Hamburg. Wollen wir Kinder auf Abweichungen von der Norm scannen und aussortieren? Ein Plädoyer der Autorin und Illustratorin Birte Müller.

Wir haben ein geistig behindertes Kind – Willi, er ist elf Jahre alt. Nach seiner Geburt war Willi lange Zeit schwer krank. Das war die furchtbarste Zeit meines Lebens. Willi wurde mit einer Chromosomenbesonderheit geboren – nämlich Trisomie 21. Besser bekannt als Down-Syndrom. Als wir mit Willi das Krankenhaus verließen, trafen wir immer wieder auf Menschen, die auf das Down-Syndrom mit den Worten „Muss das heute noch sein?“ oder „Habt ihr das denn nicht testen lassen?“ reagierten.

Und wenn ich erzählte, dass wir das nicht getestet hatten, weil wir ohnehin nicht vorhatten, unser Kind abzutreiben, da waren die meisten überrascht. Sie hatten gar nicht so weit gedacht: Der Gentest verhindert nicht, dass ein Kind mit Down-Syndrom geboren wird – die Eltern müssen es dann abtreiben lassen.

Als ich mit Willi schwanger war, musste für so einen Test noch mit einer Nadel durch die Bauchdecke gestochen werden, um Zellen aus der Gebärmutter zu entnehmen. Oft habe ich seit Willis Geburt von Freundinnen gehört, dass sie diese Untersuchung gemacht haben. Wenn ich sie frage, ob sie abgetrieben hätten, sind sie ratlos: Sie wollten eigentlich nur wissen, dass alles okay ist. Ich persönlich finde behinderte Menschen übrigens voll okay!

Unser Sohn Willi kann mit dem Wort behindert sicherlich nichts anfangen. Ob er spürt, dass er anders ist? Es ist schwer zu sagen. Er scheint ganz im Reinen mit sich zu sein. Seit Willis kleine Schwester Olivia in die Schule gekommen ist, wünschte ich für sie, sie könnte sich auch so frei von äußeren Zwängen entwickeln wie ihr Bruder. Auch Olivia haben wir vor ihrer Geburt nicht getestet – obwohl ich damals nicht wusste, wie wir es hätten schaffen sollen, mit zwei intensivpflegebedürftigen Kindern. Aber immerhin wusste ich, dass es ohnehin keine Garantie auf ein gesundes, unbehindertes Kind gibt.

Eltern stehen vor einer unfassbaren Aufgabe

Mittlerweile kann man aus dem Blut der Schwangeren schon vor der zwölften Woche ablesen, ob das Baby ein Down-Syndrom haben wird. Noch ist der Test kostenpflichtig. Ein Freund erzählte mir, der Arzt habe diesen angepriesen mit den Worten: „Da kann man noch eine ganz normale Ausschabung machen.“ Man muss diesem Arzt wohl anrechnen, dass er im Gegensatz zu anderen wenigstens die Konsequenz des Tests anspricht. Aber was ist das für ein grauenhafter Automatismus?

Kann man da noch von einer freien Entscheidung der Eltern sprechen? Was, wenn dieser sogenannte Praena-Test, der zurzeit in Prüfung ist, zur Kassenleistung wird? Dann gehört er zur allgemeinen Vorsorge, welche die meisten werdenden Eltern unreflektiert in Anspruch nehmen. Welche entsetzliche Folge es hat, wenn vielleicht nicht „alles okay“ ist, darüber spricht man nicht. Die Eltern werden allein vor die unfassbare Aufgabe gestellt, zu entscheiden, ob ihr Kind leben oder sterben soll. Sie werden große Angst haben, dass sie ihr Kind nicht lieben können und dass es von der Gesellschaft nicht gewollt ist. Denn schon die Tatsache, dass es den Test überhaupt gibt, zeigt doch, welchen Wert dieses Leben für uns hat!

Ich persönlich bin vehement gegen den Praena-Test in der Standardvorsorge. Eine Kassenleistung muss einen therapeutischen Nutzen haben. Hier geht es aber nicht um die Therapie von Babys mit Trisomie 21, sondern lediglich um ihre Selektion und ihre Tötung. Das spricht niemand aus. Zu sehr rückt es einen in die Ecke radikaler Abtreibungsgegner, mit denen auch ich nichts zu tun haben möchte. Aber hier geht es überhaupt nicht um die Abbrüche von ungewollten Schwangerschaften. Es geht um Wunschkinder, die dann doch nicht den Wünschen der Eltern – oder der Gesellschaftsnorm – entsprechen. Ich weiß doch, wie anstrengend das Leben sein kann mit einem kleinen Plagegeist wie Willi, aber dass es nicht lebenswert sei? Das ist für mich eine vollkommen lächerliche Vorstellung.

Praena-Test ist nur der Anfang

In letzter Zeit bekomme ich manchmal gesagt: „Ihr macht das alles so toll, ich hätte das nicht gekonnt.“ Dann erfahre ich ungefragt, dass meine Gesprächspartner vor Kurzem den Praena-Test gemacht haben – zum Glück war nichts. Man nickt, man lächelt viel und ist unbedingt für Inklusion. Ich glaube man erwartet von mir, dass ich ihnen die Absolution erteile. Aber ich kann das nicht tun. Jeder kann das schaffen, da bin ich sicher. Wenn Willi seine Wange an meine drückt und mir mit seinen Lauten und Gesten sagt, dass er mich, Papa, Olivia und den Opa lieb hat – kann es nichts Schöneres im Leben geben. Das muss doch auch jemand den Eltern sagen, denen man solch einen Test anbietet. Und man muss ihnen sagen, welche psychischen Folgen es haben kann, wenn man sich gegen sein Kind entscheidet.

Familienglück: Birte Müller und ihr Mann Matthias Wittkuhn mit den Kindern Olivia und Willi.
Familienglück: Birte Müller und ihr Mann Matthias Wittkuhn mit den Kindern Olivia und Willi. © Matthias Wittkuhn

Wir alle tragen die Verantwortung für eine Gesellschaft, in der unsere Kinder nicht nur funktionieren müssen. Der Praena-Test ist nur der Anfang! Wir müssen darüber nachdenken, ob wir wirklich systematisch unsere Kinder auf Abweichungen von der Norm scannen und aussortieren wollen. Haben sie nicht ein Recht auf bedingungslose Liebe? Doch es gibt keine öffentliche Diskussion zu dem Thema Pränataldiagnostik. Jeder soll für sich allein entscheiden. Aber man darf mit so einer Entscheidung nicht allein sein.

Übrigens schauen mein Mann und ich manchmal sehnsüchtig auf andere Kinder mit Down-Syndrom. Fast alle können sprechen und sind viel weiter entwickelt als Willi. Die Schwere seiner Behinderung beruht auf einer Epilepsie, die er als Säugling hatte. Man kann darauf genauso wenig vorher testen wie darauf, ob das Kind einen Autounfall haben wird, Abitur macht oder wie glücklich man mit ihm sein wird.

Auf die Frage: Muss das heute noch sein? kann ich von Herzen antworten: Ja, Willi muss sein. Unbedingt!

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