Hamburg. Hamburgs langjähriger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi flüchtete im Mai 1945 auf abenteuerliche Weise gen Westen.

Wenn ich heute versuche, mich der Monate und Tage vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu erinnern, fällt mir auf, dass Gefühle von Hoffnung und ungeduldiger Erwartungen in mir aufkeimen. Keine Furcht, kein Schrecken, kein Verzagen, keine Mutlosigkeit. Natürlich war ich voller Sorge um meinen Vater in der Gestapohaft, um meine Mutter und die Geschwister zu Hause. Und doch überwiegt in meiner Erinnerung an diese Monate heute ein lebensdurstiger Optimismus: Jetzt konnte alles beginnen; jetzt lag sie vor uns, die Freiheit!

Das zu verstehen ist einfach: Seit zwölf Jahren unterdrückten uns die Nazis, kein freies Wort außerhalb der engsten Familie. Ich hatte im Frühjahr 1943 die Verhaftung unserer Eltern erlebt. Anfang 1945, als ich zum Reichsarbeitsdienst eingezogen wurde, vermutete ich meinen Vater wieder im berüchtigten Berliner Gestapogefängnis an der Prinz-Albrecht-Straße. Wir, zu Hause in Sacrow bei Potsdam, hatten die alliierten Truppen seit ihrer Landung in Frankreich mit Sehnsucht verfolgt, Krieg und Tyrannei würden bald zu Ende sein: Die schon seit 1939 unabwendbare Niederlage würde ein Freiheitstag werden – für uns alle! Nun war ich seit Anfang 1945 in Karstädt nahe Ludwigslust, an der Bahnstrecke zwischen Berlin und Hamburg.

Unsere eigentlich zivile Arbeitsdiensteinheit hieß seit Januar „Kampfbataillon“. Wir hörten den Kanonendonner im Osten und sollten nun dorthin vorrücken, um die Stadt Nauen vor den Russen zu schützen. Mit ein paar Panzerfäusten, holländischen Beutegewehren, aber deutscher Munition?

Schleppender Zug von KZ-Häftlingen

Einsichtig gab dann aber Feldmeister Herrmann, unser Chef, den lebensrettenden Befehl zur Umkehr nach Nordwesten, Richtung Mecklenburg. Da ich ziemlich sportlich und für meine 16 Jahre auch groß und kräftig war, hatte man mich zum „Vormann“ einer Gruppe von Gleichaltrigen ernannt. Unser Gepäck, mit Waffen und den privaten Klamotten im Tornister, war schwer, sodass ich gelegentlich nicht nur mein Gepäck, sondern auch Ausrüstungen schwächerer Kameraden übernehmen musste.

Auf unserem sehr schnellen Marsch kreuzten wir einmal einen schleppenden Zug von KZ-Häftlingen in ihren blau-weiß gestreiften Kitteln, und ich dachte später mit Beschämung, dass ich einem zwar etwas Brot zustecken konnte, aber keine Hilfe zur Flucht unternahm; das allerdings wäre vermutlich ohnehin für uns beide tödlich ausgegangen. An einigen Bäumen hatte die SS schon „Fahnenflüchtige“ erhängt, einmal auch einen Jungen, vielleicht meines Alters.

Heute noch versuche ich zu verstehen, wie ich damals in diesem Widerspruch existieren konnte: ich mit dem Hakenkreuz auf meiner Armbinde und mein Vater in einem „Hakenkreuz-Gefängnis“? Allerdings waren wir das ja gewohnt: „Heil Hitler“ in der Schule und manchmal auf der Straße, zu Hause das vorsichtige Getuschel, wenn mein Vater seine Gefährten im Widerstand zu Gast hatte oder der Bruder meiner Mutter, Dietrich Bonhoeffer, zum Spaziergang kam und meine Mutter zu unserem Ärger sagte: „Kinder, geht mal vor.“ Mich erstaunt heute auch, dass damals die Gestapo offenbar die Leitung des Reichsarbeitsdienstes in Ludwigslust nicht über die Verhaftung meines Vaters und Dietrich Bonhoeffers informiert hatte. Da wäre die Stasi sicher effektiver gewesen.

Gutsfamilie nahm sie sehr freundlich auf

Am 8. oder 9. Mai fand unser Marsch dann ein abruptes Ende. Irgendwie hatte Feldmeister Herrmann von der deutschen Kapitulation erfahren. Der Krieg war zu Ende und das Nazireich auch. So ließ er uns wie üblich in einem Karree antreten, verkündete das Ende des Krieges und entließ uns mit unseren Papieren und einem dreifachen „Sieg Heil“ auf den Führer – der, wie wir alle wussten, ja längst tot war! – in die Freiheit. Diese begann allerdings erst mal mit kurzer Gefangenschaft bei einer kanadischen Einheit.

Die Kanadier, Soldaten nur wenig älter als wir, schauten auf unsere Papiere, sahen in unsere noch unrasierten Kindergesichter, und als ihnen mein baltischer Kamerad, Nils Otto von Taube, in perfektem Englisch und, wie ich sehr viel später realisierte, mit nur geringem baltischen Akzent (seine Mutter war Engländerin), erklärte, dass man uns wegen meines Vaters doch freilassen solle, gab man uns die notwendigen Bescheinigungen und ließ uns gehen; aber die anderen vermutlich dann auch sehr bald.

Nils und ich machten uns auf zu Bekannten in Mecklenburg, einer netten Gutsfamilie, vermutlich entfernte Verwandte der Taubes. Irgendwie hatte ich mir unterwegs ein Pferd organisiert, vielleicht hatte es Feldmeister Herrmann gehört, bevor er untertauchte? Jedenfalls erwies sich das Pferd auf dem weiteren Weg als äußerst nützlich. Die Gutsfamilie nahm uns sehr freundlich auf, wir bekamen endlich wieder gut zu essen, konnten uns ausschlafen, und die Welt blühte auf im friedlichen Frühling. Aber bald hörten wir, dass die Russen diesen Teil Deutschlands beanspruchten.

Sorge um den Vater

Nun war es in erster Linie der Balte Nils, der auf die eilige Fortsetzung des Weges drängte, über die Elbe in die britische Zone. Wir tauschten das Pferd gegen zwei Damenfahrräder, bestachen am Elbufer einen Fischer, uns bei Nacht mit seinem Kahn die bereits verbotene Überfahrt in das britische Besatzungsgebiet zu ermöglichen, erreichten das andere Ufer unbemerkt, schliefen hart in einem Schober auf Hackholz und machten uns am nächsten Tag nun getrennt auf den weiteren Weg.

Ich hatte seit Karstädt keinen Kontakt mehr zur Familie und war wegen meines Vaters sehr beunruhigt. Denn noch im Herbst 1944 hatten wir erfahren, dass die Gestapo alle seine Dokumente zur Vorbereitung des Staatsstreiches in einem Panzerschrank gefunden hatte – man hatte sie entgegen seinem dringenden Rat nicht vernichtet! Auf einem Kassiber ließ er meine Mutter damals wissen: „Das ist das Ende.“

Mit einem Damenrad reist Dohnanyi durch Deutschland

Nach Berlin zu gelangen war wegen der Russen sinnlos. Ich hoffte aber, vielleicht in Friedrichsbrunn im Harz, wo meine Großeltern ein Ferienhaus hatten, jemanden mit Nachrichten aus Berlin zu treffen. Eine Straßenkarte von Deutschland in der Tasche, radelte ich über Autobahnen, Landstraßen und auf sommerlichen Waldwegen in den Harz. Wo immer es ging, klammerte ich mich an Lastwagen, die von großen, kesselartigen Holzvergasern auf der Ladefläche angetrieben wurden; stinkend, qualmend, behäbig – aber sie fuhren. Für das nun mit einer Hand gesteuerte Damenfahrrad war es bergab eigentlich viel zu schnell, aber dann, wenn es wieder bergauf ging, ließ ich natürlich nicht los – sah aber oben angekommen, dass es bald wieder bergauf gehen werde und riskierte bergab erneut die schlotternde, rasende Fahrt: Seither glaube ich an Schutzengel!

Wen ich schließlich in Friedrichsbrunn antraf, kann ich heute beim besten Willen nicht mehr erinnern. Natürlich gab es noch die Sanderhofs, die sich um das Haus kümmerten, wenn niemand von der Familie da war. Aber ich vermute heute, dass ich dort auch meine Tante, die Schwester meines Vaters aus Leipzig, traf, die mit ihren vier Kindern in Friedrichsbrunn Sicherheit gesucht hatte. Jedenfalls kann ich nur so erklären, woher ich den Rat bekam, wegen meiner Berliner Familie doch Pastor Eberhard Bethge, den Freund Dietrich Bonhoeffers, zu suchen, der angeblich von Berlin zu einer ersten Kirchenkonferenz nach Treysa in Nordhessen gefahren sei.

