Hamburg. Ein gutes! Wäre da nicht der tägliche Kampf gegen die Bürokratie. Zeit, dass sich das ändert. Ein Essay von Iris Mydlach.

Was ist das für ein Leben mit einem behinderten Kind?

Ein gutes.

Darüber waren wir uns alle einig, wenn wir abends bei einem Warmgetränk im Aufenthaltsraum der Reha-Klinik zusammensaßen und über die Ereignisse des Tages sprachen, über die winzigen Fortschritte und Erfolge, die unsere Kinder während ihrer Therapien gemacht hatten. Tim, mein Sohn, damals vier Jahre alt, war gerade an der Hüfte operiert worden und hatte nach dem Eingriff sechs Wochen liegend in einer Art Schale aus Schaumstoff verbracht. Die Reha, zu der wir gemeinsam fuhren, sollte ihn wieder auf die Beine bringen.

Alle hatten eine Geschichte zu erzählen. Es gab Kinder, die vor die Tram gelaufen waren und gefühlte Ewigkeiten in der Klinik wohnten, weil es vom künstlichen Koma bis zum ersten Schritt halt Jahre dauert. Es gab Kinder, die morgens ihren Fahrradhelm nicht gefunden hatten und nun am Rollator gingen, die einen Schlaganfall erlitten oder einfach beim Spielen gestürzt waren.

Stephan ist gehörlos: "Wie haben die Kinder geschlafen?" – "Ich hab nix gehört"

Es gab die verschiedensten Behinderungen, Kinder mit Downsyndrom, Epilepsie, schwersten Hirnschäden nach einer Meningitis-Infektion. Und doch, so verschieden die Kinder und ihre Einschränkungen auch waren, so sehr war ihnen eine Eigenschaft gleich: Sie hatten sich unbeirrt aufgemacht auf einen Weg, von dem sie selbst nicht wussten, wohin er sie irgendwann führen würde, der sie so viel Kraft kostete, dass sie abends nicht einmal ihr Besteck halten konnten. Aber den sie für sich angenommen hatten, mit einer umwerfenden Mischung aus „Ich kann’s ja eh nicht ändern“ und „Was gibt’s zum Abendbrot?“.

Wobei nicht nur die Kinder großartig waren. Die Eltern waren es auch. Wie gern erzähle ich die Geschichte von Stephan, gehörlos, Thermomix-Vertreter, Borussia-Dortmund-Fan, alleinerziehend mit zwei schwerstbehinderten Kindern, von denen er eines dabeihatte und das andere bei einer Nachbarin untergebracht hatte. Eines Morgens fragte ich ihn, wie sein Sohn geschlafen habe, er las die Frage von meinen Lippen, schaute mich erst ratlos, dann grinsend an, zeigte auf seine Ohren und sagte: „Gut! Also, ich hab‘ nichts gehört.“

Was haben wir gelacht in unserer gemeinsamen Reha-Zeit. Gelacht und manchmal geweint vor Rührung, aber niemals vor Wut. Weil es nämlich wirklich so ist wie auf diesen Kitschi-Kitsch-Kalenderblattsprüchen, die es gesammelt für 4,50 Euro am Bahnhofskiosk zu kaufen gibt: dass das Leben mit einem behinderten Kind eine unglaubliche Bereicherung ist und ein großes Glück, ein Abenteuer, auf das man selbst am Anfang überhaupt keine Lust hatte, aber dann langsam auf den Geschmack kommt.

Die wichtigste Ressource überhaupt: Zeit

Es könnte sich also tatsächlich ab und zu großartig anfühlen – wenn, ja wenn man viel zu oft damit beschäftigt wäre, die vielen Gängeleien der Behörden und Krankenkassen abzuwehren. Die einem Tag für Tag die wichtigste Ressource klauen, über die man verfügt: Zeit.

Als Mutter oder Vater eines behinderten Kindes lernt man schnell, dass die eigenen Kräfte endlich sind. Sechs Wochen hatten wir nach der Geburt auf der Intensivstation verbracht, und schon dort sagten die Schwestern, wenn wir uns abends nicht von unseren Kindern im Brutkästchen trennen konnten: Gehen Sie. Gehen Sie schlafen, ruhen Sie sich aus. Wenn Ihr Kind nach Hause kommt, müssen Sie funktionieren.

255 Euro für ein Fahrrad, das am Ende nicht mal uns gehört

Wie recht sie hatten. Alle ein bis drei Stunden klingelte der Handyalarm, weil Tim Calcium, Eisen, Phosphat oder sonst irgendwas brauchte. Es dauerte Monate, bis seine Schilddrüse nachgereift war und ich nachts nicht mehr als Krankenschwester durch die Wohnung geistern musste. Ich funktionierte. Wir funktionierten. Und tun das bis heute, weshalb ich mich entschlossen habe, diesen Text zu schreiben Weil ich finde, dass es nicht angehen kann, dass genau das einfach einkalkuliert wird: dass sich schon irgendwer kümmern wird um die Belange behinderter Kinder, ihr Recht auf Teilhabe und Gleichberechtigung. In den allermeisten Fällen sind das nämlich wir: die Eltern.

