Die Illustratorin Birte Müller beschreibt in einem Bilderbuch das Leben ihres behinderten Sohnes. In eindrucksvollen Workshops erzählt sie Schülern, wie die besondere Welt ihres Kindes aussieht.
Der Held der Bilderbuch-geschichte kommt von einem anderen Planeten. Er heißt Willi, besteht auf der Erde gefährliche Abenteuer, gewöhnt sich an das harte Leben hier, braucht aber viel Hilfe dabei und ist trotz aller Widrigkeiten oft sehr glücklich. Willi mag andere Menschen und Tiere, die er gerne umarmt und küsst. Er isst am liebsten Nudeln, Wurstbrote und Kekse, trägt Windeln, und seine Zunge schaut ihm fast immer etwas aus dem Mund.
Die Zweitklässler der Altonaer Grundschule Trenknerweg, die Willis Geschichte im Hamburger Kinderbuchhaus im Altonaer Museum hören, sind sehr konzentriert. Und das hat zunächst mit den Entertainer-Qualitäten von Birte Müller zu tun. Sie erzählt von Willi, projiziert dazu ihre Bilder aus dem Buch groß auf eine Leinwand, spielt Geräusche und Musik ein und stellt zwischendurch Fragen – kurz: Ihr Vortrag ist multimedial und interaktiv.
Und er ist sehr persönlich. Birte Müller ist Illustratorin, Autorin und die Mutter von Willi. Es ist seine und auch ihre Geschichte, die sie als ihr „absolutes, besonderes Lieblingsbuch“ angekündigt hat.
Willi wurde im März 2007 geboren. „Ein Sondermodell“, sagt Birte Müller. Oder wie es in ihrem Bilderbuch „Planet Willi“ heißt: ein Außerirdischer. Willi kam mit dem Down-Syndrom zur Welt. Danach, so erzählt seine Mutter den Kindern, sei er so krank geworden, dass er fast wieder in seine Rakete gestiegen und auf seinen Planeten zurückgeflogen wäre, weil er es auf der Erde nicht mehr aushalten konnte. Wegen einer Stimmbandlähmung musste Willi mit zwei Monaten einen Luftröhrenschnitt bekommen und konnte danach nur noch mühsam durch eine Kanüle atmen. „Er hatte zwei Jahre im Hals ein kleines Röhrchen, anders kriegte er keine Luft. Milch bekam er mit Spritzen in den Magen. Ich fand das als Mama ganz schlimm“, erzählt Birte Müller. Als sich sein Zustand nach Monaten in der Klinik verbessert hatte, folgte mit einer Säuglingsepilepsie ein weiterer Schicksalsschlag. „Das war, als würden Blitze in sein Gehirn einschlagen.“
Die ersten Fragen der Kinder kommen ein wenig zögerlich, werden aber rasch mutiger. „Wo ist Willi jetzt?“ – „Wird er wieder gesund?“ – „Ist er vielleicht geistig behindert?“ Birte Müller beantwortet alles. Sie erzählt, dass Willi heute ein gesunder Junge ist, dass er eine besondere Schule besucht und dass er nicht krank ist, sondern behindert.
Willi ist heute sieben Jahre alt. Er hat eine zwei Jahre jüngere Schwester – mit „Normal-Syndrom“, erzählt Birte Müller. Sie hat in der besonders schwierigen ersten Zeit angefangen, auf ihre Weise von ihrem Sohn zu erzählen und bereits im Krankenhaus eine erste, sehr einfache Willi-Geschichte in Bild und Text entworfen. Daraus hat sich langsam „Planet Willi“ entwickelt. Das Bilderbuch erschien 2012. Die Kritiken waren ausnahmslos positiv. Inzwischen ist die dritte Auflage erschienen. 2013 war „Planet Willi“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Besonders schön aber ist es für Birte Müller, auf Lesungen unmittelbar zu erleben, wie Kinder auf ihre Geschichte reagieren. Dem können sich auch andere Erwachsene nicht entziehen. Von einer Release-Party des Buches im Kinderbuchhaus im Altonaer Museum, an der auch viele Kinder mit Down-Syndrom teilnahmen, war die Hamburger Kinderkultur-Mäzenin Milena Ebel so begeistert, dass sie spontan anbot, die Verbreitung des Buches zu unterstützen. Sie stiftete 20.000 Euro, die zahlreiche Willi-Workshops für Grundschulklassen im Kinderbuchhaus möglich machen.
