Hamburg. Kinderärzte schildern dramatische Zustände in den Praxen und fordern vom Senat schnelles Handeln. Auch Krankenhäuser betroffen.

Das Baby dreht sich, das Baby schreit: Nein, heute keine Blutabnahme, will ich nicht. Und Pipi mache ich auch auf nicht, obwohl die fremde Frau mit weißer Hose und blauem Oberteil so freundlich nachhilft. Die Prozedur dauert. Im Wartezimmer wird die Schlange länger. Kranke Kinder quengeln, Vatis und Muttis sind – angespannt. Für Blutabzapfen und Urintest erhält die Kinderärztin weniger als einen Euro Honorar. Noch mehr kleine Patientinnen und Patienten aufnehmen, noch mehr Stunden in der Woche arbeiten – unmöglich.

Ärztlicher Nachwuchs fehlt, Medizinische Fachangestellte sind ebenfalls kaum noch zu finden. Bezahlt würde das alles sowieso nicht. Das Budget der Kinderärzte ist „gedeckelt“. Es gibt einen Topf, aus dem alles honoriert wird. Egal, wie viele Kleine da noch kommen und nach medizinischer Versorgung brüllen.

Kinderärzte in Hamburg schreiben Brandbrief

Das ist brandaktuell die bittere Realität in Hamburger Kinderarztpraxen. Viele haben einen Aufnahmestopp verhängt (das Abendblatt berichtete). Junge Väter und Mütter gondeln mit kranken Babys durch die halbe Stadt. In einigen Quartieren gibt es gar keine Möglichkeiten mehr für eine zeitnahe ambulante Behandlung oder die vorgeschriebenen U-Untersuchungen für die Kleinsten.

Und weil das alles zusammenfällt mit den gravierenden Folgen der Corona-Pandemie für etliche Kinder und einer beispiellosen Welle an Infekten sowie einer unverständlichen Gesundheitspolitik, haben Hamburgs Kinderärztinnen und -ärzte einen Brandbrief geschrieben. Er richtet sich an Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD), aber ebenso an ihren Genossen Karl Lauterbach (Bundesgesundheitsminister).

Auch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) wird aufgefordert, sich für die Kinder und ihre Ärzte einzusetzen. Denn die KV ist für die überaus komplizierte Verteilung der Honorare mitverantwortlich. Und für die Arztsitze, über die sie mit den Krankenkassen und der Behörde verhandelt. Denn mehr Praxen eröffnen – das geht so einfach nicht im deutschen Gesundheitswesen.

Corona: Wie Kinder unter den Folgen leiden

Daran ändert auch die erschreckende Bestandsaufnahme des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg nichts. Die Verbandsvorsitzende Dr. Claudia Haupt sagte dem Abendblatt, in einigen Quartieren sei die Situation „wirklich krass“. So heißt es in dem Brief von vergangener Woche: „Wir sehen uns als Träger der pädiatrischen Versorgung in unserer Aufgabe und Existenz bedroht. Dadurch ist die medizinische Versorgung der Kinder und Jugendlichen in unserer Stadt akut gefährdet.“

Immer wieder seien die Kinderärzte mit neuen Aufgaben betraut worden. Und: „Wir versorgen in unseren Praxen eine stetig zunehmende Zahl chronisch kranker Kinder mit erhöhtem Betreuungsaufwand mit beispielsweise Übergewicht, allergischen oder rheumatologischen Erkrankungen.“

Sogar „dramatisch gestiegen“ sei der Bedarf an der Beratung und Betreuung, die sich um das Umfeld der Kinder dreht. Hier überschneiden sich medizinische und soziale Aufgaben. Wirklich bitter klingt dieser Befund: „Die Auswirkungen der Coronapandemie und die Flüchtlingsbewegung haben die ohnehin schon stark angestiegene Zahl an Kindern und Jugendlichen mit Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten, Essstörungen, Ängsten, Depressionen und Schulverweigerung noch einmal deutlich erhöht. Den Mangel an entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Angeboten können wir zeitlich und fachlich nicht kompensieren!“

Infektionswellen mit Atemwegserkrankungen, RS- und Adenoviren

Hier wird auch zum Fluch, dass Hamburg so viele – notwendige – Expertinnen und Experten hat. Kinderärzte haben sich spezialisiert auf Herzerkrankungen der Kleinsten, auf Nieren- und Lungenleiden. Dadurch können sie aber nicht die „Grundversorgung“ in den Praxen mit übernehmen, das „Brot- und Buttergeschäft“ mit Infekten, die in Wellen rollen, mit RS- und Adenoviren, die ganze Familien lahmlegen.

Die Kinderärzte sind außerdem in der „Sippenhaft“ mit den Hausärzten. Heißt für die Honorare: Im Vergleich mit anderen Fachgruppen stagnieren sie am unteren Ende der Skala. Und die versprochene hundertprozentige Vergütung ihrer Leistung bei neuen Patienten können sie sich auch abschminken.

Wie alle Arztgruppen in Hamburg ringen die Kinderpraxen um Nachwuchs. Junge Pädiater lassen sich nach Studium und Facharztausbildung aufgrund des großen wirtschaftlichen Risikos einer Praxisübernahme oder -beteiligung lieber in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) anstellen. Arbeitszeiten sind dort flexibler – und verbindlicher als in überfüllten Praxen. Die Medizinischen Fachangestellten (MFA) warten noch heute auf einen Corona-Bonus, den Krankenhaus-Pflegekräfte (zu Recht) erhalten haben.

Junge Ärzte scheuen das wirtschaftliche Risiko einer Praxisübernahme

Diese Misere beklagt auch die KV Hamburg. Vor allem bei freiwerdenden Arztsitzen gibt es seit Längerem Ideen, sie davor zu bewahren, in andere Stadtteile verschoben oder von MVZ aufgekauft zu werden (das Abendblatt berichtete). KV-Sprecher Jochen Kriens sagte am Montag: „Die KV könnte dort, wo der Zugang zur Versorgung schwieriger wird, diese mit Hilfe von Eigeneinrichtungen sicherstellen. Hierzu ist es notwendig, dass die KV Zulassungen halten kann; dies ist zur Zeit gesetzlich noch nicht möglich.“

Damit wäre der Ball wieder Richtung Politik gespielt. Hier gibt es immer wieder „Gespräche“, aber offenbar ohne Ergebnisse. Die Sozialbehörde von Melanie Leonhard erklärte dem Abendblatt, die von den Kinderärzten aufgeworfenen Probleme sehe man auch. „Insbesondere Fragen nach Anzahl und Verteilung von Arztsitzen und dem Umfang des kinder- und jugendmedizinischen Angebots sind ja innerhalb des kassenärztlichen Systems zu klären.“ Was die Honorare für ärztliche Leistungen betreffe, sei das über Bundesgesetze zu regeln.

Ampelkoalition hatte Hausärzten "Ent-Budgetierung" versprochen

Hamburgs „Ärzteparlament“, die Vertreterversammlung in der KV, hat am Montag Gesundheitsminister Lauterbach – mal wieder – hart attackiert und ein „Unterstützungspaket“ für niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten gefordert. „Aufgrund explodierender Energiepreise und einer historisch hohen Inflation steigt der Kostendruck in vielen Praxen extrem an“, sagte der VV-Vorsitzende Dr. Dirk Heinrich. „Daher fordern wir eine Energiekostenentlastung, einen Inflationsausgleich und die volle Auszahlung der Honorare.“

Die Ampelkoalition in Berlin hatte sich in ihrer Koalitionsvereinbarung darauf verständigt, vor allem die Haus- und damit die Kinderärzte besser zu stellen. Auf Seite 85 des Koalitionsvertrages heißt es: „Wir stellen gemeinsam mit den KVen die Versorgung in unterversorgten Regionen sicher. Wir heben die Budgetierung der ärztlichen Honorare im hausärztlichen Bereich auf. Die Gründung von kommunal getragenen Medizinischen Versorgungszentren und deren Zweigpraxen erleichtern wir und bauen bürokratische Hürden ab. Entscheidungen des Zulassungsausschusses müssen künftig durch die zuständige Landesbehörde bestätigt werden.“ Realisiert wurden diese Vorhaben noch nicht.

Arztpraxen: Wartezeiten, Energiespartage und Schließungen?

Hamburgs Praxisärzte drohen in ihrer Resolution: Sollte keine „spürbare Entlastung“ der Praxen kommen, werde es „zwangsläufig zu längeren Wartezeiten, Wartelisten, Energiespartagen bis hin zu Praxisschließungen kommen, da eine wirtschaftliche Praxisführung nicht mehr gewährleistet werden kann“.

Was das für Kinder und Eltern bedeutet, kann man bereits heute erahnen: Hamburgs Kinderkrankenhäuser sind überfüllt mit kleinen Kindern. Das berichtet Prof. Philippe Stock, Ärztlicher Direktor des Altonaer Kinderkrankenhauses (AKK).

„Momentan ist bei uns wirklich viel los“, sagt er dem Abendblatt. Bis unters Dach sei das Haus gefüllt. Und in anderen Kliniken der Stadt sehe es genauso aus. „Wir bekommen täglich kleine Patienten aus dem Wilhelmstift oder dem Helios Mariahilf gebracht, weil die vollkommen überfüllt sind.“ Das seien Zustände, wie man sie unbedingt verhindern wolle.

RS-Viren: Hamburger Krankenhäuser schlagen Alarm

Der Grund für die vielen kranken Kinder ist das sogenannte RS-Virus, das sich derzeit besonders unter den ganz Kleinen ausbreitet. „Die Kinder erkranken vor allem in ihren ersten beiden Lebenswintern an diesem Virus“, so Stock. Bereits im vergangenen Jahr sei die RS-Viruswelle heftig ausgefallen. „Aber in den vergangenen zwei Wochen haben wir das noch einmal übertroffen.“

Stock vermutet das mangelhaft trainierte Immunsystem der Jungen und Mädchen hinter den vielen Erkrankungen. „Wir hatten viele Corona-Regeln, die es auch diesem Virus schwer gemacht haben, sich auszubreiten“, so der Kinderarzt. Selbst im vergangenen Herbst hätten Abstandregeln und eine Maskenpflicht noch die Ansteckung verringert. „Und die Kleinen bekommen jetzt die Viren mit voller Wucht ab.“

Doch obwohl größere Kinder in der Regel von dem RS-Virus nicht mehr so betroffen sind, hat die Situation auch Auswirkungen auf sie. „Wenn ein Krankenhaus voll ist, ist es voll. Das merken dann auch die anderen kranken Kinder“, so Stock.

Kinderärzte in Hamburg in Sorge wegen Influenza

Sorgen bereitet ihm im Moment zusätzlich die bevorstehende Influenza-Saison. Die beginnt zumeist erst im Dezember oder Januar. „Aber nachdem die im vergangenen Jahr dank der Regeln auch recht harmlos ausgefallen ist, kann das dieses Jahr ganz anders aussehen.“ In Australien, wo in den vergangenen sechs Monaten Winter herrschte, habe man das bereits beobachten können. Und so geht Stock so weit, Eltern eine Influenza-Impfung zu empfehlen.

„Wir halten uns mit unseren Empfehlungen natürlich an die Stiko, das heißt es sollen Kinder mit Vorerkrankungen geimpft werden.“ In diesem Winter sehe er die Lage ein mit gewisser Besorgnis. „Momentan wäre ich großzügig mit dem Impfen von Kindern in diesem Winter.“