Auch im Harz ging schon das Gerücht um, die Amerikaner würden Teile der eroberten Gebiete den Russen überlassen. Also machte ich mich schleunigst auf den Rückweg nach Westen, zunächst über lange Waldwege, die ich zum Teil noch von Wanderungen mit meiner naturkundlich studierten Mutter kannte. An einer Stelle stieß ich auf neuen Stacheldraht – nichts wie weg! Und dann wieder auf Landstraßen und Autobahnen nach Treysa. Zum Glück hatte man in Friedrichsbrunn meine verdreckten Kleider gewaschen, und ich hatte auch etwas zu essen mitnehmen können.

Deutsches Hauptquartier des USA-Geheimdienstes OSS in Wiesbaden

In Treysa fand ich die Konferenz und auch Eberhard Bethge, der ja seit einiger Zeit mit meiner Cousine Renate Schleicher verheiratet war. Sie hatte, wie ich nun erfuhr, während meiner Tage in Ludwigslust bei uns in Sacrow einen Sohn geboren; ich glaube, mit meiner Mutter als Hebamme! Aber Eberhard hatte auch schreckliche Nachrichten: Der ältere Bruder meiner Mutter, mein Patenonkel Klaus Bonhoeffer, war gemeinsam mit meinem anderen Patenonkel, Rüdiger Schleicher, bei ihrer vorgeblichen Entlassung aus dem Berliner Gestapogefängnis von der SS hinterrücks erschossen worden. Und von meinem Vater sowie von Dietrich Bonhoeffer fehle jede Spur. Ich blieb wenige Tage, manche hielten mich offenbar für theologischen Nachwuchs, und so wurde ich schnell zum „Bruder Dohnanyi“.

Bethge riet mir, nach Wiesbaden zu fahren, wo inzwischen Allen W. Dulles das deutsche Hauptquartier des USA-Geheimdienstes OSS aufgesetzt hatte – hier könnte ich vermutlich mehr über meine Familie in Berlin erfahren. Das muss etwa Mitte Juni gewesen sein, irgendwann in diesen Tagen war ja auch mein 17. Geburtstag gewesen, aber an diesen habe ich keine Erinnerung. Wieder ging es mit dem Fahrrad weiter. In Frankfurt machte ich Station, schlief auf dem Bahnhof in einem dreckigen kleinen Kabuff, in dem damals noch die Fahrkarten geknipst und entwertet wurden. Merkwürdig, es war ja Sommer, aber hier erinnere ich, das einzige Mal sehr unangenehm gefroren zu haben.

Das alte Fahrrad hielt

Am Morgen dann nach Wiesbaden, ich fand die Villa der Amerikaner, wies mich aus und wurde schnell hereingebeten; die Leute an der Spitze kannten offenbar meine Familie. Man schickte mich zunächst mal in die Kantine zum Frühstück: Was für ein Luxus! Weißbrot, Erdnussbutter, Orangenmarmelade. Das unvergesslichste Frühstück meines Lebens! Am Kaffee mit Zucker und Sahne hatte ich mich wohl „high“ getrunken, jedenfalls spielte ich dann am Nachmittag, als sonst durchaus nur mittelmäßiger Schachspieler, das beste Spiel meines Lebens und schlug, zu meinem und seinem Erstaunen, den sonst exzellenten Berliner Chirurgen Professor Gohrbandt glatt. Auch unvergessen. Meiner Mutter und den Geschwistern, das wusste man, ginge es in Berlin gut; die Amerikaner hatten sie aus der russischen Zone in die amerikanische gebracht. Aber von meinem Vater weiterhin keine Spur.

Bethge hatte mir geraten, auch zu Dietrich Bonhoeffers Verlobter, Maria von Wedemeyer, zu fahren; sie werde immer sofort informiert, sollte es Neuigkeiten geben. Und da Bonhoeffer gleichzeitig mit meinem Vater verhaftet worden war und auch im gleichen Verfahren verfolgt wurde, würden von da vielleicht auch Spuren zu meinem Vater führen. Maria war zu Verwandten in Oberfranken, einer Familie von Truchseß in Bundorf, geflohen. Dort fuhr ich nun hin. Wie das alte Fahrrad auch das ausgehalten hat, bleibt ein Wunder. Heute würde so was in Hamburg nicht einmal mehr geklaut werden!

Aber auch in Bundorf gab es keine Nachrichten über meinen Vater oder Bonhoeffer. Doch der Gutshof nahm mich gefangen. Schon vor Jahren hatte ich mir gewünscht, eines Tages Landwirt oder Förster zu werden, zu Hause hatte ich mit Leidenschaft den Gemüseanbau gepflegt, und so begann ich in Bundorf mit Landwirtschaft „von der Pike auf“: Ochsen einschirren, Heuwagen beladen, Kühe melken, Ställe ausmisten – eine wundervolle Erinnerung heute.

Doch nach einigen Wochen erfuhr ich, dass die Amerikaner meine Mutter und die Geschwister im September in den Westen bringen würden. Wir alle sollten auf den Birklerhof, einen Ableger der berühmten Schule in Salem, zusammen mit der Frau und den Kindern Hans Bernd von Haeftens, der am 20. Juli erschossen worden war.

„Ich weiß nicht, wo ich Dich jetzt denken soll …“

Ich ließ mein Fahrrad in Bundorf und fuhr per „Anhalter“ oder sporadischem Busverkehr los, um meine Mutter zu treffen. Ihr Gesicht werde ich nie vergessen. Noch bangte sie um meinen Vater, eine letzte Möglichkeit, mithilfe eines Arztes aus der Haft zu fliehen, hatte mein Vater wegen der Gefahren für die Kinder verworfen, und in einem letzten Brief von ihr an ihn heißt es: „Ich weiß nicht, wo ich Dich jetzt denken soll …“ Sie ist aus dieser Traurigkeit eigentlich nie wieder herausgekommen.

Jetzt erfuhr ich auch, wie es in Sacrow verlaufen war: Während ich, dem Krieg entflohen, durch das befreite Deutschland geradelt war, gab es zu Hause den Einmarsch der Russen: Meine Schwester versteckt in oberen Wandschränken, mein Bruder unter vorgehaltener Pistole gezwungen, vergeblich ein stillgelegtes Auto in Gang zu setzen, aber eben auch russische Offiziere, die voller Respekt vor dem Widerstand meines Vaters befahlen, unser Haus zu schützen. Dramatische Erfahrungen, Gefahren, die ich nicht hatte durchleben müssen.

Auf dem Birklerhof hätte die Schule lange gedauert, und ich wollte auch dort nicht zur Schule gehen. Das ganze Umfeld, dieses Elitengetue, hatte mir nicht behagt. So machte ich mich im Auftrag meiner Mutter auf, um etwas anderes zu suchen. Die Adresse: Dr. Josef Müller, der später sogenannte „Ochsensepp“ und Gründer der bayerischen CSU. Er hatte eng mit meinem Vater zusammengearbeitet und in seinem Auftrag auch über den Vatikan die Verhandlungen mit den Engländern eingeleitet, die allerdings leider von London nicht aufgenommen wurden. Müller schuf uns den Zugang zur Schule in St. Ottilien und eine Unterkunft in dem nahe gelegenen Windach; auch unsere alte Schule Kloster Ettal hatte geholfen. Wir waren wieder zusammen.

Lesen Sie hier den achten Teil der Serie

Lesen Sie hier den siebten Teil der Serie

Lesen Sie hier den sechsten Teil der Serie

Lesen Sie hier den fünften Teil der Serie

Lesen Sie hier den vierten Teil der Serie

Lesen Sie hier den dritten Teil der Serie

Lesen Sie hier den zweiten Teil der Serie

Lesen Sie hier den ersten Teil der Serie

Über das Schicksal meines Vaters gab es noch immer vielerlei Gerüchte. Wir hatten von dem Arzt des Gestapogefängnisses erfahren, dass man ihn wieder in das KZ Sachsenhausen bei Oranienburg/Berlin gebracht hatte. Das hatten inzwischen die Russen übernommen. War er wegen seiner großen Kenntnisse der Lage in und außerhalb Deutschlands von dort vielleicht nach Moskau gebracht worden? Konnte es stimmen, dass jemand meinte, ihn dort gesehen zu haben? Aber zuverlässige Hinweise gab es nicht.

Schließlich wurde es immer wahrscheinlicher, dass man ihn in Sachsenhausen ermordet hatte, wie es sich später ja auch bestätigte. Im November entschied sich meine Mutter, für meinen Vater eine Todesanzeige zu veröffentlichen. Von der Ermordung Dietrich Bonhoeffers im KZ Flossenbürg hatten wir durch Zeugen erfahren. So schlossen wir das Jahr 1945 ab, voller Trauer, aber frei, so wie mein Vater unser Land hatte wiedersehen wollen.

Für mich war 1945 wohl das wichtigste Jahr meines langen Lebens: Ich hatte den Tod gesehen, gelernt, Verantwortung zu übernehmen und Selbstvertrauen gewonnen, ohne mein Gottvertrauen zu verlieren. Kurz, ich war in wenigen Monaten erwachsen geworden.