Hamburg. Bevor es besser wurde, wurde es schlechter. Die Versorgung der Stadt erreichte im harten Winter 1946/47 ihren Tiefpunkt.
Die Monate nach der Befreiung sind für die Hansestadt schwere Monate. Zwar gehören Krieg und Bomben der Vergangenheit an, aber die Gegenwart prägen Not, Verzweiflung und Hunger. Die Besatzer sind mit der Verwaltung der Hansestadt überfordert, es fehlt hier wie überall in Mitteleuropa am Notwendigsten: Es fehlt an Essen, Kleidung und Heizmaterial.
Zugleich drängen immer mehr Menschen in die geschundene Stadt. Die Zahl der Einwohner wächst rasant, ohne dass die Infrastruktur der zerstörten Stadt mitkommt. Die Einwohnerzahl, die Ende des Krieges bei rund 1,1 Millionen und im Juni 1945 schon bei 1,2 Millionen lag, steigt bis 1947 auf rund 1,5 Millionen. Viele Menschen suchen ihr Heil in Hamburg, Rückkehrer, Flüchtlinge aus dem Osten, aber auch Displaced Persons, also Ausländer, die nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten oder wollten.
Es mangelt an allem: Von den 563.533 Wohnungen des Jahres 1939 ist nur gut jede fünfte unbeschädigt, jede zweite gilt als völlig zerstört. Die Trümmermenge würde ausreichen, die Außenalster zuzuschütten und 23 Meter hoch aufzufüllen. 69 Prozent der Hamburger haben ihr Habe in Teilen oder ganz verloren. Und viele Hamburger empört, dass die Briten recht rücksichtslos für sich Quartier requirieren. Sie beschlagnahmen eine große Zahl an Wohnungen und Gebäuden, bevorzugt in Rotherbaum, Harvestehude sowie in Othmarschen, Blankenese und Flottbek – und verschärfen damit die Wohnungsnot zusätzlich.
Im Dezember muss das Leben heruntergefahren werden
Es mangelt an Jobs und Arbeit. Vier Fünftel des Hafens sind zerstört, 72 Prozent der Speicher, 90 Prozent der Schuppen. Die dramatische Wirtschaftskrise hat den Handel fast erdrosselt, sowohl die Nachfrage als auch das Angebot sind zusammengebrochen – außer Grundstoffen vermag Deutschland ohnehin nichts zu exportieren. Hamburg als Handelsmetropole leidet besonders unter dem Zerfall des Reiches in verschiedene Besatzungszonen. Da klingt es fast vermessen, dass der Senat sich 1946 das ehrgeizige Ziel setzt, bis 1950 rund 70 Prozent des Standes von 1936 zu erreichen.
Zwar läuft das Leben langsam an – erste Läden öffnen schon am 5. Mai, auch die Kultur wächst aus den Trümmern: Am 29. August eröffnet mit dem St. Pauli Theater die erste Bühne (auf dem Programm steht die Zitronenjette), Ende Dezember begründet Ida Ehre die Kammerspiele. Aber die lebensnotwendige Versorgung mit Essen, Strom, Gas, Kohlen und Wasser hakt, auch weil die Kriegsvorräte aufgebraucht sind. Im Oktober bekommen 60 Prozent der Hamburger alle zwei bis drei Tage Gas. Viele Hamburger ziehen mit Axt und Sägen in die umliegenden Wälder und Parks, um zumindest mit Holz heizen oder kochen zu können.
Selbst Innenstadtbewohner werden zu Selbstversorgern
Wer in den Randgebieten wohnt und über einen kleinen Garten verfügt, wird zum Selbstversorger. Im Sommer stehen den Hamburgern laut Lebensmittelmarken nur 1200 Kalorien zu: pro Kopf ein Brot, drei Pfund Kartoffeln und 200 g Wurst. Die Besatzungssoldaten kommen auf das Vierfache. Selbst in der Innenstadt halten die Menschen Gänse, Hühner oder Kaninchen auf dem Balkon. In den Innenhöfen der Mietskasernen entstehen Beete; wer im Erdgeschoss wohnt, baut im Vorgarten Wurzeln, Tomaten, Kohlrabi oder Kartoffeln an. „Die Milch war blau, weil man vorher oben die Sahnereste abgeschöpft hatte“, erinnert sich Zeitzeuge Thomas Kreutzfeldt. Gerade die Kinder versuchen, bei den Soldaten Essbares abstauben zu können – und haben oft Erfolg.
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Ein Hoffnungsträger dieser Zeit ist Bürgermeister Max Brauer. Der ehemalige Altonaer Bürgermeister, der vor dem Naziterror fliehen musste, spricht am 14. August 1946 auf einer SPD-Veranstaltung in Planten un Blomen. 80.000 Menschen sind tief bewegt vom Auftritt Brauers – und sie bewegten ihn. „Die Nazis haben mich nach China und Amerika getrieben. Die Not meiner deutschen Landsleute und meine Heimat riefen mich zurück.“ Die SPD gewinnt die Wahl, und Brauer wird Bürgermeister. Seine Antrittsrede am 22. November 1946 zeigt die Probleme: „Unser Kampf gilt also vor allem dem Hunger. Wir haben nicht nur die drohenden Gefahren der nächsten Wochen und Monate abzuwehren … Es muss unser Streben sein, den Stand der Kalorien zu erhöhen. Mit 1500 Kalorien lässt sich keine neue Stadt und keine neue Demokratie aufbauen. 2500 Kalorien sind der Normalsatz.“
Es sollte alles noch schlimmer kommen
Was Brauer nicht weiß, es sollte alles noch schlimmer kommen. Ausgerechnet der Winter 1946/47 wird als kältester Winter des Jahrhunderts in die Geschichte eingehen, über Wochen sinkt das Thermometer auf minus 20 Grad und darunter. Schon im Dezember gibt es einen „Shutdown“ – nur noch für das Überleben der Stadt unverzichtbare Betriebe werden mit Strom versorgt, Kinos und Theater geschlossen. Läden dürfen nur noch von 10 bis 15 Uhr öffnen, die Weihnachtsferien von Schulen und Universität werden auf unbefristete Zeit verlängert. Den Bewohner der Stadt stehen nur noch 770 Kalorien pro Tag zu. In einem Schulaufsatz schreibt ein Mädchen den unfassbaren Satz: „Mein schönster Tag war der, an dem mein Bruder Friedrich starb. Seitdem habe ich einen Mantel und Schuhe und Strümpfe und eine gestrickte Weste.“
Die Menschen betteln, stehlen und tauschen, um an Ess- oder Brennbares zu kommen. Die Versorgung findet längst auf dem Schwarzmarkt statt, Schwerpunkte sind die Talstraße, der Großneumarkt, das Bahnhofsumfeld und der Hansaplatz. Am 31. Januar stellt die Polizei bei einer Razzia gegen Schwarzhändler auf St. Pauli und in Eppendorf 34.000 Zigaretten und 25 Zentner Butter sicher.
Auf den Straßen der Stadt sterben 85 Menschen den Kältetod, Hunderte an einer Lungenentzündung. Tausende leiden unter Hungerödemen. Die Schwedenspeisung für Zehntausende Kinder ist (über-)lebenswichtig. An bis zu 350 Ausgabestellen verteilen Ehrenamtliche Suppe. Jedes Kind muss sein Essgeschirr selbst mitbringen; manche haben nur eine leere Konservendose. Die Menschen stürmen die Züge, die Kohle nach Hamburg bringen. Bis zu 30.000 Menschen stehen am 19. Februar an der Strecke, nicht einmal 1200 Polizisten können die Kohletransporte schützen. Verhaftungen schrecken die demoralisierten Deutschen schon lange nicht mehr.
In dieser Zeit erlebt Hamburg den „absoluten Nullpunkt“
„Die große Masse des deutschen Volkes ist, was Ernährung, Heizung und Wohnung anbelangt, auf den niedrigsten Stand gekommen, den man seit hundert Jahren in der westlichen Zivilisation kennt“, notiert der einstige US-Präsident Herbert C. Hoover nach einer Deutschlandreise. Es klingt nicht übertrieben.
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Auch Brauer schlägt Alarm: „Die Krise … hat ein unerträgliches Ausmaß erreicht. Gas- und Energieversorgung sind zusammengebrochen. Die Krankenhäuser können nicht mehr beheizt werden. Die Haushaltungen sind ohne Licht, Heizungen und Kochmöglichkeiten. Hamburgs Bevölkerung ist der Verzweiflung preisgegeben. Ihre Stadt ist zu einer sterbenden Stadt geworden“, schreibt er an die Besatzer. Und hat Erfolg: Am 4. März, als die HEW die letzten Kohlen für die Notversorgung verfeuern, kommen endlich Kohlenzüge in der Stadt an. In dieser Zeit, so schrieb der Chronist und spätere Senatssprecher Erich Lüth, erlebt die Stadt ihren absoluten Nullpunkt.
In der zweiten Märzhälfte 1947 wird es dann rasch wärmer, die Versorgungslage verbessert sich. Auch die internationale Hilfe läuft zusehends besser an. Die erstaunlichste Veränderung brachte aber die Währungsreform im Juni 1948: Die Deutsche Mark brachte Mut und Hoffnung zurück. Plötzlich waren die Geschäfte wieder voll, die Gemüseläden hatten ganz neue Sorten im Angebot. „Ich sah zum ersten Mal Bananen, ich wusste gar nicht, was das war“, sagt Zeitzeuge Kreutzfeldt. „Und plötzlich hatte die Milch wieder Fett, weil der Rahm nicht mehr abgeschöpft wurde.“
„Hamburg. Krieg und Nachkrieg“ (Junius Verlag, 288 Seiten, 250 Abbildungen, 49,90 Euro), erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 12–17 Uhr, oder zu bestellen unter abendblatt.de/shop oder Tel. 554 47 29 20 (Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr).