Hamburg. Im April vor 75 Jahren warten die Hamburger auf den Einmarsch der Briten. Doch noch wird gekämpft. Nerven zum Zerreißen gespannt.
Im April 1945 wird immer deutlicher, dass der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich verloren ist. Die Truppen der Alliierten sind an allen Fronten auf dem Vormarsch, oft wird ihnen kaum noch Widerstand entgegengebracht. Schon im Oktober 1944 war Aachen als erste deutsche Stadt erobert worden, und britische Soldaten rücken inzwischen entschlossen nach Norden vor.
In Hamburg herrscht lähmende Anspannung – auch wenn das Leben nach außen halbwegs geregelt weiterläuft. Die entscheidende Frage, die sich alle stellen: Wird es, wie von Hitler gefordert, eine Verteidigung der Stadt „bis zum letzten Mann“ geben, oder werden Kampfkommandant Alwin Wolz und Statthalter Karl Kaufmann die Elbmetropole kampflos an die Briten übergeben?
Die Menschen in den Trümmern sind auch Opfer
Fünf Jahre und rund sieben Monate Krieg haben nicht nur im Stadtbild tiefe Spuren hinterlassen. Fast alle Menschen sehnen das Kriegsende herbei, nur die wenigsten wollen noch Widerstand leisten. Über „Nazi-Täter“ wird heute viel geschrieben und gesprochen. Doch in den Trümmern der großflächig zerstörten Stadt hausen damals auch viele ehemalige Mitläufer, die inzwischen selbst zu Opfern geworden sind. Kriegerwitwen, Waisen und Eltern, die einen, nicht selten auch zwei gefallene Söhne betrauern.
Menschen, deren Existenzen vernichtet sind, die verzweifelt auf Nachricht von verschollenen Angehörigen warten. Psychisch und physisch am Ende, haben sie bitter für ihre Irrtümer bezahlt. Für etliche ist das „Dritte Reich“ bereits Geschichte, sie wollen nur noch eines: überleben. Zwölf Jahre lang hatte man „zu funktionieren“, und die Menschen funktionieren auch jetzt noch – trotz Trauer, Mangelernährung, Schlafentzug und Zukunftsangst.
Auch das Thalia Theater wird zerstört
Es gibt in der Stadt auch nach wie vor etliche überzeugte Nationalsozialisten, von denen jedoch nur noch die wenigsten an den monatelang propagierten Endsieg glauben. Relativ kleinlaut geworden, singen sie nun nicht mehr öffentlich Hitlers Loblied, sondern hadern im stillen Kämmerlein und stimmen sich schon einmal auf die kommende Zeit ein. Viele von denen, die jahrelang isoliert gewesen waren, werden von Nachbarn und Bekannten plötzlich auffällig nett behandelt.
In dem von der Historikerin Renate Hauschild-Thiessen erschlossenen Tagebuch des angesehenen Bankiers und Nazigegners Cornelius von Berenberg-Gossler heißt es unter dem Datum 13. April 1945: „Dr. Dehn, der mich vorgestern besuchte, berichtete, wie sich ihm als Juden-Abkömmling jetzt sogen. ,Arier‘ nähern. Ein Nazi-Parteimitglied schickte ein Paket mit seltenen Lebensmitteln.“ So oder so: In diesen Tagen vor 75 Jahren zeichnet sich das Kriegsende zwar bereits ab, doch noch wird weitergekämpft, und auch die Luftangriffe sind nicht vorbei. Am Abend des 13. April sterben noch zahlreiche Menschen, als Bomben unter anderem die Straßen Alsterterrasse und Johnsallee treffen, auch das Thalia Theater wird zerstört.
Menschen sind äußerlich lethargisch und innerlich voller Anspannung
Zäh ziehen sich Tage und Wochen dahin, die Menschen sind äußerlich lethargisch und innerlich voller Anspannung. „Alle in Hamburg stöhnen unter dem Joch der Angst (...)“, notiert der Schriftsteller Horst Lange ins Tagebuch, „Die Angst macht die Menschen stumpf und kraftlos: eine unheilbare Seuche, die um sich greift.“ Und der Kaufmann und Schriftsteller Hans Erich Nossack beschreibt den täglichen Kampf gegen die Untergangsstimmung: „(...) man sollte sich mit allen Kräften dagegen wehren und es nicht zulassen. Man vegetiert sonst nur noch, und der lebendige Trieb verkümmert ganz.“ Und weiter: „Hinzu kommt (...) das Wissen um das baldige Ende und das Warten darauf. Es ist leichter, wenn die Sintflut da ist, als sie von Tag zu Tag näher kommen sehen.“
Lesen Sie hier den Bericht eines Zeitzeugen
Auffällig ist, dass die Obrigkeit bei der Rekrutierung des letzten Aufgebots zur Verteidigung der Stadt nicht den aggressiven, selbstmörderischen Fanatismus an den Tag legt, wie das beispielsweise in Franken oder östlich von Berlin der Fall ist. Zwar wird auch in Hamburg ein Volkssturm aufgebaut, und vor allem junge Männer müssen Straßensperren bauen und Schützengräben ausheben. Doch das alles wird vergleichsweise halbherzig umgesetzt, und manche groß angekündigten Aktionen fallen ohne weitere Erklärung auch ganz aus.
