Hamburg. Weil zwei ihrer Kinder zur Hochrisikogruppe gehören, ist eine Hamburger Mutter seit mehr als einem Jahr zu Hause.

Die Mauer, sagt Natascha Dawinsky, sei noch nicht lange draußen, vor ein paar Wochen erst habe sie den Rappel gekriegt. Weil sie mal wieder in der Küche stand und am Kochen war und nebenan das Theater losging. An den Stimmen kann man es ja hören und abschätzen, wie viele Minuten noch bleiben, bevor es eskaliert. „Da habe ich mir gedacht: Diese Mauer muss raus.“ Gesagt, getan. Sechs Tage hat die ganze Aktion gedauert, an der Sollbruchstelle klafft jetzt rohes Gemäuer, umgeben von Tapeten in Pastellfarben und Fotos in bunten Bilderrahmen.

Natascha Dawinksy ist keine Frau, die die Dinge auf die lange Bank schiebt. Ihre Stimme ist laut und klar, wenn sie über ihre Situation spricht, ganz oft bringt sie komplexe Sachverhalte mit einfachen Worten auf den Punkt. Vielleicht, weil sie schon immer so war, vielleicht aber auch, weil es ihre aktuelle Situation so erfordert. Natascha Dawinsky ist seit Ende Februar 2020 mit ihren vier Kindern im Lockdown. Ohne Pause, ohne Entlastung, ohne einen einzigen echten Moment für sich selbst. Im Grunde ist das unvorstellbar.

Junge hatte Vorerkrankungen

Natascha Dawinsky legt ihre Unterarme auf die Tischplatte und dreht die Handflächen Richtung Decke. „Wie oft habe ich im letzten Jahr darüber nachgedacht, die Kinder wieder dahin zu geben, wo sie eigentlich hingehören“, sagt sie und schaut kurz hinüber zu ihrer fünfjährigen Tochter. „Also, die Jungs zurück in die Schule, Finja zurück in die Kita.“ Aber als sie kürzlich vom Tod eines Jungen aus der Kitagruppe ihrer Tochter erfuhr, wusste sie wieder: Ich habe alles richtig gemacht. Der Junge hatte Vorerkrankungen gehabt und sich dann mit dem Coronavirus infiziert. „Innerlich habe ich drei Kreuze gemacht.“

Nataschas Jungs, das sind Pierre-Luca, 14 Jahre alt, und die Zwillinge Pascal und Philipp, elf Jahre alt. Vier Kinder, jede Menge Sorgen, möchte man denken. Bei Natascha Dawinsky kommen allerdings noch ein paar hinzu. Zwei der vier Kinder haben das Leopard-Syndrom, einen schweren Herzfehler, der mit Symptomen wie Kleinwüchsigkeit, geistigen Einschränkungen und Asthma einhergeht.

Finja hat im Sommer 2017 epileptische Anfälle bekommen

Finja und Pascal haben diesen Defekt, sie zählen zur Hochrisikogruppe. Alle vier Kinder haben einen Pflegegrad. Finja hat im Sommer 2017 epileptische Anfälle bekommen – zusätzlich zu ihrer Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Pierre-Luca, der Älteste, leidet unter ADHS.

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Natascha Dawinsky ist 37 Jahre alt, gelernte Bäckereifachverkäuferin und hat im vergangenen Jahr eine Weiterbildung zur Fahrlehrerin gemacht. Dann wurde sie arbeitslos, wie so viele Menschen im Jahr 2020, und natürlich hat Natascha Dawinsky im echten Leben einen anderen Namen, das ist der eine Teil dieser Geschichte.

Kräfte gehen langsam zur Neige

Der andere (und weitaus wichtigere) Teil erzählt von der schier grenzenlosen Kraft und Opferbereitschaft einer Mutter, die es auch ohne Pandemie und Lockdown nicht leicht gehabt hätte. Und die nun, seit über einem Jahr, ein Tagespensum zu bewältigen hat, von dem man sich fragt, wie sie das nur schafft: diesen täglichen Wahnsinn aus Homeschooling, Kinderbetreuung, Haushaltschmeißen und Arztbesuchen.

Die aktuellen Corona-Fallzahlen aus ganz Norddeutschland:

  • Hamburg: 2311 neue Corona-Fälle (gesamt seit Pandemie-Beginn: 430.228), 465 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (davon auf Intensivstationen: 44), 2373 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1435,3 (Stand: Sonntag).
  • Schleswig-Holstein: 1362 Corona-Fälle (477.682), 623 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 39). 2263 Todesfälle (+5). Sieben-Tage-Wert: 1453,0; Hospitalisierungsinzidenz: 7,32 (Stand: Sonntag).
  • Niedersachsen: 12.208 neue Corona-Fälle (1.594.135), 168 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen, 7952 Todesfälle (+2). Sieben-Tage-Wert: 1977,6; Hospitalisierungsinzidenz: 16,3 (Stand: Sonntag).
  • Mecklenburg-Vorpommern: 700 neue Corona-Fälle (381.843), 768 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 76), 1957 Todesfälle (+2), Sieben-Tage-Wert: 2366,5; Hospitalisierungsinzidenz: 11,9 (Stand: Sonntag).
  • Bremen: 1107 neue Corona-Fälle (145.481), 172 Covid-19-Patienten in Krankenhäusern (Intensiv: 14), 704 Todesfälle (+0). Sieben-Tage-Wert Stadt Bremen: 1422,6; Bremerhaven: 2146,1; Hospitalisierungsinzidenz (wegen Corona) Bremen: 3,88; Bremerhaven: 7,04 (Stand: Sonntag; Bremen gibt die Inzidenzen getrennt nach beiden Städten an).

Natascha Dawinsky gibt zu, dass ihre Kräfte langsam zur Neige gehen. Jeden Morgen um 6 Uhr klingelt bei ihr der Wecker, dann steht sie auf, geht mit dem Hund. Auf dem Heimweg holt sie Brötchen, macht Frühstück für die Kinder. Dann geht der Heimunterricht los. „Ich habe vor den Ferien ein Gespräch mit dem Klassenlehrer der Zwillinge geführt, ich habe ihm gesagt, dass ich nicht mehr leisten kann, was da tagtäglich von mir gefordert wird“, erzählt sie.

Hohes Pensum

Auf dem Tisch liegt ein DIN-A4-Umschlag, sie öffnet ihn und zieht ein laminiertes Stück Pappe heraus, „Arbeitsplan für zu Hause“ steht darauf. Mit kleinen Klett-Quadraten sollen die Kinder markieren, wie weit sie mit den jeweiligen Aufgaben sind, ob sie sich dabei konzen­trieren konnten. „Das haben die mir geschickt“, sagt Natascha Dawinsky und sieht ratlos aus. „Ganz im Ernst: Was sollen die Kinder damit anfangen?“

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Die 37-Jährige führt inzwischen viele Gespräche, nicht immer gelingt es ihr, dabei freundlich zu bleiben. Weil sie arbeitssuchend ist, bekommt sie immer wieder die Aufforderung der Agentur für Arbeit, sich auf offene Stellen zu bewerben. „Ich schildere dann meine Situation ganz offen und frage: Wann soll ich bei diesem Pensum noch Zeit finden zu arbeiten oder auch nur eine Bewerbung zusammenzustellen? Ich bin froh, wenn ich alle zwei Tage zum Duschen komme.“

Sorgen um ihre Kinder

Seit einem Jahr geht das jetzt schon so. Es war der Kinderarzt der Familie, der sich vor gut einem Jahr proaktiv mit der Mutter in Verbindung gesetzt hatte, um sie über das hohe Risiko zu informieren, das von dem neuartigen Virus ausgehe. Natascha Dawinksy erinnert sich noch gut an das Telefonat. „Der Arzt sagte zu mir: Wenn man nur von Philip und Pierre-Luca redet, wäre die Sache klar: Sie haben Asthma, können aber trotzdem zur Schule. Wenn man aber den Fokus auf Pascal und Finja legt, was wir ja müssen, dann sagte er ganz klar zu mir: Dann geht gar keiner irgendwo hin.“

In diesem Moment kommt Pierre-Luca in die Küche, ein schmaler Junge mit strubbeligem Haar, der nicht lange braucht, um sich den Teller randvoll mit Süßigkeiten, Kuchen und kalten Nudeln zu schaufeln. Um alle ihre Kinder mache sie sich derzeit Sorgen, sagt Natascha Dawinksy, als er wieder in seinem Zimmer verschwunden ist. Aber am allermeisten um ihn, den Ältesten.

Homeschooling auf Rädern

„Weil er ja eigentlich das größte Opfer von allen bringt“, sagt sie. „Er hat seit über einem Jahr seine Freunde nicht mehr gesehen, hat überhaupt keinen Freiraum. Er nimmt ständig Rücksicht. Das ist schon hart.“ Die 8. Klasse wird er auf jeden Fall wiederholen, auch Finja wird voraussichtlich ein Jahr später eingeschult.

Schon wieder Schule: Pierre-Luca und
seine Mutter im Heimunterricht.
Schon wieder Schule: Pierre-Luca und seine Mutter im Heimunterricht. © Roland Magunia

Um sich selbst und den Kindern die Situation so erträglich wie möglich zu gestalten, ist Natascha Dawinsky im vergangenen Juni mit dem Wohnmobil aufgebrochen, das Ziel: drei Monate durch Deutschland, Homeschooling auf Rädern. An Bord ein Laptop, ein Drucker und jede Menge Schulmaterial. Bis zum Bodensee sind sie gefahren, „das war die beste Zeit“, sagt Natascha Dawinksy und lächelt still vor sich hin. „Wir haben so viel gesehen, so viel erlebt. Das hat wirklich Spaß gemacht.“

Ein Ende des Lockdowns ist bislang nicht in Sicht

Seit Oktober pendelt sie nun zwischen Hamburg und Boltenhagen, an der Ostsee hat die Familie ein kleines Häuschen auf einem Campingplatz. Dort habe nicht nur sie ihre Ruhe, sagt Natascha Dawinsky, sondern auch ihr Mann, der Nachtschichten arbeite und sich tagsüber ausruhen müsse. In Hamburg sei es die Regel, dass ständig Kinder aus der Nachbarschaft an der Tür klingeln. „Als würde es Corona nicht geben“, sagt sie und schüttelt den Kopf.

Als es im Winter hieß, dass es einen Impfstoff gebe, aber leider keinen für Kinder, sei sie in ein tiefes Loch gefallen, sagt die junge Frau. Da habe sie lange geweint und gedacht, dass sie es womöglich doch nicht mehr schafft. Auf die Frage, wie es ihr geht, antwortet sie kurz und knapp: „Beschissen.“

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Wenn sie, wie in den vergangenen Tagen, die Beratungen über alle möglichen Lockerungen verfolgt, interessiert sie das zwar. Aber ein Ende ihres eigenen Lockdowns ist nach wie vor nicht in Sicht. „Für uns wird entscheidend sein, wann es einen Impfstoff für Kinder unter 14 gibt“, sagt sie. Bis Sommer wird also alles so weitergehen. Mindestens.

Anfang dieser Woche erfuhr Natascha Dawinsky, dass sich der Zustand von Pascals Herz verschlechtert hat. Ihre Stimme klingt dünn, als sie davon in einer Sprachnachricht erzählt. Es ist schwer nachzuvollziehen, schwer zu ertragen. Und die Frage am Ende bleibt: Wie lang kann die Kraft eines einzigen Menschen in dieser Pandemie reichen?