Hamburg. Im Frühjahr 1945 beginnt der Wiederaufbau der zerstörten Stadt. Weg zurück in den Alltag ist eine unglaubliche Kraftanstrengung.
Als die Briten Hamburg Anfang Mai 1945 erreichen, ist vom Glanz der alten Hansestadt nicht mehr viel übrig. Einige Zahlen, die allerdings schwanken, verdeutlichen das Elend vor Ort: Fast 50 Prozent der Wohnungen, rund 300.000, sind unbewohnbar. Rund 43 Millionen Kubikmeter Trümmer bedecken das Stadtgebiet. Von den 467 Schulgebäuden sind 97 total zerstört, 185 mehr oder weniger beschädigt. Wie zahlreiche andere öffentliche Bauten werden viele davon als Wohnraum oder Lazarett genutzt. 70 bis 90 Prozent der Trassen von U- und S-Bahnen sowie der Straßenbahnschienen sind zerstört. Doch die Wenigsten interessieren sich damals für Zahlen. Sie stehen nur vor einer Alternative: überleben oder untergehen.
Für Hamburger unserer Tage sind die Bedingungen, unter denen die Menschen damals in der Stadt hausen, kaum noch nachvollziehbar. Keller unter eingestürzten Häusern werden zu primitiven Wohnräumen umgestaltet, schwach belüftete, fensterlose Bunker macht man zu „Wohnungen“, in denen Dutzende, umgangssprachlich „Bunkermenschen“ genannt, auf engstem Raum leben. Nicht selten bauen sich ganze Familien aus gesammelten Ziegelsteinen einfachste Häuschen zusammen. Rund 200.000 Hamburger sollen bereits nach den Luftangriffen 1943 in Gartenlauben gezogen sein, welche die meisten – notdürftig aufgerüstet – immer noch bewohnen.
Wellblechbaracken für 42.000 Menschen
Quellen belegen, dass manche der Besatzer sprachlos sind, als sie erleben, wie sich an den Tagen nach ihrem Einmarsch in zerstörten Stadtvierteln Hunderte wie Ameisen aus Trümmerwüsten ans Tageslicht arbeiten. In einer ersten Maßnahme stellen die Briten Nissenhütten (Nissen huts) zur Verfügung – Wellblechbaracken, die an 29 Stellen in der Stadt aufgebaut werden und immerhin wetterfeste Unterkünfte für rund 42.000 Menschen bieten. Diejenigen, die ihr Dach über dem Kopf behalten haben, müssen zusammenrücken: Es gibt die zwangsweise „Einquartierung“ von Ausgebombten und sonstigen Obdachlosen, die anhält, bis genug neu geschaffener Wohnraum zur Verfügung steht.
Die Beseitigung der Schuttmassen und Wiederherstellung der Verkehrswege ist eine Mammutaufgabe, die viele Monate, zum Teil sogar Jahre dauern wird. Die Instandsetzung und Versorgung in der ruinierten Stadt gleicht in der Anfangsphase auch deshalb einer Sisyphusarbeit, weil ununterbrochen Menschen nach Hamburg hineinströmen.
Massive Wohnraumnot
Mehr als 280.000 „Butenhamborger“ zieht es zurück nach Hause. Sie waren vor allem während der Luftangriffe aufs Land geflüchtet, meist zu Verwandten oder Bekannten, nun können oder wollen sie dort nicht mehr bleiben. Zwar verhängen die Briten wegen der massiven Wohnraumnot eine Zuzugssperre, die aber ständig umgangen wird. Auch damals gibt es schon Schleuser, die Menschen gegen Bezahlung über die Stadtgrenze bringen. Hinzu kommen ehemalige Soldaten, die aus Kriegsgefangenschaft entlassen werden oder sich auf eigene Faust nach Hause durchschlagen – oft auf wochenlangen Fußmärschen.
Lesen Sie auch den Bericht einer Zeitzeugin:
Einer von ihnen ist der junge Wolfgang Borchert, der Hamburg am 10. Mai 1945 schwer krank erreicht, nachdem er 600 Kilometer entfernt aus der Überführung in französische Kriegsgefangenschaft geflüchtet war. Anderthalb Jahre später wird er sein Meisterwerk „Draußen vor der Tür“ schreiben.
Unterernährung, Krankheit und psychische Defekte
Laut Statistik befinden sich im November zudem 77.000 Flüchtlinge in der Stadt – und das, obwohl es keine Auffanglager oder Vergleichbares gibt. Nur die wenigsten Heimkehrer finden die Häuser wieder, die sie einst verlassen hatten. Ganze Stadtteile wie Wandsbek, Hammerbrook und Eilbek sind ausradiert. Zeitzeugen berichten, dass sie sich in ihren Heimatvierteln wie Fremde fühlten und beim Gang durch die einst vertrauten Straßen eine Art tiefes Heimweh empfanden. Die Autorin und Übersetzerin Mathilde Wolff-Mönckeberg schreibt in einem Brief: „(...) ich ging durch die verwüsteten Straßen wie im Traum. Kommt nur und seht es euch an. Und wenn ihr dann die Ruinen und Häuserreste, Trümmerhaufen und Riesenlücken im Stadtbild seht, dann werdet ihr mir glauben und wie ich den Kopf schütteln, dass das möglich war und man dabei nicht den Verstand verloren hat.“
Von der heutigen „Willkommenskultur“ können die in Hamburg Ankommenden damals nur träumen, und es interessiert auch fast niemanden, ob ein Mensch nach jahrelangem Kriegserleben traumatisiert ist. Angesichts der allgemeinen Not muss angepackt und nach vorne geschaut werden – trotz Unterernährung, Krankheit und psychischer Defekte.
Tief verwurzelte Angst zu verhungern
Die erste Zeit nach 1945 wird viele Menschen über Jahrzehnte prägen. Zu übermäßiger Anspruchslosigkeit und der tief verwurzelten Angst zu verhungern, kommt häufig eine gewisse Härte, die den Umgang mit der nachfolgenden Generation oft schwierig macht. Viele werden die Schrecken, die hinter ihnen liegen, nie wirklich verarbeiten. Und die Aufarbeitung eigener Schuld und Verantwortung tritt in den Hintergrund und wird erst Jahre später einsetzen.
Erst im Spätsommer 1945 werden in Hamburg die wichtigsten innerstädtischen Bahnstrecken wieder benutzbar sein. Für die Fahrt in die Vororte und ins Umland müssen „Stehwagen“ herhalten, aus denen Sitzbänke und Trennwände ausgebaut wurden. Auf Fotos sieht man unzählige Menschen, die während der Fahrt auch auf Trittbrettern stehen und sich außen an Waggons festhalten, andere sitzen dicht gedrängt sogar auf den Dächern. Auffallend viele Frauen sind dabei – mit abgekämpften, aber entschlossenen Gesichtern, oft bepackt mit Rucksäcken.
Eine Statistik aus dem Jahr 1946 zeigt: Auf 100 Männer kommen 119 Frauen, bei der Altersgruppe zwischen 20 und 25 Jahren beträgt das Verhältnis wegen der vielen Gefallenen, Kriegsgefangen und Vermissten sogar 100 zu 160.
Frauen müssen die Aufgaben der Männer übernehmen
„Die größten Lasten lagen damals auf den Schultern der Frauen“, schreibt der Publizist Walter Tormin. Das gilt nicht nur für das Beschaffen von Lebensmitteln für die ganze Familie durch stundenlanges Anstehen vor Läden und an Wasserstellen, Tauschgeschäfte, Hamsterfahrten und Lohnarbeit wie Kartoffelhacken. „Die Reparatur der Wohnungen und das Ausbessern der Kleidung beanspruchten insbesondere Frauen mit Kindern bis an und über die Grenzen der Leistungsfähigkeit hinaus“, so Tormin. „Nicht nur im Haushalt mussten die Frauen das Überleben der Familien sichern, sondern sie wurden gleichzeitig für den Wiederaufbau als Arbeitskräfte benötigt, auch in früher den Männern vorbehaltenen Berufen (...).“
Viele dieser Frauen haben später nie die Anerkennung bekommen, die sie verdient gehabt hätten. Die Erinnerung solle „wach gehalten werden“ heißt es heute oft, aber diese außerordentlichen Leistungen geraten faktisch immer stärker in Vergessenheit.
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900.000 Hamburgerinnen und Hamburger haben während des Krieges ihre gesamte Habe verloren. Doch im Mai 1945 blickt man kaum zurück oder in die Zukunft. Es geht darum, den täglichen Lebenskampf zu bestehen. Das Gefühl, dass man auch schon Schlimmeres durchgemacht hat, hilft vielen dabei. Autor Hans Erich Nossack brachte es auf den Punkt: „Wir haben das Schwerste hinter uns, das Schwerere zählt dagegen nicht. Es ist nicht so schlimm.“ Und: „Mit dem Augenblick, wo wir uns von den Trümmern unseres einstigen Heimes abwenden, beginnt ein Weg, der über den Untergang hinausführt.“
Kaum ein Dichter hat über diese Tage so treffend geschrieben wie Wolfgang Borchert. Einer seiner bekanntesten Texte scheint im Frühjahr 1945 unsichtbar über der Stadt zu schweben: „Hamburg, das ist mehr als ein Haufen Steine, unaussprechlich viel mehr. Das ist Tod und Leben, Arbeit, Schlaf, Wind und Liebe, Tränen und Nebel! Das ist unser Wille, zu sein: Hamburg!
„Hamburg. Krieg und Nachkrieg“ (Junius Verlag, 288 Seiten, 250 Abbildungen, 49,90 Euro), erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 12–17 Uhr, oder zu bestellen unter abendblatt.de/shop oder Tel. 554 47 29 20 (Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr).