Hamburg. Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Zum Auftakt der Abendblatt-Serie geht es um das Konzentrationslager Neuengamme.
Tragik ist ein zu oft gebrauchtes Wort, um die Geschehnisse des 2. und 3. Mai 1945 einzuordnen. Es ist geradezu eine Obszönität der Geschichte, die sich im Hamburger Stadtteil Neuengamme und in der Lübecker Bucht vor Neustadt abspielte. Am 2. Mai erreichen britische Truppen das Gelände des Konzentrationslagers – und finden es leer, geradezu aufgeräumt vor. Einige Teile sind abgerissen und abgefackelt worden, alle Akten vernichtet. Ein einziger Häftling erscheint schließlich, er hatte flüchten und sich in der Nähe verstecken können.
Einen Tag später sterben rund 6500 KZ-Häftlinge an Bord der Schiffe „Cap Arcona“ und „Thielbek“ – versenkt von britischen Bombern, die sie für Truppentransporter hielten. Und damit dafür sorgen, dass das Kalkül der SS aufgeht, die wohl genau das beabsichtigt hatte (genau geklärt werden konnte es bis heute nicht). Die wenigen funktionstüchtigen Rettungsboote werden von den SS-Leuten und Matrosen genutzt. Und selbst die Häftlinge, die noch die Kraft haben, ins Wasser zu springen und zur nahen Küste zu schwimmen, werden zur Jagdbeute.
Von den Rettungsbooten und kleinen Kuttern aus schießen SS-Männer gezielt auf sie; selbst am Strand warten MG-Schützen und machen sie nieder. Und sogar Neustädter Bürger und Volkssturm-Mitglieder treiben mit SS und Hitlerjugend Häftlinge am Strand zusammen und massakrieren sie. Nur etwa 400 KZ-Häftlinge überleben diesen Wahnsinn, den letzten Ausbruch völliger menschlicher Enthemmung.
KZ wurde 1938 eingerichtet – mit 100 Häftlingen
Es war das Finale eines Todesspiels, das im November 1938 begonnen hatte, als das Konzentrationslager eingerichtet wurde, damit Häftlinge Ziegel für die Stadt Hamburg produzierten. Es begann mit 100 Gefangenen – in Neuengamme und seinen später bis zu 90 Außenlagern wurden es 100.000, von denen nur etwa jeder Zweite überlebte. „Eine Befreiung, die keine Befreiung war“, nannte der Überlebende Andre Migdal später die Geschehnisse in den letzten Kriegswochen. Migdal war 1924 als Sohn polnischer Juden in Paris geboren worden; er schloss sich 1940 dem Widerstand an und wurde 1941 inhaftiert. Nach dem Krieg warb er bis zu seinem Tode 2007 für die Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen, trat unzählige Male als Zeitzeuge auf und hinterließ beeindruckende Gedichte, in denen er seine Erlebnisse verarbeitete.
Anfang 1945 gab es rund 49.000 Gefangene in Neuengamme und den Außenlagern, die über ganz Norddeutschland verstreut waren. Am 24. März begann die SS mit deren Räumung – es war der Beginn des großen Sterbens. Rund 20.000 Gefangene wurden auf die sogenannten Todesmärsche geschickt – in mehrere Auffanglager, wobei es das Kalkül war, dass möglichst wenige diese Tortur überleben.
Ohne Nahrung oder Trinkwasser, oft durch Krankheiten geschwächt, wurden Häftlinge, die nicht mehr Schritt halten konnten, von den Wachmannschaften erschossen. Manche wurden in Viehwagen gezwängt, aber auch dort starben viele. Es kam auch noch zu Massenerschießungen, damit keine Zeugen von den Unmenschlichkeiten berichten konnten.
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Dennoch wurden Tausende Häftlinge befreit. Am 14. April gelangten US-Soldaten in das Auffanglager Salzwedel, wo sie rund 3000 Frauen vorfanden. Außerdem erreichte der Diplomat und Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, in Verhandlungen mit SS-Chef Heinrich Himmler, dass alle skandinavischen Gefangenen abtransportiert werden konnten. Rund 4000 Frauen und Männer wurden nach Neuengamme gebracht, von wo der Transport in den „Weißen Bussen“ nach Norden begann. Rund 2000 Menschen (darunter Andre Migdal) befanden sich auf dem ehemaligen Frachter „Athen“. Kurz vor dem Luftangriff der Briten war er in den Hafen von Neustadt gefahren, um noch mehr Häftlinge, die aus dem KZ Stutthof bei Danzig über die Ostsee gebracht wurden, an Bord zu nehmen. Damit entging er dem Luftangriff.
