopädie, die Heilpädagogik. Die größten Probleme sehe ich bei den Schulkindern und Jugendlichen. Da sind viele Angststörungen, Essstörungen, vor allem bei älteren Mädchen, Selbstverletzungen und Depressionen bis hin zur Suizidalität. Es gibt eine unglaubliche Zunahme an Kindern in Hamburg, denen es seelisch schlecht geht. Das ist ein Debakel.

Was unterscheidet hier die Jugendlichen von den kleineren Kindern?

Sie waren plötzlich komplett aus ihrem sozialen Kontext raus. Die Peer Group ihrer Freundinnen und Freunde fehlte da, als sie sie am allerallermeisten brauchten. Mit Frau Prof. Ravens-Sieberer vom UKE habe ich darüber gesprochen, wie wir es schaffen können, dass die Jugendlichen ihre sozialen Kompetenzen zurückgewinnen, ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die Zukunft. Während Corona haben wir den Kindern etwas weggenommen. Ich würde mir extrem wünschen, dass die Schulen viel mehr Psychologen hätten und mehr Beratungslehrer. Wir brauchen sehr niederschwellige schulbasierte und für alle zugängliche Angebote, deren Inanspruchnahme die Kinder und Jugendlichen nicht stigmatisiert.