Hamburg. Einige Berufs- und Altersgruppen sind besonders häufig psychisch erkrankt. Barmer legt neue Zahlen vor – mit Überraschungen.

Es sind dramatische Zahlen, die erstmals für Hamburg dokumentieren, wer außer den im Gesundheitswesen Beschäftigten vor allem und schwerwiegend unter der Corona-Pandemie gelitten hat. Das sind zum einen die Kinder. Ein DAK-Report wirft ein Schlaglicht darauf. Aber es sind auch ihre Betreuer in den Kitas und die Beschäftigten bei Post- und Lieferfirmen.

Lockdown und Homeoffice haben den ohnehin globalen Trend der „Amazonisierung“, dem Bestellen und Kaufen im Internet, zu neuen Höhen geführt. Auf dem Rücken der Paketboten – buchstäblich – wird die Pandemie mit ihren Folgen ausgetragen. Das schreibt die Krankenkasse Barmer angesichts neuer Zahlen aus einer Sonderauswertung des Gesundheitsreports für Hamburg.

Depression: Erzieher sind besonders betroffen

Barmer-Landeschefin Susanne Klein sagte dem Abendblatt: „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Post- und Zustelldiensten sind körperlich stark gefordert, hinzu kommen Stress und Termindruck. In der Pandemie wurde und wird vermehrt online eingekauft, was die Arbeitsbelastung zusätzlich verstärkt hat.“ Bei den Letzten in der Lieferkette sei die Zahl der Muskel-Skelett-Erkrankungen besonders hoch. Darüber hinaus litten sie unter Termindruck und Stress, der sich auffällig oft in langen Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen spiegele. Die Paketboten leiden also zugleich an maladen Körpern und Seelen.

Im Schnitt aller Branchen lag der Krankenstand in Hamburg 2020 bei 4,4 Prozent. Das heißt: An einem Arbeitstag waren von 1000 Beschäftigten 44 krank. Bei den Zustellern waren es 9,1 Prozent – doppelt so hoch. Sie fehlten im Mittel 33 Tage krankheitsbedingt.

Wie die Paketboten litten auch die Beschäftigten in der Altenpflege sowie in der Kinderbetreuung besonders. Krankenstände von 7,9 und 7,3 Prozent waren die Folge. Und bei einem Ausfall von Betreuern sind wiederum berufstätige Eltern und Angehörige gefordert. Auch hier wuchs die Belastung. Jeder dritte Fehltag bei Erziehern war auf eine seelische Erkrankung wie Depression oder Burn-out zurückzuführen. Barmer-Landeschefin Klein sagte: „Hier ist ebenfalls hoher psychischer Druck erkennbar. Die Arbeit mit Kindern ist fordernd und mit hoher Verantwortung verbunden. In der Pandemie dürften die Belastungen weiter gestiegen sein, wenn es um die Umsetzung von Hygienekonzepten in den Einrichtungen oder das Aufrechterhalten von Notbetreuungen geht.“ Der zweithäufigste Grund für eine Krankschreibung in der Kinderbetreuung seien Erkältungen und andere Atemwegserkrankungen gewesen.

Krankheitstage wegen Corona bei Erziehern ungewöhnlich hoch

Was die Fehltage wegen einer Corona-Infektion betrifft, so ist es kaum verwunderlich, dass an der Spitze Kranken- und Altenpflege stehen. Sie haben und hatten das größte Infektionsrisiko. Doch dahinter schon folgen Friseure und Paketboten. Bei den Zustellern ist es vermutlich weniger der enge Kontakt mit Kunden als die Tatsache, dass sie aufgrund der Beschäftigung im Niedriglohnbereich eher mit mehreren Personen in kleinen Wohnungen wohnen und in Quartieren mit höheren Inzidenzen leben. Zudem können sie die Zahl ihrer beruflichen Kontakte insgesamt nicht so reduzieren wie vermutlich gewünscht.

Auch in der Kinderbetreuung war die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen einer Covid-Erkrankung überdurchschnittlich hoch. Die niedrigsten Fehl­tage wegen einer Corona-Erkrankung hatten Bürokräfte, Mitarbeiter im Dialogmarketing sowie Hochschul- und Forschungspersonal. Hier war im Jahr 2020 auch der schnellste Umstieg auf Homeoffice zu beobachten.