Die Briten bombardierten die Schiffe vermutlich, weil sie annahmen, deutsche Truppen wollten sich absetzen. Zwar lagen Berichte vor, laut denen es sich um „schwimmende Konzentrationslager“ handele, doch diese Informationen erreichten die Piloten nicht mehr. Was die SS mit den Häftlingen vorhatte, konnte bis heute nicht geklärt werden. Überlebende Häftlinge berichteten, dass sie befürchteten, ermordet zu werden. Prof. Detlev Garbe, Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten, glaubt, dass der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann und Kampfkommandant Alwin Wolz das KZ geräumt haben wollten, um Gefangene und SS-Mannschaften loszuwerden. Beide Gruppen hätten die kampflose Übergabe der Stadt an die Briten gefährden können. Die Gefangenen hätten sogleich die Nazi-Verbrechen offenbart, die SS-Einheiten möglicherweise weitergekämpft.
Der bestialische Kindermord vom Bullenhuser Damm
Dass die Schiffe mit den Häftlingen auf der Ostsee versenkt werden sollten, glaubt Garbe nicht. Dafür seien zu viele Wachmannschaften und SS-Besitz an Bord gebracht worden. Die spätere Aussage von Kaufmann, die SS habe die Gefangenen an das Rote Kreuz übergeben wollen, hält er gleichwohl für eine Schutzbehauptung. Anders als bei der Übergabe der skandinavischen Gefangenen im März und April 1945 an das schwedische Rote Kreuz habe es keinen Versuch der Kontaktaufnahme mit der Hilfsorganisation gegeben. „Man wollte die Häftlinge fortschaffen. Was man dann mit ihnen machen wollte (...), vermag ich nicht zu sagen“, bekennt Garbe. Die Frage gebe der historischen Forschung bis heute Rätsel auf.
Das Konzentrationslager Neuengamme war bereits am 19. April geräumt worden. Während die meisten Häftlinge zu Fuß oder in Waggons eingepfercht nach Lübeck mussten, um auf die Schiffe verladen zu werden, kam es in Hamburg zu dem vielleicht furchtbarsten Verbrechen – der Ermordung von 20 Kindern, die kurz zuvor von Auschwitz nach Neuengamme gebracht worden waren, damit der SS-Arzt Kurt Heißmeyer ebenso grausame wie sinnlose Experimente mit ihnen machen konnte. Gemeinsam mit Hans Klein infizierte er die jeweils zehn Mädchen und Jungen aus Polen, Holland, Frankreich, Jugoslawien und Italien mit Tuberkulose und unterzog sie qualvollen Operationen – nur um zu Erkenntnissen zu gelangen, die längst in Lehrbüchern standen. Dabei mussten ihnen zwei französische Professoren assistieren, die anschließend ebenso ermordet wurden wie 20 weitere Mediziner aus Frankreich, drei polnische Krankenschwestern, zwei holländische Pfleger und 24 russische Kriegsgefangene.
Verbrechen von Neuengamme wurden nur in Teilen juristisch aufgearbeitet
Als Neuengamme geräumt wurde, beschloss die SS ihre Ermordung, um das Verbrechen zu vertuschen. Die Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren wurden am 20. April in die ehemalige Schule am Bullenhuser Damm gebracht, die seit November 1944 als Außenlager gedient hatte, aber am 11. April aufgelöst worden war. Der SS-Arzt Alfred Trzebinski gab den Kindern Morphinspritzen, anschließend wurden sie an Haken im Keller erhängt. Die Leichen der Kinder wurden wahrscheinlich wieder nach Neuengamme gebracht, wo sie verbrannt wurden.
Dieses und all die anderen Verbrechen von Neuengamme wurden 1946 in mehreren Verfahren – den Curio-Haus-Prozessen – nur in Teilen juristisch aufgearbeitet. Während einige Mittäter der Morde vom Bullenhuser Damm zum Tode verurteilt wurden, blieb der Hauptverantwortliche Kurt Heißmeyer lange unbehelligt. Er praktizierte als Arzt in der DDR; erst nach einem Artikel im „Stern“ begannen Ermittlungen gegen ihn. 1966 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, ein Jahr später starb er. Sein Helfer Hans Klein musste sich nie vor einem Gericht verantworten: Er wurde Professor in Heidelberg, wo er 1984 hoch angesehen starb.
Die Gedenkstätte Neuengamme hatte eine große Gedenkveranstaltung geplant, die wegen der Coronakrise abgesagt werden musste. „Es ist für uns sehr schmerzhaft, dass wir zum 75. Jahrestag der Befreiung keine Gedenkveranstaltung durchführen können. Zahlreiche Überlebende des KZ Neuengamme und seiner Außenlager sowie Hunderte von Angehörigen ehemaliger Häftlinge aus der ganzen Welt wollten am historischen Ort gemeinsam mit uns an die nationalsozialistischen Massenverbrechen erinnern“, sagt Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte.
Es wird am 3. Mai eine virtuelle Gedenkfeier geben. Näheres dazu unter:
Internet: http://stiftung.gedenkstaetten-hamburg.de
Twitter: https://twitter.com/GedenkstaetteNG