Wofür wir oft bewundert werden, das gehört natürlich dazu. Aber ehrlich gesagt möchte ich das gar nicht so gerne. Denn bewundert zu werden ist zwar toll, aber es bringt einem weder die verlorene Zeit zurück noch das fehlende Geld. Was ich viel eher möchte sind Gesetze, die uns vor der Willkür der Krankenkassen schützen und unseren Kindern das Recht auf Teilhabe nicht nur zusprechen, sondern die Umsetzung dieses Rechts auch einfordern. Denn was sonst passiert, erleben wir als Betroffene jeden Tag: wie ein von staatlicher Seite geduldetes System unsere Kinder ausgrenzt und diskriminiert und uns Eltern schikaniert. Es ist ein System, von dem ich nie für möglich gehalten habe, dass es existiert. Aber es existiert. Es raubt uns unnötig Kraft und Zeit, es lässt uns manchmal verzweifeln.

Alle zwei Wochen ein neues Rezept

Warum benötigt ein Kind, das wegen seiner schweren Spastik sein Leben lang Physiotherapie brauchen wird, alle zwei Wochen ein neues Rezept dafür? Auf dem dann doch wieder nicht die richtigen Angaben stehen, weil auch die Arzthelferinnen inzwischen nicht mehr wissen, was auf die Verordnung gehört, damit die Praxis damit vernünftig arbeiten kann.

Warum müssen wir 255 Euro für ein Therapiefahrrad zahlen, das uns am Ende nicht einmal gehört, sondern in den Besitz der Krankenkasse zurückgeht? Wer entscheidet, dass zwei Windeln am Tag reichen, um ein Kind zu wickeln, das auch mit fünf noch nicht auf die Toilette gehen kann? Und warum ist es eigentlich so schwer, an Informationen zu kommen, die uns Eltern das Leben endlich leichter machen könnten?

Es war einer dieser Abende in der Reha-Klinik. Tims Aufenthalt war gerade um ein paar Wochen verlängert worden, auf Anraten der Ärzte, die Krankenkasse hatte bewilligt. „Aber denk dran, Iris, dass du am 28. Tag der Reha einen Tag Urlaub nehmen musst.“ Ich verstand nicht, was das bedeutete und sah wohl auch genauso aus, denn die Mutter schob gleich hinterher: „Na, sonst fällst du doch aus der Krankenversicherung.“ Klar, dachte ich und nickte beflissen, als alle anderen weiter auf mich einredeten. „Musst du dran denken, haben andere nicht“, sagte eine andere Mutter. „Die hatten dann auf der Rückfahrt von der Reha oder später einen Unfall und waren nicht versichert.“

Sinnloser Urlaubsantrag?

Direkt am nächsten Morgen saß ich in der Sprechstunde des Sozialdienstes der Klinik und erfuhr: Die Aussage stimmt. Man riet mir dringend, den Urlaubstag sofort zu beantragen. „Aber warum?“, fragte ich. Die Antwort: „Weil es leider so ist.“ Bis heute jagt mir dieser Moment Schauer über den Rücken. Aber es kann doch nicht sein, war der Satz, den ich immerfort dachte. Dass mir niemand Bescheid gegeben hat.

Es war ein Zufall, dass ich davon erfahren hatte, es war ein Glück, die Abendblatt-Personalabteilung auf meiner Seite zu wissen. Zwar gab es zunächst verwunderte Rückfragen, warum ich ausgerechnet jetzt einen Tag Urlaub brauchte, wo ich doch mit meinem Sohn in einer Reha-Klinik war. Aber als ich den Grund dafür nannte, war der Tag Urlaub kein Problem. Glück gehabt. Und trotzdem lauert in mir seitdem der Zweifel. Wo könnte eine Falle lauern, habe ich wirklich alles bedacht – das sind Fragen, die ich mir immer häufiger stelle. Weil es auch wirklich immer wieder Dinge gibt, die man nicht für möglich gehalten hätte. Zumindest nicht in diesem Land.

Tim muss die Bewegungsmuster hartnäckig trainieren

Tim zum Beispiel braucht eine Gehhilfe, um sich von A nach B bewegen zu können. In seinen Beinen ist die Spannung zu groß, als dass er sie beugen könnte, in seinem Oberkörper dagegen zu gering, um sich längere Zeit aufrecht zu halten. Obwohl Tims Kopf sehr wohl verstanden hat, wie Gehen funktioniert, weigert sich sein Körper, den Befehlen zu folgen. Also muss er diese Bewegungsmuster hartnäckig trainieren.

Und das tut er. Tag für Tag, unter Anleitung seiner Ärztinnen und Physiotherapeuten und mit verschiedenen Hilfsmitteln, von denen wir über die Hälfte entweder selbst finanziert oder von Stiftungen gespendet bekommen haben. Warum? Weil unsere Versicherung sich weigert, sie zu bezahlen. Ja, auch das mussten wir lernen: Selbst wenn ein Arzt ein Hilfsmittel für absolut notwendig erachtet und es verordnet, heißt das noch lange nicht, dass ein Kind dieses Hilfsmittel auch bekommt.

Warum? Dann ist er halt das Pferd, das im Rollstuhl sitzt

Die Versicherung kann die Verordnung ablehnen und dafür mehrere Gründe anführen. Der therapeutische Nutzen sei nicht erwiesen, ist so ein Grund. Wobei genau dieses Gerät in jeder Reha-Klinik zum Einsatz kommt, weil es das einzige ist, das Kinder mit schwerer Spastik einigermaßen auf die Beine bringt.

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Der Ablehnung der Krankenkasse darf man widersprechen. Woraufhin sich meist der Medizinische Dienst der Krankenkassen einschaltet und in einem mehrseitigen Gutachten entscheidet, ob das Hilfsmittel denn nun wirklich für den Patienten geeignet ist oder nicht. 2481 Ärztinnen und Ärzte waren 2019 mit solchen Gutachten befasst, manchmal – wie in unserem Fall – übernimmt den Job auch einfach mal ein Orthopädietechniker.

Gutachten aus der Ferne

Jedes Mal wundern wir uns: Keiner dieser Ärzte oder Orthopädietechnikerinnen hat Tim je gesehen, geschweige denn untersucht. Diese Menschen gutachten aus der Ferne und stellen dabei Behauptungen auf, die manchmal schlichtweg nicht stimmen und als Begründung dafür herhalten sollen, warum ein bestimmtes Hilfsmittel für Tim nicht geeignet ist. Einfach weil sie es können. Weil es ein System gibt, das ihnen das ermöglicht.

Es ist ein Spiel auf Zeit, das bewusst von den Kassen gespielt wird. Denn selbst wenn der Fall vor dem Sozialgericht landet und die Versicherung das Hilfsmittel zahlen muss, so kommt dieses Urteil meistens zu spät. Der kurze Moment, in dem das Kind davon maximal profitiert hätte, ist dann nämlich oft schon vorbei. Dafür hat man Stunden umsonst am Schreibtisch verbracht. Was umso bitterer ist, weil man diese Zeit an anderer Stelle dringend benötigt.

Inklusion kommt, wenn man sich kümmert

Zum Beispiel für die Inklusion. Wenn ich Menschen, die sich für Tims Leben interessieren, von seiner Kindheit in Finkenwerder erzähle, dann beginne ich meist mit der bitten Wahrheit: Für Tim klingelt eigentlich niemand. Er ist wie ein unsichtbares Kind, das inzwischen am liebsten drinnen spielt, mit seiner Eisenbahn, dem Bauernhof und den Autos. Es braucht viel Überredungskunst und den unerschütterlichen Gerechtigkeitssein seiner Schwester, daran etwas zu ändern. Aber Tim kann nicht mit Pferd spielen, er kann doch nicht laufen, sagte eines der Kinder neulich, und mich überkam die blanke Wut. Es war meine Tochter, die völlig ruhig die richtigen Worte fand: „Warum, dann ist er halt das Pferd, das im Rollstuhl sitzt.“

Inklusion, das habe ich inzwischen gelernt, kommt erst dann, wenn man sich kümmert. So wie die großartigen Erzieher und Erzieherinnen in Tims Kita, die es mit einem unglaublichen Engagement schaffen, die Kinder ihre Einschränkungen vergessen zu lassen. Was mir neulich erst bewusst wurde, als Tim mit seiner Kita-Freundin nach Hause durfte und ich plötzlich eine erstaunte Nachricht der Mutter bekam: „Tim sitzt ja im Rollstuhl. Hatte mir Emmi gar nicht erzählt!“

Spätestens seit diesem Moment weiß ich, wo wir hinmüssen. Nicht nur mit Tim, sondern mit der ganzen Gesellschaft. Dafür sind wir gezwungen, uns zu kümmern. Nicht nur die Eltern oder die Kinder selbst. Sondern wir alle. Weil es nicht sein kann, dass es vom Engagement Einzelner abhängt, ob ein Kind die maximale Förderung bekommt, die ihm gesetzlich zusteht. „Es kann doch nicht sein“: Dafür braucht es ein Bewusstsein, einen Konsens und ein Bekenntnis. Es braucht Menschen wie Sie, die diesen Artikel tatsächlich bis zum Ende gelesen haben. Danke.