Hamburg. Erfolg für einen kleinen Verein: Dutzende EU-Abgeordnete fordern jährliche europäische Kinderhauptstadt. Warum das dringend nottut.
„Gebt den Kindern das Kommando!“ Herbert Grönemeyer, bekannt für unkonventionelles Denken und Dichten, hat das einfach mal hitverdächtig herausgesungen. Trotz gewaltiger Fanbasis des Popstars kam in den Erwachsenenohren nicht viel von dieser Botschaft an. Im Gegenteil. Die Kinder in Europa leiden erheblich unter dem, was ihre älteren, wahlberechtigten und politisch verantwortlichen Mitmenschen so „unternehmen“.
Von den Lippenbekenntnissen der vermeintlichen Kinder-Lobby wird ihre Situation nicht besser. Ein Beispiel: Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend rühmte sich in diesem Jahr, auf EU-Ebene die Europäische Kindergarantie „beraten“ zu haben. Es ging um Kinder, die mit ihren Müttern aus der Ukraine geflohen sind, um Bildung und Ernährung. Und es ging um die „deutlichen Erfolge“ in Deutschland bei den sogenannten Sprach-Kitas.
Klang so wie: Gut, dass wir mal drüber geredet haben. Denn in Wahrheit ringen die Sprach-Kitas, die gerade in europäischen Metropolen wie Hamburg einen gewaltigen Beitrag zur Teilhabe liefern, um jeden Euro Unterstützung. Der Bund will seine Gelder jetzt streichen (das Abendblatt berichtete). Für die Kitas, die Erzieherinnen und Erzieher eine Katastrophe. Und für die Kinder – mal wieder ein uneingelöstes Versprechen.
Europäische Kinderhauptstadt: Hamburger Verein feiert Erfolg
Doch es gibt etwas Hoffnung dank einer Bewegung „von unten“. Ein kleiner Hamburger Verein hat den großen Schuss ins Blaue gewagt und mit seiner Idee einer europäischen Kinderhauptstadt einen beachtlichen Meilenstein erreicht. Der Förderverein, der in den unsichersten Zeiten überhaupt gegründet wurde, im Sommer 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie, ist im großen Plenarsaal angekommen.
Dass Europa eine jährliche Kinderhauptstadt bekommen soll, fordern jetzt 48 Abgeordnete des EU-Parlaments in einem fraktionsübergreifenden offenen Brief an die EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (Malta). Sie stammen aus 17 Ländern und mehreren Fraktionen.
Europäische Kinderhauptstadt – "eine großartige Idee"
In dem Brief heißt es: „Wir wollen Kindern die Chance geben, sich auf internationaler Ebene zu treffen und gleichzeitig europäische Städte durch einen Wettbewerb herausfordern, Kinder ernst zu nehmen und sie in die Gestaltung der Zukunft einzubeziehen – wie es die UN-Kinderrechtskonvention vorschreibt.“ Die deutsche Vizepräsidentin Katarina Barley (SPD) und Manfred Weber (CSU, Vorsitzender der EVP-Fraktion) unterstützen das Vorhaben einer Kinderhauptstadt.
„Europa steht für Vielfalt, Miteinander und Zukunft“, sagte Weber. „Zu wem passt dies besser als zu den Kindern, die Europas Zukunft sind und heute schon unsere Gegenwart unglaublich bereichern und bunt machen? Die Idee einer europäischen Kinderhauptstadt ist eine großartige Idee, die die europäische Lebensfreude zum Ausdruck bringt und den Fokus auf die Kinder mit all ihren Bedürfnissen und Sorgen lenkt.“
Schriftstellerin Kirsten Boie und Liedermacher Rolf Zuckowski dabei
Die Mitunterzeichnerin Gabriele Bischoff (SPD-Europaabgeordnete) sagte: „Wir brauchen eine europäische Kinderhauptstadt, weil die jungen Europäerinnen und Europäer unsere Zukunft sind, aber aktuell viel zu wenig gesehen und gehört werden. Es freut mich, dass dieses wichtige Anliegen von so vielen Europaabgeordneten unterstützt wird.“
Der „Förderverein europäische Kinderhauptstadt“ wurde vom ehemaligen Abendblatt-Autor Jan Haarmeyer gegründet. Er holte bereits Hamburgs Ehrenbürgerin Kirsten Boie und Liedermacher Rolf Zuckowski ins Boot. Haarmeyer sagte: „Wenn wir wollen, dass Europa eine Zukunft hat, dann müssen wir den Kindern eine Stimme geben.“ In jedem Jahr solle analog zur Kulturhauptstadt eine Stadt oder , Region aus mehreren Bewerbern ausgewählt und Gastgeber für die Jugend Europas werden. Damit seien zwei Ziele verbunden: die Kinder „in den Mittelpunkt Europas“ stellen und die Idee von Europa in der Wahrnehmung der Kinder zu verankern.
Woran Kinder in der Corona-Pandemie leiden
Was auf Kinder und Jugendliche quer durch Europa in diesen Zeiten einprasselt, ist beängstigend. Dennoch lohnt sich ein Blick auf „Highlights“ der Belastungen:
- Von Krieg, Vertreibung, Flucht und ihren Folgen sind Millionen Kleine betroffen. Der Krieg in der Ukraine ist uns der nächste. Die Geflüchteten hier unterzubringen, die Kinder zu „beschulen“ – das sind bereits Herkulesaufgaben. Können und wollen sie bleiben? Müssen sie es noch auf Jahre, weil ihre Heimat zerstört wird? Doch auch die Flüchtlingsbewegungen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder nun auch dem Iran ziehen weiter ihre Linien durch Europa.
- Was ist mit den Kindern in Rumänien und Bulgarien? Von dort ziehen Familienväter und -mütter gen Westen auf der Suche nach Jobs. Eine Ahnung von der Situation hat jeder, der sich in Hamburg die wachsende Wanderarbeiterschaft anschaut und die vielen Obdachlosen mit osteuropäischem Migrationshintergrund.
- In Deutschland mussten Kinder- und Jugendärzte eine neue Leitlinie zur Behandlung veröffentlichen (S3), weil die Auswirkungen der Corona-Pandemie so erheblich sind. Sie fordern, auf Lockdown oder Schulschließungen und das Homeschooling zu verzichten. Die bisherigen Folgen für die Kinder und Jugendlichen seien nachgewiesenermaßen erheblich gewesen. Es habe „beträchtliche“ Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern gehabt, nicht wie gewohnt am Unterricht teilzunehmen, schreibt der Verband der Kinder- und Jugendärzte.
- Schon bei Grundschulkindern wurden durch die Pandemie nach Krankenkassenzahlen 20 Prozent mehr Fälle von Adipositas gezählt. Das mag man wieder abtrainieren können. Aber was ist mit dem auffälligen Anstieg von Angststörungen, Depressionen und depressiven Phasen? Was ist mit anhaltenden Essstörungen, unter denen Kinder leiden?
- Gleichzeitig hat sich die Wartezeit für Kinder auf eine Psychotherapie nach Angaben der Psychotherapeutenkammer von 13 auf 30 Wochen verlängert.
- Viele Hamburger Kinderarztpraxen haben zudem einen Aufnahmestopp. Sie werden des Ansturms der jungen Väter und Mütter mit Babys und Kleinkindern einfach nicht mehr Herr. Sieht so eine kindgerechte Versorgung in einer europäischen Boom-Town aus?
- Die Präsidentin der Hamburger Psychotherapeutenkammer, Heike Peper, hat bereits davor gewarnt, dass sich die Auffälligkeiten der Corona-Pandemie zu chronischen Krankheiten auswachsen könnten. „Die Pandemie wirkte wie ein Brennglas für die Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Corona hat den Trend noch einmal verstärkt.“ Die jungen Patientinnen und Patienten benötigen mehr Therapiezeit und kommen seit Corona schneller wieder – der Drehtüreffekt, bekannt aus der Behandlung von Suchtkranken und ein großes Alarmsignal.
- Und da auch die psychischen Erkrankungen unter den Erwachsenen zugenommen haben, sind durch die Belastung in betroffenen Familien auch immer die Kinder involviert. Sei es durch Sorgen um die Eltern oder durch ökonomische Folgen, wenn Vater oder Mutter ihre Jobs nicht mehr ausüben können.
Die Situation, zumal mit Kriegs- und Krisenszenarien, muss in den Augen von Kindern dramatisch wirken. Kann die Idee einer europäischen Kinderhauptstadt in ihre Vorstellungen „eingepflanzt“ werden? Die Schriftstellerin Kirsten Boie glaubt: ja. „Für Kinder ist ‚Europa‘ etwas Abstraktes, in ihrem Alltag spielt es keine Rolle. Aber Kinder sind die Zukunft Europas – und gerade jetzt, wo die Aufgaben der EU zunehmen, während wir gleichzeitig in immer mehr Ländern eher nationalistische Entwicklungen beobachten müssen, ist es wichtig, sie schon früh – und ganz konkret! – für Europa zu begeistern.“
"Weimarer Dreieckchen" für Kinder
In der sogenannten „Reformpädagogik“ hat es in der Geschichte viele Visionen und konkrete Projekt von kinderorientierten Gemeinwesen gegeben. Sie waren von unterschiedlichem Erfolg geprägt, übten oft aber selbst auf Heranwachsende eine gewisse Faszination aus. Die Summerhill School von Alexander Sutherland Neill war darunter oder die spanische Kinderrepublik Benposta.
Auch das pompös „Weimarer Dreieck“ genannte Diskussionsforum für Deutsche, Franzosen und Polen hat inzwischen eine Kindervariante. Es heißt „Weimarer Dreieckchen“. Hier hat der Hamburger Liedermacher Rolf Zuckowski nach eigenen Worten gelernt, wie es nachhaltig möglich ist, durch grenzüberschreitende Begegnungen in Kindern ein „friedliches, tolerantes und kreatives Miteinander“ anzustoßen. Zuckowski sagte über das Projekt Kinderhauptstadt: „Ich wünsche mir von der Präsidentin des EU-Parlamentes, dass sie diese Einschätzung teilt und das Projekt auf die Agenda der für die Realisierung zuständigen Ebene der EU-Verwaltung bringt.“
Oder, um es mit Zuckowskis Kollegen Grönemeyer zu sagen: „Kinder an die Macht!“