Die sieben und acht Jahre alten Kinder erfahren an diesem Vormittag viel von Willi und „vom nicht mehr ganz normalen Wahnsinn“ des Lebens in seiner Familie. Birte Müller erzählt von Willis Zärtlichkeit und seinem Kuschel- und Kussbedürfnis, das anderen Kindern manchmal ein wenig Angst macht. Davon, dass es sie kaum noch überrascht, wenn sie eine Wurstscheibe im DVD-Player oder Gummi-Enten im Klo findet. Von Willis starkem Willen, der für andere oft anstrengend ist, etwa wenn er sich weigert, in die Richtung zu gehen, in die seine Mutter möchte, oder Sachen durch die Gegend wirft. Für die zuhörenden Kinder klingt das vertraut und überhaupt nicht außerirdisch. Gut finden sie auch, dass Willi keine Bezeichnung für Sachen lernt, die er doof findet. Birte Müller sagt, dass er nicht sprechen kann, aber Laute äußert, die nur seine Familie versteht. Für die Verständigung mit Willi nutzen sie deswegen eine einfache Gebärdensprache. „Handwischen heißt zum Beispiel ‚Butter aufs Brot’“. Spielend lernen die Kinder in der Lesung einige Handzeichen. Birte Müller erzählt, dass Willi langsam lernt, „auf seinem Planeten ist es eben nicht so hektisch wie bei uns“. Und dass er ein schönes, ein ansteckendes Lachen habe. Ihr Fazit: „Willi liebt das Leben. Er ist sehr glücklich und macht andere Menschen glücklich. Wer das nicht glaubt, der kennt ihn einfach nicht.“
Während die Grundschulkinder ihre eigenen Planetenbilder malen, spricht Birte Müller über den Nutzen der Workshops. „Die meisten Menschen haben wenig Berührung mit Behinderten. Kinder laufen mit Fragen herum und merken, dass sie oft nur ausweichende Antworten bekommen. Bei den jungen Schülern aber merke ich, dass Inklusion einen unbefangeneren Umgang mit dem Thema Behinderung bewirken kann.“
Willi hat das Leben seiner Mutter komplett verändert: „Dieses Kind läuft nie nebenbei mit und deshalb erlöst es mich von tausend anderen Sachen, die weniger wichtig sind, und von dem Bemühen, vieles gleichzeitig machen zu wollen. Durch ihn habe ich gelernt, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren und nicht im Morgen zu leben. Wenn Willi lacht, dann lacht er im Hier und Jetzt. Und ich lache mit.“
Die Schulkinder haben inzwischen ihre eigenen Planetenbilder gemalt. Willi ist allgegenwärtig, zum Beispiel als Astronaut, der mit heraushängender Zunge in einer Rakete mit Bonbons in der Umlaufbahn unterwegs ist. Es scheint, als seien die Kinder im Kosmos Willi angekommen.
Die „Planet Willi-Werkstatt“ ist für Kinder ab 5 Jahren geeignet. Bewerben können sich alle Vorschul- und Grundschulklassen, Hortgruppen, Vereine und Selbsthilfegruppen aus dem Hamburger Raum. Anmeldung beim Hamburger Kinderbuchhaus unter Telefon 040-4281351543 oder E-Mail info@kinderbuchhaus.de
Birte Müller, Planet Willi, Klett Kinderbuch, 36 Seiten, 13,90 Euro
Birte Müller, Willis Welt. Der nicht mehr normale Wahnsinn, Verlag Freies Geistesleben, 228 S., 19,90 Euro