Autoritätsverlust der leitenden Stellen
Abendblattleser Fritz Hauschild war im April 1945 als Luftwaffenhelfer eingesetzt. „Wir konnten untereinander und auch gegenüber unseren Vorgesetzten ganz offen sprechen“, so der heute 91-Jährige, „so offen, wie das vorher nie möglich gewesen wäre. Als ein Freund von mir abkommandiert wurde und sich deshalb große Sorgen machte, sagte der Leutnant: ,Geh ruhig. Dann kommst du eben in amerikanische Gefangenschaft. Ist doch auch egal.‘“ Ein anderer Freund sei zum Barrikadenbau eingeteilt worden. „Nach einem Tag verboten ihm seine Eltern schlicht die weitere Teilnahme. Er ist dann zu Hause geblieben, und das hatte überhaupt keine Konsequenzen.“
Dahinter steht ein immer stärkerer Autoritätsverlust der leitenden Stellen, der schon nach den massiven Bombardierungen des Sommers 1943 eingesetzt hatte. Damals war den Menschen klar geworden, dass sie sich, wenn sie überleben wollten, nicht mehr auf „die da oben“ verlassen konnten. „Das Sozialprestige eines nationalsozialistischen Uniformträgers tendiert in der Bevölkerung ab 1943 gegen null“, schreibt der Historiker Frank Bajohr.
Viele Funktionäre kommen ihren Pflichten kaum nach
Stattdessen begann eine Zeit des Organisierens und Sich-selbst-Helfens, die der vom Regime propagierten Volksgemeinschaft zuwiderlief. Vereinfacht beschrieben: Die Menschen begannen wieder, auf eigenen Füßen zu stehen und selbstständig zu denken. Bis ins Frühjahr 1945 hat sich diese Entwicklung laufend zugespitzt. Immer häufiger kommen selbst Parteifunktionäre ihren einst hochgepriesenen Pflichten nicht mehr nach, offen geäußerte Kritik am Regime wird kaum noch geahndet. Auch dass bereits massenweise Akten vernichtet werden, spricht sich in der Bevölkerung herum.
Die Gründe für den dynamischen Machtverlust des Regimes sind vielfältig. Ein besonders wichtiger: In Hamburg erwartet man den Einmarsch der Engländer, der für die Bewohner der Stadt längst nicht den Schrecken hat, den das unaufhaltsame Vordringen der Russen für die Berliner Bevölkerung bedeutet.
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Ein Dokument aus jenen Tagen sind die Berichte eines Propagandaoffiziers der Wehrmacht namens Schubert. Darin heißt es: „Hamburgs Besetzung durch Anglo-Amerikaner wird nicht gefürchtet, oft als Besserung des jetzigen Zustands hingestellt.“ Im letzten dieser Stimmungsberichte vom 5. April 1945 steht: „Man hört von vielen Seiten, dass die Fortführung des Krieges nur noch ein sinnloses Hinmorden der Bevölkerung sei. Man hört immer wieder die Äußerung: ,Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.‘“
Ein Ereignis schürt die Angst vor dem „Endkampf“ enorm: die sinnlose Verteidigung Bremens, welche die Bombardierung und Zerstörung der Stadt nach sich zieht. „Fallen wird es ja doch – was soll denn dann noch dieser Wahnsinn“, schreibt der zwangspensionierte Beamte Erwin Garvens. „Ähnlich ist es auch Bayreuth und anderen Städten in Mittel- und Süddeutschland ergangen, wo fanatische Nazi-Verbrecher die Oberhand gewannen.“ Und die Hausfrau Luise Solmitz notiert in ihr Tagebuch, was viele Hamburger damals genauso empfinden: „Hamburg schläft seinen dumpfen Schlaf dem Schicksal entgegen. „Was wird morgen oder übermorgen werden?“
„Hamburg. Krieg und Nachkrieg“ (Junius Verlag, 288 S., 250 Abb., 49,90 Euro), erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle.