Hamburg. Der Frieden gab den Menschen zwar die Sicherheit zurück - aber die Versorgungslage war damals dramatisch.

Gerade für die Kinder hatte sich die Welt über Nacht radikal verändert – waren sie eben noch auf Führer, Volk und Vaterland fixiert und Ziel eines großen Indoktrinierungsapparats, war nun alles anders. Aus Hitlerjungen waren plötzlich wieder Kinder geworden.

Gerd le Bell, Jahrgang 1933, war wie viele seiner Gleichaltrigen ein überzeugter Jungvolkknabe. „Ich bin fern vom Elternhaus über Jahre geprägt worden, hatte den Sonderkurs auf der Führerschule Wörth und die Aufnahmeprüfung für die Adolf-Hitler-Schule erfolgreich absolviert.“ Als Zwölfjähriger meldete er sich kurz vor Kriegsende freiwillig beim Volkssturm. Eigentlich waren dafür nur als „unabkömmlich“ zurückgestellte Männer und Hitlerjungen ab 16 Jahren vorgesehen. Doch der Zwölfjährige drängte darauf, auch eingesetzt zu werden.

NS-Staat entfremdete die Kinder ihren Eltern

„Mein Enthusiasmus kam von der nationalsozialistisch-indoktrinären Ausbildung, die ich über Jahre bekommen hatte“, sagt er heute. Er sollte in den letzten Kriegstagen die Moral der Hamburger heben und verteilte Handzettel mit Parolen wie „Wer den Führer verläßt, ist ein Hundsfott“ oder „Lever dod as Slav“ vor einem Fischladen an der Fuhlsbüttler Straße. „Das Wort ,Hundsfott‘ hatte ich vorher nie gehört. Die Menschen in der Warteschlange nahmen meine Handzettel eher uninteressiert entgegen. Aber sie nahmen sie von mir, dem uniformierten Pimpf. Staatsräson.“

Es war eines der Grundprinzipien des NS-Staates, die Kinder ihren eigenen Eltern zu entfremden und sie in den Mittelpunkt ihrer Ideologie zu stellen – Kinder und Jugendliche fühlten sich als Avantgarde. Im April 1945, als Hamburg dabei war, sich zur Festung auszubauen, errichtete der Volkssturm im ganzen Stadtgebiet Barrikaden und Panzersperren. „Ich erinnere einen sonnigen Tag am Rübenkamp, ich war zu Gleisschutzarbeiten eingesetzt“, sagt Abendblatt-Leser le Bell. „Der damalige HJ-Jungzugführer und spätere Staatsrechtler Helmut Quaritsch kam spazierend in Zivil – also nicht in Uniform – vorbei und sah mich. Er war zweieinhalb Jahre älter als ich und sagte zu mir: ,Solltest du jetzt nicht lieber deine englischen Schularbeiten machen?‘“

Alte Feindbilder zerstoben in der neuen Realität rasch zu Staub

Die Jugend mag die Kinder empfänglich gemacht haben für die diabolischen Botschaften der Nazis, ihre Jugend machte sie aber zugleich flexibel genug, das alte Denken schnell zu überwinden und sich dem Neuen zu öffnen. Der sechsjährige Bernd Oehding erinnert sich an den Tag der Befreiung. „Uns war verboten, vor die Tür zu gehen oder aus dem Fenster zu gucken – aber was kann man einem Hamburger Jung schon verbieten? Mit meinem Freund Jürgen Umlandt stand ich unten an der Haustür und sah die Panzer rollen, die Jeeps fahren und die Soldaten links und rechts auf den Bürgersteigen sichern. Wir haben die Tür aufgemacht – und statt erschossen zu werden, bekamen wir Schokolade von einem britischen Soldaten.“

Die alten Feindbilder zerstoben in der neuen Realität rasch zu Staub. Denn es waren vor allem die Kinder, die schnell Kontakte zu den „Tommys“ knüpften – übrigens schon zu einer Zeit, als das noch gar nicht erlaubt war. Erst am 14. Juli wurden die Kontaktverbote durch die britische Führung gelockert.