Lockdown und Kontaktbeschränkungen senken Zahl der Erkältungen

Krankenstand und Fehltage (16,2 zu 18,0) pro Beschäftigten waren auch 2020 in Hamburg niedriger als im Bundesmittel. Mehr noch: Nur die Beschäftigten in Baden-Württemberg waren seltener krank. Für den generellen Rückgang der Krankschreibungen macht die Barmer drei Gründe verantwortlich: Lockdown und Kontaktbeschränkungen senken die Zahl der Erkältungskrankheiten und ihrer möglichen Folgen. Kurzarbeit reduziert die „Anlässe“ für den „gelben Schein“. Und drittens haben Beschäftigte eine geringere Neigung, sich aus dem Homeoffice krankzumelden.

Doch was zu Fehlzeiten in Hamburgs Wirtschaft führt, muss den Verantwortlichen in den Ohren klingeln: Es sind mit deutlichem Abstand psychische Leiden und Verhaltensstörungen (26,5 Prozent aller Ursachen). Und dieser Trend hat sich im vergangenen Jahr weiter verschärft, während es im Bundesmittel nur 20,5 Prozent sind. Erst mit Abstand sind in Hamburg Muskel-Knochen-Erkrankungen (18,3 Prozent) und Atemwegsmalaisen (12,7) die weiteren Gründe für Krankschreibungen.

Psychische Erkrankung häufiger Grund für Frühverrentung

Dass sich psychische Leiden nicht schnell und keineswegs immer erfolgreich therapieren lassen, ist die traurigste Erkenntnis der vergangenen Jahre. Die Techniker Krankenkasse bestätigte, dass die Hamburger am längsten wegen Erkrankungen der Seele krankgeschrieben seien. Im vergangenen Jahr habe das um weitere vier Prozent zugenommen, sagte TK-Landeschefin Maren Putt­farcken. Die DAK spricht für Hamburg von einem „Rekordhoch“.

Das schlägt sich auch in den Zahlen für die Erwerbsminderungsrente durch – der erzwungene verfrühte Ruhestand. Die Deutsche Rentenversicherung weist hier bundesweit für 2020 für die psychischen Erkrankungen einen Anteil von 41,5 Prozent an den Gründen für eine Frühverrentung aus. Deutliche Unterschiede gibt es zwischen Männern (34,8 Prozent) und Frauen (47,8). Danach folgen Neubildungen (Krebstumoren) und Krankheiten an Muskeln oder Knochen.

Heike Peper, Präsidentin der Hamburger Psychotherapeutenkammer, sagte dem Abendblatt: „Wir sehen diesen Trend schon länger. Bei der Frühverrentung sind die Zahlen bei den psychisch Erkrankten schon vor zehn Jahren deutlich gestiegen und bleiben seitdem auf einem hohen Niveau.“

Terminservice-Gesetz hat die Lage der psychisch Kranken nicht verbessert

Seit Langem streiten Experten und die Politik darüber, wie man Therapie­bedürftige schneller zu einem Termin bringt. Auch das sogenannte Terminservice-Gesetz hat die Lage der psychisch Kranken nicht verbessert. Sie haben zwar theoretisch eine schnellere Chance auf eine erste Sprechstunde bei einem Psychotherapeuten.

Doch ob der überhaupt der Richtige für das spezielle Leiden ist und Patientenkapazitäten hat, ist ungewiss. „Die Misere bei der Terminvergabe für Patienten hält an. Wegen der strikten Bedarfsplanung erhalten Psychotherapeuten keine zusätzlichen Kassensitze“, so Peper. Barmer-Landes­chefin Klein sieht für Beschäftigte als Vorbeugung von Erkrankungen vor allem eine besser Work-Life-Balance und ein „gesundheitsorientiertes“ Führen durch die Verantwortlichen. Außerdem müsse der Arbeitskräftemangel in den notorischen Bereichen bekämpft werden – vor allem in der Betreuung und Pflege.