Hamburg. Heinz Wittorff zog als Hitlerjunge in den Kampf, verließ schließlich die Truppe und schlug sich bis in seine Heimat Hamburg durch.
Als die Briten ohne Widerstand in Hamburg einmarschierten, waren wir reserviert, auch neugierig, aber nicht feindlich gesinnt. Meine Wahrnehmung war sehr gespalten. Einerseits Frieden, kein Krieg, kein Kanonengedonner, kein Sirenengeheul, andererseits Ungewissheit, Zukunftsangst und der Zusammenbruch einer ganzen Epoche. Mein Glaube an die versprochene wunderbare Zukunft zerbrach, die Enttäuschung war grenzenlos. Eine andere Last wurde mir genommen, eine Art der Befreiung: Ich hatte meine Truppe verlassen, war nicht in Gefangenschaft geraten, aber vor Kriegsende nach Hause gelangt. Es bestand die Gefahr, durch Fanatiker angezeigt zu werden. Deshalb versteckte ich mich im Hause meiner Mutter in Klein Borstel.
Ich gehörte zu der Generation, die von Kindesbeinen an im Sinne der Machthaber beeinflusst wurde. 1938 trat ich als Pimpf in das Jungvolk der Hitlerjugend ein. Wir wurden eingeführt in das nationalsozialistische Gedankengut, hörten vom Leben des Führers und wurden ertüchtigt nach dem Motto „zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, flink wie ein Windhund“. Vorbilder für uns gab es zu Anfang des Krieges durch tapfere Soldaten wie U-Boot-Kommandant Prien, Jagdflieger Mölders und Panzergeneral Guderian. Die großen Erfolge der Wehrmacht führten auch beim größten Teil der Bevölkerung zu einer Unterstützung des Regimes.
Als Hitlerjunge freiwillig in den Kampf
Später meldete ich mich zur Flieger-HJ und konnte mit Begeisterung das Segelfliegen lernen. Das hatte aber auch eine Kehrseite: den militärischen Drill. Wir mussten exerzieren, in Kolonne antreten, ausschwärmen, auf dem Bauch durch Sand und Pfützen robben, bis wir unsere Leistungsgrenze erreicht hatten. Die vormilitärische Ausbildung setze sich 1944 fort durch das Wehrertüchtigungs- und Bannausbildungslager. Auf dem Programm standen die Bedienung von Gewehr, Panzerfaust und Panzerschreck, Schießübungen, Kartenkunde und die Tarnung im Gelände.
Eines Tages fand ein Treffen mit einem hohen HJ-Führer und 100 Jungen statt. In zwei Reihen mussten wir antreten und in markigen Worten hören, dass zur Erfüllung der gesteckten Ziele das Bekenntnis gehört, für Führer, Volk und Vaterland einzustehen und sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Mit einem Schritt nach vorn sollte die Verpflichtung erfüllt werden. Auf Kommando machte die ganze Kolonne einen Schritt nach vorn, mit Ausnahme von zwei Kameraden , die anschließend eine „Sonderbehandlung“ erfuhren und verächtlich gemacht wurden.
Am 16. Dezember 1944 erhielt ich, 16-jährig, die Einberufung zur Wehrmacht. Eine Woche vor Weihnachten musste ich meine Mutter allein lassen. Der Marschbefehl lautete auf Zuteilung zu einer Flak-Batterie im Raum Hannover, zum Schutz einer Ölraffinerie. Dort lernte ich das Kommandogerät und das Horchgerät als Leitinstrument für die Zieleinrichtung kennen, kam aber dann zum Geschützdienst an eine der drei Flak-Kanonen. Als die Tiefflieger-Angriffe der feindlichen Jäger zunahmen, bekam ich den Befehl, als Schütze eins das Vierlingsmaschinengewehr zu übernehmen. Es war ein Feuerspeier, der die tief über das Land fliegenden Flugzeuge ins Visier nehmen und abschießen sollte.
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Einen Schutzwall, der mich vor den feindlichen Bordkanonen hätte schützen können, gab es nicht, es war ein wahres „Himmelfahrtskommando“. Im April näherten sich alliierte Kampfpanzer, die wir mit unserer letzten Munition bekämpften. Dann sprengten wir unsere Geschütze, damit sie nicht in Feindeshand fallen konnten. Die ganze Batteriebesatzung setzte sich in Marsch, Richtung Osten. Die Lage war aber aussichtslos, denn wir waren fast eingeschlossen. Der Kommandant verfügte: „Waffen und Munition abgeben. Jeder schlägt sich nach Berlin durch, um die deutschen Truppen zu verstärken.“ Dorthin wollte keiner, alle strebten in die Heimat.
Mit einem anderen Kameraden machte ich mich auf den Weg über Feld- und Waldwege. Wir wurden jedoch von einer Militärkontrolle aufgegriffen mit der Aufforderung, uns in einer nahe gelegenen Kaserne einzufinden. Aber wir gingen weiter mit dem Ziel Hamburg. Erst viel später wurde uns bewusst: Es war Leichtsinn, denn damit entfernten wir uns von der Truppe. Dass uns als Deserteuren die Todesstrafe drohte, war uns damals nicht bewusst – etwas Naivität war sicherlich auch im Spiel. Als wir am nächsten Tag mit einem Treck nach Lüneburg marschierten, hatten wir sehr viel Glück, denn Tiefflieger griffen uns an und nur durch einen Sprung in den Graben blieben wir unverletzt. Die Angriffsfolgen waren aber grausig: verletzte Menschen, tote Pferde, brennende Wagen – und keine Hilfe in Sicht.
Bedrohlich war die Überquerung der Elbbrücken, denn die Überprüfung der Militärpolizei stand noch bevor. Ein Lastwagenfahrer nahm uns mit, unter einer Plane versteckt. Ein Wachmann guckte in die Ladung, entdeckte uns aber nicht. Am nächsten S-Bahnhof durften wir aussteigen, wir bedankten uns vielmals beim Fahrer, der sich auch selbst in Gefahr gebracht hatte. Am 11. April nahm mich meine Mutter überglücklich in Empfang. Unsere Gedanken galten nun meinem Vater. Er hatte an der Ostfront gekämpft und war in russische Gefangenschaft geraten; wo mag er wohl sein? Das schreckliche Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten an Andersgläubigen, Gefangenen und Juden wurde mir erst später bewusst.
In den ersten Maitagen konnte ich mich wieder frei bewegen, doch hielt sich die Freude über das Ende des Krieges mit den Sorgen vor der Zukunft die Waage. Das lag natürlich auch am gewaltigen Ausmaß der Zerstörungen und der Versorgungslage. Sie war außerordentlich schlecht, als Folge entstand ein reger Tauschhandel, besonders zwischen Stadt und Land. Die wenigen Züge waren voller Menschen, die bei den Bauern hofften, Essbares ergattern zu können. Im Winter fehlte das Heizmaterial, „Kohlenklau“ ging um. Beherzte Männer kletterten auf langsam fahrende Kohlenzüge, warfen eilig große Klumpen von Steinkohle auf die Bahndämme, die dann von anderen aufgesammelt wurden.
Das neu erwachte Kulturleben prägt den jungen Mann
Für mich kehrte schnell der Alltag ein, denn glücklicherweise bestand die Firma Rudolf Otto Meyer noch, bei der ich eine Lehre als Installateur begonnen hatte. Es war sehr umständlich und zeitaufwendig, mit den nur unzureichend fahrenden öffentlichen Verkehrsmitteln in die Firma nahe der Trabrennbahn Farmsen zu kommen. Manchmal wurden wir auch an Sammelpunkten mit einem Lkw abgeholt.
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Sehr prägend war für mich in dieser Zeit das wieder erwachende Kulturleben, ich wurde ein begeistertes Mitglied im Kulturring der Jugend, der 1945 entstand. Er organisierte Literaturlesungen und bot sehr günstige, subventionierte Eintrittskarten für Theater an. Ich erinnere mich vor allem an Ernst Schnabel, erster Chef-Dramaturg des NWDR und später Intendant, der uns in die Stoffe einführte und auch Nachbesprechungen anbot. So lernte ich Stücke kennen, die vorher verboten waren, ich las Wolfgang Borchert oder konnte mich mit Künstlern wie Ernst Barlach befassen. Im Theater spielte man „ Wir sind noch einmal davongekommen“ von Thornten Wilder, „Des Teufels General“ von Zuckmayer, aber auch klassische Stücke aus der griechischen Mythologie.
Ein echter Wendepunkt war dann 1948 die Währungsreform, die ich, wie so viele andere, als Startpunkt in ein besseres Leben empfand. Nun erhielt ich auch die Möglichkeit, mein Maschinenbau-Studium zu beginnen. Von der Politik habe ich mich immer ferngehalten. Zwar war ich sehr interessiert, informierte mich über das Zeitgeschehen, aber aktiv werden wollte ich nicht. Es war wohl auch eine Folge meiner Erfahrungen in der Jugend.
Heinz Wittorff ist Jahrgang 1928 und Diplom-Ingenieur aus Rissen. Aufgezeichnet von Sven Kummereincke.
„Hamburg. Krieg und Nachkrieg“ (Junius Verlag, 288 Seiten, 250 Abbildungen, 49,90 Euro), erhältlich in der Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, Mo–Fr 12–17 Uhr, oder zu bestellen unter abendblatt.de/shop oder Tel. 554 47 29 20 (Mo–Fr 9–19 Uhr, Sa 10–16 Uhr).