Schulen waren weiterhin geschlossen

Für die Jugend war diese Zeit nicht nur die Stunde null, es war das Frühjahr null. Das Alte war vergangen, das Neue hatte noch nicht begonnen. Auch für die Kinder nicht – denn die Schulen waren weiterhin geschlossen. Die Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen glich einer Herkulesaufgabe. In der Senatsmitschrift vom 6. Mai 1945 heißt es: „Der Schulunterricht kann entgegen dem Wunsche der Eltern vorläufig noch nicht wieder aufgenommen werden.“ Es sollte noch genau drei Monate dauern, denn es mangelte an allem: Es fehlten Lehrer, Räume, Bänke, Stühle, Unterrichts­mittel, Schulbücher – vor allem aber Schulen. Von 467 Schulen, die es vor dem Krieg gab, war jede fünfte zerstört. 260 waren umgenutzt und zu Behörden oder Krankenhäusern umgewidmet.

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Nur 60 Gebäude standen zu Beginn für den Schulbetrieb zur Verfügung. In manchen Stadtteilen wurden die Kinder nach dem Start der Volksschulen am 6. August 1945 sogar draußen unterrichtet. Lediglich 1657 Lehrer mussten sich um 80.852 Schüler kümmern. So saßen in den Klassenräumen oft 40, manchmal auch 50 oder gar 60 Schüler. Bei der Eröffnungsfeier in der Aula Graudenzer Weg, einem Schumacher-Bau, appellierte Schulsenator Heinrich Landahl (SPD) an die Kinder: „Denkt daran, dass ihr euren Eltern das schwere Leben erleichtern müsst. Nur ihr könnt das fertigbringen. Ihr seid in Tausenden von Fällen ihre einzigen Freunde. Viele eurer Väter sind noch immer nicht aus dem Kriege zurückgekehrt. Von manchen wissen wir, dass sie nie zurückkommen werden. Eure Mütter sind einsam und verlassen. Alle Sorgen müssen sie allein tragen, und die Sorgen sind viel größer als früher. Ihr ganz allein könnt sie noch glücklich machen. Lasst sie stolz sein auf euch, wenn ihr gut lernt. Helft eurer Mutter, wo ihr könnt.“

Viele Kinder hausten in Kellern oder Nissenhütten

Und das taten sie – sie organisierten Holz oder Essen, das sie mitunter von britischen Soldaten geschenkt bekamen. Schule war für die Kinder auch deshalb wichtig, weil es hier etwas zu essen gab – und man möglicherweise sogar etwas mit nach Hause nehmen konnte. Manche der Hilfslieferungen – etwa Carepakete – wurden in den Bildungseinrichtungen verteilt.

„Unsere Schule war zum Teil zerstört, der Unterricht fand nur sporadisch statt und das in ungeheizten Räumen“, erinnert sich Harald Hinsch, der am Winterhuder Knickweg wohnte. „In der Eckkneipe saßen bewaffnete Engländer zum Frühstück. Die Weißbrotrinden bekamen wir Kinder, die wir schon ungeduldig auf die Essensreste warteten.“

Armut war überwältigend

Die Armut war überwältigend, aber sie traf alle. Nach einer amtlichen Zählung im ersten Nachkriegsjahr verfügten 46 Prozent der Schulkinder über kein eigenes Bett. Nur jedes dritte Kind (32,8 Prozent) lebte in einer eigenen Wohnung, die anderen zur Untermiete, hausten in Kellerlöchern oder vegetierten in Notquartieren oder Nissenhütten. Viele der Kinder wuchsen ohne Väter auf, die entweder im Krieg geblieben waren oder sich noch in Kriegsgefangenschaft befanden. Die Mütter wiederum mussten arbeiten oder Nahrung für die Familie organisieren – viele Kinder waren auf sich allein gestellt. „Wir haben in den Trümmern gespielt – es war unser Abenteuerspielplatz“, sagt der damals achtjährige Hinsch. Schon die Jüngsten gingen hamstern, Kohlen klauen oder durchsuchten die Trümmer nach Brauchbarem.

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Thomas Kreutzfeld erinnert sich: „Wir sind allein durch die Anlagen gestreift, es gab keine Aufsicht, und haben Nahrungsmittel organisiert und Trümmergrundstücke abgesucht.“ Auch Brennmaterial fehlte den Menschen. „Holz gab es nicht zum Feuern, also klauten wir, was nicht niet- und nagelfest war und irgendwie brennen konnte.“ Und trotzdem sagt er, wie so viele seiner Generation: „Rückblickend war alles nicht so schlimm.“

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„Hamburg. Krieg und Nachkrieg“ (Junius Verlag, 288 Seiten, 250 Abbildungen, 49,90 Euro), erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 12–17 Uhr, oder zu bestellen unter abendblatt.de/shop oder Tel. 554 47 29 20 (Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr).