Ab Dienstag beginnt der Prozess. Die Anklage lautet auf Mord. Der Fall ist auch die Geschichte einer Familie aus der afghanischen Oberschicht, die in Hamburg gescheitert ist. Ein Dossier von Jan-Eric Lindner, Sascha Balasko, Rebecca Kresse und Özlem Topcu.

Nachts leuchten auf der Grabstelle, in die Morsals Körper in einem Laken gebettet wurde, Windlichter. Wenn am Tag die Sonne geschienen hat, brennen auch die Solarleuchten. Meist liegen frische Blumen auf dem Mutterboden. Die Eltern des Mädchens kommen jede Woche hierher. Dann denken sie an den 15. Mai 2008. Den Tag, an dem Ghulam-Mohamad Obeidi und seine Frau Nargis zwei Kinder auf einmal verloren haben: den Sohn Ahmad-Sobair, der als Mörder vor Gericht steht, die Tochter Morsal, die zu seinem Opfer wurde. 23-mal hatte er auf die junge Frau eingestochen, der er nicht die Freiheit zubilligte, die sie begehrte - und die er sich immer nahm.

Die Tat war ein Verbrechen aus Bruderliebe, Ehrgefühl und Hass. Das Ende einer tragischen Entwicklung. Geprägt von Fluchten, Furcht und dem Glauben, dass irgendwie doch noch alles gut werden könnte. Eine Familientragödie, die sich abzeichnete.

Ab Dienstag steht Ahmad-Sobair wegen Mordes an seiner Schwester Morsal vor der 21. Großen Strafkammer des Landgerichts. Zehn Verhandlungstage sind angesetzt. Sein Anwalt wird auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren. Eine Spurensuche.

Morsal, das heißt in der afghanischen Sprache Paschtu "blühende Rose". Als Morsal am 7. September 1991 in der Kleinstadt Schamali im Norden Afghanistans geboren wird, ist sie das dritte Kind des Vaters Ghulam- Mohamad und der Mutter Nargis. Die Eltern sind Kämpfer. Tadschike Ghulam beim afghanischen Militär. Er ist Kampfflieger, ausgebildet auf der Mig-21 in der UdSSR. Er ist Mitglied in der damals im Vielvölkerstaat herrschenden kommunistischen Partei, fliegt Einsätze gegen die immer stärker werdenden Gotteskrieger, die Mudschahiddin. Ghulam-Mohamad ist ein angesehener Mann, ein Mann auf Adrenalin.

Die Mutter, temperamentvoll, ausnehmend hübsch, kämpft einen anderen Kampf. Sie versucht, sich und die Kinder im Krieg durchzubringen. Eine Löwenmutter, die alles tut, um ihre Kinder zu schützen. Die Familie zieht kurz nach Morsals Geburt in die Hauptstadt Kabul. Finanziell leiden die Obeidis keine Not, aber es bleibt eine Familie im Krieg. Die auf der Verliererseite steht: Die radikalen Gotteskämpfer werden immer mächtiger. Früh werden Morsals ältere Geschwister Amina (1) und Ahmad mit dem Gefühl der Unsicherheit und Heimatlosigkeit konfrontiert. Sie erleiden Kriegstraumata. Als Morsal einige Monate, Ahmad sieben und Amina zehn Jahre alt ist, setzt sich der Vater ab nach Deutschland. Viele kommunistische Afghanen tun dies 1992. Seinem Sohn, dem der Abschied schwer fällt, sagt er: "Du bist jetzt bald ein Mann, du musst auf die Familie aufpassen." Ahmad nimmt sich diese Sätze sehr zu Herzen.

Ghulam Obeidi kommt nach Hamburg. Weil er gehört hat, dass es hier ein funktionierendes afghanisches Netzwerk gibt. Er beantragt politisches Asyl, bekommt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Die Familie will er nachholen, sobald es ihm möglich erscheint. Natürlich weiß er, dass er als Soldat keine Zukunft in Deutschland hat. Aus Ghulam, dem Kampfpiloten, wird Ghulam, der Busfahrer. Ende 1994 zieht die Familie nach. Sie lässt den Krieg hinter sich. Sie ist jetzt in Rothenburgsort.

Die Obeidis haben keine dummen Kinder. Amina, die Älteste, findet mit Fleiß und Disziplin schnell einen Einstieg in das Leben in Deutschland. Die lebhafte Morsal wächst als erstes Kind der Familie ohne tiefe Erinnerungen an Afghanistan auf. Man kann sagen, sie ist das erste deutsche Kind der Obeidis. Morsal lernt rasch, sich gegen die großen Geschwister zu behaupten. Sie bekommt noch einen kleinen Bruder. Sami* ist drei Jahre jünger. Ahmad ist jetzt zehn Jahre alt und sehr klein für sein Alter. Er kennt den Krieg mit all seinen Grausamkeiten, die er nicht vergessen kann, die er zu verarbeiten versucht. Er tut sich schwer in der Schule. Er tut sich schwer, Deutsch zu lernen. Als er merkt, dass er in der Schule kaum Anerkennung finden wird, sucht er sich andere Felder. Er ist ein mutiger Junge. Für ihn gilt das Recht des Stärkeren.

Es dauert nicht lange, bis er straffällig wird. 1998 fasst die Polizei ihn zum ersten Mal. Da ist er 13 Jahre alt. Viele weitere Male sollen folgen. Er genießt das Ansehen, das er für seine Rücksichtslosigkeit bekommt.

Der Vater ist am längsten von allen in Deutschland. Doch er ist nie angekommen. Im Alkohol sucht er eine Stütze. "Er trinkt, um die Heimat und die Schwierigkeiten hier zu vergessen", sagt ein ehemaliger Nachbar. Und weiter: "Was kann man von einer Familie erwarten, bei der zum Abendbrot die Whisky-Flasche auf dem Tisch steht?

Obwohl rund 20 000 Afghanen in Hamburg leben, kann von einer "Gemeinschaft" oder Gemeinde keine Rede sein. "Der jahrzehntelange Krieg hat aus den Menschen Einzelgänger gemacht", sagt Rafiq Shirdel (51), Gründer des "Netzwerks Afghanistan Info". "Wenn man wochenlang in dunklen, schmutzigen Bunkern schläft, wird man anders. Auch wenn man Afghanistan längst verlassen hat." Shirdel kennt viele Landsleute, die vor Krieg und Elend geflohen sind, die in der Heimat zur Elite gehörten und in Deutschland Toiletten putzen. Es gibt einen ehemaligen afghanischen Botschafter in Damaskus, der heute in einer Hamburger McDonald's-Filiale Fleischklopse grillt.

Die Kinder wachsen mit einem freien Blick auf die Elbbrücken heran. Die Fünfzimmerwohnung der Neu-Hamburger bietet genug Platz, aber wenig Heimeliges. Stahl und Waschbeton, anonyme Nachbarschaft. Zweckmäßigkeit. Ein Umfeld, das zur Abgrenzung animiert. Die Wohnung ist die Burg der Familie. Doch sie kämpfen nicht gemeinsam, jeder kämpft für sich. Vater Ghulam-Mohamad verliert den Führerschein, weil er betrunken am Steuer des Busses saß. Amina passt sich an, schafft den Spagat zwischen Alt und Neu am besten. Ahmad versucht, sich im Alltag durchzuschlagen - und er nimmt dies allzu wörtlich. Morsal ist zunächst eine fleißige Schülerin, wenn auch nicht so erfolgreich wie der kleine Sami.

Mutter Nargis versucht verbissen, die Familie zu retten. Sie freut sich über Amina, Morsal und Sami, sie sorgt sich um Ahmad, das Problemkind - und um ihren Mann.

Im Glauben ist die Familie nicht tief verwurzelt. Eher in der Hoffnung, dass es doch noch klappen werde, in Hamburg Respekt und Anerkennung zu finden. Doch Vater Ghulam-Mohamad schafft es nicht mal, die Machtverhältnisse in der Familie geradezurücken. Er wird immer schwächer, während sein Ältester immer stärker wird. Aus dem Kampfpiloten ist ein Arbeitsloser geworden. Er fühlt sich minderwertig, kommt nicht mehr mit. Die Kinder können wesentlich besser Deutsch, ihm fehlt eine Perspektive, die Balance geht endgültig verloren. Je größer die Kinder werden, desto kleiner wird der Vater. Sie entgleiten ihm. Vater und Mutter haben ein Problem damit, die Kinder gehen und erwachsen werden zu lassen.

Immerhin: Ghulam-Mohamad mietet ein Grundstück an der Billstraße, bietet dort Reisebusse und Lastwagen zum Verkauf an. Auf Geld vom Staat ist die Familie nie angewiesen.

Konflikte werden jetzt, Anfang der 2000er-Jahre, immer öfter mit Ohrfeigen und Faustschlägen ausgetragen. Die Sprache der Kinder ist nicht mehr die Sprache der Eltern. Es ist diese Zeit, in der die Geschwisterliebe zwischen Ahmad und Morsal immer größer wird. Die beiden Mittleren entdecken, dass sie sich ähnlicher sind, als ein erster Blick auf die Familie vermuten ließe. Sie bilden eine Opposition.Schule? Warum

Ahmad findet keinen Grund, sich in der Schule anzustrengen. Das gefühlte Familienoberhaupt ist mit seinem Selbstbewusstsein viel weiter als mit der Leistung. Er konzentriert sich auf Bodybuilding statt auf den Schulabschluss, geht ins Fitnessstudio Bonsai in Billstedt oder ins Shake, statt auf die Gesamtschule Mümmelmannsberg.

Morsal macht ihren Weg auf der Fritz-Köhne-Schule im Stadtteil. Überragend sind ihre Leistungen nicht. Doch das gleicht sie mit sozialem Engagement aus. In einem Modellprojekt lässt sich die energische Schülerin zur Streitschlichterin ausbilden. Später, auf der Schule Ernst-Henning-Straße, die sie ab 2005 besucht, nimmt sie am Projekt "Peer Education" teil, redet in Gruppen über Gewalt und Drogen. Morsal und ihre Mitschüler bekommen für ihre vorbildliche Arbeit einen Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Das Abendblatt berichtet über sie, die Familie ist stolz. Einer der Schulleiter sagt über Morsal: "Sie konnte sich total in andere Personen hineinversetzen, hat immer versucht Konflikte zu lösen."

Freunde sind ihr das Allerwichtigste. Sie will von ihnen akzeptiert werden - diesem Ziel ordnet sie alles andere unter. Morsals Gefühlswelt aber hält mit der körperlichen Entwicklung nicht Schritt. Während sie sich immer greller schminkt, bleibt sie ein doch ein kleines, schutzbedürftiges Mädchen. Ihr Zimmer in Rothenburgsort sieht nach Barbie aus, nicht nach Revolte. Doch wenn Morsal in Rothenburgsort den Müll vor die Tür bringt, dann nie ungeschminkt. "Man weiß nie, wen man trifft", sagt sie einer Freundin. Ein Mädchen in der Pubertät. Erster Hilferuf

Der Erste aus der Familie, der beim Jugendamt um Hilfe bittet, ist Ahmad. 2004, er ist gerade 18 geworden, schildert er einer Beamtin "ständigen Stress" mit seinem Vater. Er will ausziehen. Sein Vater drängt ihn, sich in der Schule anzustrengen, will, dass der älteste Sohn es schafft, wenn er selber es schon nicht schaffen wird. Ahmad aber will seine Freunde treffen. Er sagt der Betreuerin, er sei geschlagen worden.

Die Eltern sind regelrecht erfreut, dass sich endlich jemand ihres Problemkindes annimmt. Sie kooperieren erleichtert. Und sie hoffen auf eine neue harte Hand. Längst ist der Jugendliche ihnen entglitten. Ahmad lebt sein Streben nach Freiheit auf der Straße aus. Ein Freund von damals erinnert sich: "Er hat sich als Beschützer gefühlt, konnte durchdrehen, wenn einer seiner Jungs angemacht wurde." Ahmads Polizeiakte ist dick: Raub, Körperverletzung, Bedrohung, Diebstahl - mehr als 30 Einträge.

Sein Messer sitzt locker, die Hemmschwelle ist niedrig. Er selbst wird niedergestochen und schwer verletzt. Die Eltern? Wundern sich, dass man in Deutschland so geduldig ist mit jungen Straftätern. Vorübergehend wird Ahmad aus der Familie genommen und in eine Jugendwohnung einquartiert. Nach einem halben Jahr ist er wieder zurück. Das Jugendamt stellt die Betreuung im Fall Ahmad Obeidi 2004 wieder ein.

Versuche, ihn noch zu einem Schulabschluss zu bewegen, scheitern. Die Polizei führt ihn jetzt als Intensivtäter.

Immer wieder taucht dort auch der Name Morsal auf: als Opfer brüderlicher Prügelattacken. Er liebt sie, und er schlägt sie.

So geht das etwa bis Mitte 2006. Nach kurzer Haft in der Jugendhaftanstalt Hahnöfersand scheint der muskelbepackte Jugendliche geläutert. Einer Betreuerin sagt er: "Ich hab aus dem Blechnapf gefressen. Das war's für mich!" Ahmad wird Geschäftsführer des väterlichen Bushandels. Ein Frühstücksdirektor. Aber er hat jetzt einen Ort, an dem er sich tagsüber aufhält. Morsal leidet.

2006 meldet sich auch Morsal beim Kinder- und Jugendnotdienst. Sie ist 14 Jahre alt, berichtet von Schlägen. Erneut marschieren die Betreuer in Rothenburgsort ein. Erneut scheint zumindest die Mutter erleichtert. Sie berichtet, ihre Tochter habe Umgang mit Jungs, schminke sich, wolle Piercings und bauchfreie Tops. Sie bleibe lange fort, manchmal sogar über Nacht. Sie, die Mutter, sorge sich um die Jungfräulichkeit ihrer Tochter. Die Parallelen sind auffällig: Zwei Kinder, die versuchen, sich Freiheit zu erkämpfen. Die das Maß verlieren. Jedes auf seine Art. Nur: Morsal landet nach ihren Höhenflügen ungleich härter. Während die Mutter noch versucht, sich verbal mit der Pubertierenden auseinanderzusetzen, fällt den Männern im Haus nicht mehr ein, als auf das Mädchen einzuschlagen. Nargis fordert ihren Mann offenbar immer wieder auf, sich des Kindes, das so dringend erwachsen werden will, anzunehmen. Der Vater sagt nichts, schlägt nur. Ahmad merkt, dass der Vater nicht durchdringt, schreit Morsal an, droht ihr immer wieder - und dann schlägt er ebenfalls.

"Du bist jetzt bald ein Mann, du musst auf die Familie aufpassen." Die Worte des Vaters an den Sohn, als er 1992 nach Deutschland ging.

Morsal beginnt, sich mit Zigaretten selbst zu verletzen. Sie wird zu Hause eingesperrt. Weg will sie trotzdem nicht. Sie hält sich für stark genug. Das Mädchen schminkt sich noch greller, dreht ihre Musik noch lauter. Ein iranischer Familienhelfer wird von Amts wegen eingesetzt, soll vermitteln. Morsal lässt sich überzeugen, ein Bett an der Feuerbergstraße zu beziehen, im geschützten Bereich des Kinder- und Jugendnotdienstes, dem KJND.

Der große Bruder Ahmad hat inzwischen eine eigene Wohnung. Aber er lässt nicht ab, fühlt sich für Morsal verantwortlich. Er verfolgt die Schwester, weil er glaubt, der Vater habe sie nun gar nicht mehr im Griff. Bei dem jungen Mann setzt sich die fixe Idee fest, seine kleine Schwester sei eine Prostituierte. Das hieße: eine Entehrung der Familie, Verachtung im manchmal männerbündischen Szenario der Autohöker, das Ende jeglichen Ansehens im Freundes- und Bekanntenkreis. Das Ende der Familie. Er muss handeln. Wenn er von Bekannten auf das Erscheinungsbild der kleinen Schwester angesprochen wird, reagiert er immer jähzorniger. Morsal ist davon angewidert - und gleichzeitig angezogen. Sie spielt mit dem Feuer. Raucht und kifft - wie aus Protest. Übernachtet aber bei ihrem Bruder statt im KJND. Sie liebt die Personen, die sie quälen. Morsal pendelt zwischen dem Heim an der Feuerbergstraße, Ahmads Wohnung und ihrem Mädchenzimmer. Die Leistungen in der Schule sind besser, wenn sie im Heim ist. Aber die Sehnsucht nach Familie quält sie. Doch wenn sie zu Hause ist, greift sie den Eltern ins Portemonnaie. Mehr als einmal. Sie kauft sich dann Kleidung und Kosmetik. Sie wird immer wieder geschlagen und bedroht. Zu Hause, im Büro des Bushandels, auf der Straße. Morsal zeigt den Bruder schließlich sogar an. Am 14. Februar 2007 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Ahmad. Der Prozess wird nicht stattfinden. Morsal, die Hauptzeugin, wird nicht aussagen.

Morsal denkt an nichts Böses, als die ganze Familie Anfang 2007 in Richtung Russland aufbricht, angeblich, um Urlaub zu machen. Auch als es per Flugzeug weitergeht in den Norden Afghanistans, wird sie nicht stutzig. Dass der Vater sie vorher aus der Schule abgemeldet hatte, einfach mit einem Telefonanruf beim Direktor, weiß sie nicht. In Masar-e-Scharif besucht die in Deutschland längst eingebürgerte Familie die Verwandtschaft. Dort sagt der Vater: "Du wirst nicht wieder mit nach Hamburg fahren." Beim Onkel Jussuf soll die Unkontrollierbare das Tschemak erleben, das Erwachen als Frau - nach islamischen Regeln. Sie muss eine Koranschule besuchen, schreibt Suren in deutscher Schülerinnen-Schrift. Sie sollte einen Schleier tragen, doch sie hat sich geweigert. Sie sollte umgebogen werden, von den Verwandten, die nicht verstehen können, wie eine pubertierende Deutsche fühlt. Sie wurde geschlagen: All das erzählt sie später einer Betreuerin des Jugendamts. Es funktionierte nicht. Sie kehrt zurück nach Deutschland. Wie kam es dazu? Weil die Verwandten sie aufgegeben hatten und sie loswerden wollten, wie Morsal später erzählt? Weil sie verheiratet werden sollte? Oder weil sie versprochen hatte, ihrer eigenen Familie keine Schande mehr zu machen? Nach neun Monaten landet sie wieder in Hamburg. Nicht bereit, sich unterzuordnen, eher bestärkt in ihrem Freiheitsdrang. Die Gewaltspirale dreht sich jetzt immer schneller. Sie wird geschlagen, sie gibt nicht nach, sie wird wieder geschlagen, sie gibt erst recht nicht nach. Das Jahr 2007 geht zu Ende. Morsal erlebt ihr letztes Neujahr.

" Ich wünschte, ich hätt keinen Schimmer mehr, mein Kopf wär unbeschrieben, leer. Ich dächte an nichts Schlimmes mehr, dass ich wieder so unbekümmert wär, wie du, wie du, wie du ..."

"Unbekümmert" von Annett Louisan ist eines von Morsals Lieblingsliedern. Unbekümmert will Morsal sein, keine schlimmen Erinnerungen mehr im Kopf haben, unbekümmert sein wie ein Kind. Als Ute Mitzinger Morsal zum ersten Mal trifft, ist sie schon lange nicht mehr unbekümmert - eben weil sie kein Kind mehr ist. Ute Mitzinger leitet die Jugendhilfeeinrichtung Hopeful Hearts in Brunsholm, Schleswig-Holstein. Ein Haus für Mädchen und junge Frauen mit Missbrauchs- und Gewalterfahrung. Ein Haus, das den Mädchen nicht nur Sicherheit bietet und therapeutische Hilfe, sondern auch ein Zuhause - für kurze Zeit auch für Morsal. Mit Zustimmung der Familie.

"Ich habe Morsal zum ersten Mal im KJND in Hamburg getroffen", erzählt Ute Mitzinger. Dort entschließt man sich, das Mädchen aus seiner gewohnten Umgebung zu nehmen, um der Eskalation ein Ende zu machen. "Hamburg ist für sie ein in jeder Hinsicht gefährlicher Ort", schreiben Mitarbeiter der Behörden. Mitzinger: "Wir waren uns sofort sympathisch. Die Chemie stimmte." Am 11. April 2008 fährt Morsal mit ihr nach Brunsholm. Sie soll sich die Einrichtung in Ruhe angucken. Der Hof liegt mitten im Nirgendwo, umschlossen von grünen Wiesen und Pferdekoppeln. Es gibt Pferde und Katzen.

Schon auf der Fahrt dorthin zeigt sich, was später zum großen Problem werden soll. "Morsal saß auf der Rückbank mit diesem Handy, das sie ständig wie angewachsen am Ohr hatte." Mit wem genau Morsal alles telefoniert, weiß Ute Mitzinger nicht. Immer wieder spricht sie nicht nur Deutsch. Schon da macht sich Mitzinger große Sorgen. Sie weiß von anderen Mädchen, dass über das Mobiltelefon eine Menge unkontrollierbarer Kontakte laufen.

Ansonsten, so beschreibt Mitzinger, ist Morsal offen, quirlig, fröhlich. "Sie wusste ganz genau, was sie wollte - und vor allem auch, was nicht. Morsal war sehr von sich überzeugt. Eine Schönere als sie konnte es nicht geben", erzählt Mitzinger. Eine andere Erzieherin erinnert sich an eine Begegnung, die so ganz typisch ist für Morsal. "Sie ging an mir vorbei, sah dabei ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe und sagte zu mir: 'Mein Gott bin ich schön.î'" Nach einer kurzen Pause fügte sie schnell hinzu: "War nur Spaß."

Drei Tage soll Morsal testen, ob Hopeful Hearts etwas für sie ist. Nach 48 Stunden steht sie im Büro und sagt zu Ute Mitzinger: "Du kannst anrufen. Ich bleibe hier." Mitzinger informiert den KJND.

Morsal hat genaue Vorstellungen davon, wie ihr Zimmer aussehen soll. Ein roter Hochflorteppich muss es sein, dazu sucht sie sich im Katalog rote Hochglanzmöbel aus und ein Sofa, das man zum Bett ausklappen kann. Morsal freut sich auf ihre neuen vier Wände - ein schönes kleines Zimmer mit Blick auf den Innenhof.

Und doch hat Morsal auch eine andere Seite. Sie kann sich durchsetzen - auch mit Schlägen. Das hat sie gelernt. Auch im Heim versucht sie zu provozieren, mit Gewalt ihren Willen durchzusetzen. Morsal ist ein Alphatier. "Sie hatte an jeder Hand zwei Diener", sagt Ute Mitzinger. Und Angstattacken.

Bei einem Ausflug nach Flensburg mit Mitzingers Tochter Christina steht Morsal in einer kleinen Gasse vor einem Geschäft. Eigentlich will sie draußen warten, eine Zigarette rauchen. Urplötzlich lässt sie die Zigarette fallen, hat Angst, will nur noch weg. "Wir nennen das einen Trigger. Die Enge muss irgendetwas in ihrem Unterbewusstsein ausgelöst haben. Sie muss in einer beengten Situation furchtbare Angst gehabt haben", mutmaßt Ute Mitzinger. Aber sie kann ihre Familie nicht loslassen. Ein Gedanke treibt Morsal immer wieder an: "Ich darf meine Mutter nicht alleine lassen." Über ihr Telefon hat Morsal ständig Kontakt zum "Clan" , wie Mitzinger sagt. Nach zwei Wochen geht sie weg aus Brunsholm. Am 25.April packt sie ihre Sachen, verabschiedet sich. "Weil wir ihr Handy wollten", sagt Ute Mitzinger. Die Erzieher wollen den Kontakt zu Morsals Cousin unterbinden. Aber Morsal will nicht. Die anderen Mädchen flehen sie an, zu bleiben. Die Familie sagt, es sei okay, dass sie wieder nach Hause kommt. Sie zieht wieder ein. Morsal hofft, die Familie habe sich geändert. Die Familie hofft, Morsal habe sich geändert.

"Ich war Morsals bester Freund", sagt Amir*. "Sie wollte gar nicht nächtelang in Diskotheken abhängen oder durchfeiern. Sie wollte nur ein bisschen mehr Ausgang und in Ruhe telefonieren können." Das Mädchen sei für ihn wie eine kleine Schwester gewesen, die er beschützen wollte. Vier Jahre kennen sich die beiden. Nie lädt Morsal ihren Freund nach Hause ein. Sie erzählt immer nur, dass sie Stress habe. Mehr nicht. Die Details behält sie für sich. Auch, woher die Narben kommen, die sie an Händen und Armen hat. Über den Bruder habe man viel gehört, sagt Amir. "Der war wie ein eifersüchtiger Liebhaber zu Morsal. Wie ein Psycho." Jeden Tag denke er an sie und gucke dann immer das Foto in meinem Handy an. Am 9. Mai gibt es einen heftigen Streit zwischen den Freunden. Amir: "Sie hatte falsche Freunde, die kifften und viel Alkohol tranken. Ich habe ihr gesagt, sie soll sich nicht mit diesen Leuten treffen." Morsal ist betrunken, schreit ihren Freund an, beide werden verletzend. Morsal ruft in den Tagen darauf immer wieder an. Amir ist zu stolz, um mit ihr zu sprechen. Er wird es nie wieder tun können.

Ahmad hat sich kaum noch unter Kontrolle. Immer neue Schlägereien, immer wieder Gewalt. In seinem Jähzorn sticht er einen Bekannten nieder, verletzt ihn schwer. Ahmad wird verurteilt. Ein Jahr und fünf Monate. Bewährung gibt es nicht mehr. Am 2. Mai wird er zum Haftantritt geladen. Über seinen Anwalt beantragt er sechs Wochen Aufschub. Er müsse noch Dinge regeln.

Morsal wohnt wieder in Rothenburgsort, verbringt die meiste Zeit des Tages mit ihren alten Freunden. Für die Eltern die reine Provokation, für den Bruder eine kaum auszuhaltende Schande. "Morsal läuft wie eine Schlampe herum", erzählen seine Freunde.

Am 11. Mai kommt Morsal nach Hause. Drei Tage war sie weg gewesen. Wo, sagt sie nicht. Der Vater verprügelt sie.

Morsal verschanzt sich in ihrem Zimmer, knotet zwei Bettlaken zusammen und seilt sich aus dem Fenster ab. Der kleine Bruder wartet unten - und prügelt auch auf sie ein. Sie flüchtet einmal mehr zum Kinder- und Jugendnotdienst. Die Mitarbeiter sind erschrocken. Und wollen jetzt endgültig die Brücke zwischen Morsal und ihrer Familie einreißen. "Es soll ihr kein Ausweg gelassen werden", heißt es in der Akte. Alle hoffen, dass das geprügelte Mädchen nach Brunsholm zurückkehrt. Ute Mitzinger wird nach Hamburg gerufen. Sie weiß, dass Morsal den Kontakt zu den anderen Mädchen auf dem Bauernhof nicht abgebrochen hat, dass sie ständig miteinander telefonieren. Doch Morsal will nicht. Ute Mitzinger redet auf sie ein: "Denk nach, lass dir Zeit." Sie fährt in dem festen Glauben weg, dass Morsal zurückkommt. "Ich habe den Kollegen gesagt, sie sollen mich sofort anrufen, wenn es eine Bewegung gibt", sagt Mitzinger. "Die gab es dann ja auch", ergänzt sie. Sie wird Morsal nicht wiedersehen.Gegen ihren Vater

Morsal geht zur Polizei und erstattet Anzeige wegen Körperverletzung. Gegen ihren Vater. KJND-Mitarbeiter empfehlen Morsal, ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen. Sie ist entschlossen, die Sache diesmal durchzuziehen. Am 13. Mai, dem Tag, an dem auch das Gespräch mit Mitzinger stattfindet, lässt sich Morsal in der Gewaltambulanz der Rechtsmedizin am UKE untersuchen. Morsal schildert der Ärztin die Gewaltorgie: Wie ihr Vater auf sie eingeprügelt hat, als sie auf dem Sofa lag. Wie er sie getreten hat, immer wieder, fünf Minuten lang, bis endlich die Mutter dazwischenging. Sie erzählt, wie sie in ihr Zimmer flüchten konnte. Wie ihre Mutter kam und ihr in den Finger gebissen habe. Sie erzählt, dass der Vater auf sie zustürmte und weiterprügelte. Berichtet, dass sie sich an zusammengeknoteten Bettlaken abseilte und dass ihr Bruder sie dann vor dem Haus bis zur Bewusstlosigkeit würgte. Gäste einer Party in der Nachbarschaft hätten sie gefunden, ihr Wasser ins Gesicht geschüttet, damit sie aufwache. Sie sei zu einem Nachbarn gegangen. Der Vater sei ihr dorthin gefolgt, habe auch dort auf sie eingeschlagen. Morsal sagt, dass sie sehr viel durchgemacht habe. "Aber ich wollte meiner Familie immer wieder eine Chance geben."

Die Ärztin diagnostiziert Verfärbungen im Gesicht. Sie notiert, dass der untere linke Schneidezahn verletzt und locker ist, dass das Mädchen quadratisch angeordnete, strichförmige Hautnarben am Arm hat. Dazu viele alte Narben an den Armen. Im linken Unterarm frische Ritzverletzungen: Die Buchstaben MOH und ein Herz über dem "O". Am Finger eine Abschürfung, wohl von einem Biss, am Bauch eine scheckkartengroße Narbe. An den Unterschenkeln Hautkratzer und mehrere, 0,5 Zentimeter große, runde Narben. Morsal sagt, sie habe sich die Buchstaben selbst geritzt, nachdem sie verprügelt worden war. Die Wunden an den Beinen stammten von ihrem Bruder. Die runden Narben seien Brandwunden von Zigaretten.

Die Ärztin notiert, dass Morsals Angaben plausibel erscheinen. Sie empfiehlt, Morsal sollte bis zum Vorliegen weiterer Ergebnisse in der Obhut des KJND bleiben. Der Befund kommt in die Akte, die mit der Behördenpost ans Jugendamt geht. Geschrieben wurde er am 16. Mai. Einen Tag nach Morsals Tod.

Am Nachmittag des 15. Mai begegnen sich Ahmad und Morsal zufällig am Hauptbahnhof. Sie sehen sich, sprechen aber nicht miteinander. Am frühen Abend sitzt Ahmad mit vier Mädchen zusammen. Die Mädchen lästern über Morsal. Ziehen über sie her: Sie nimmt Drogen, sie trinkt, sie geht auf den Strich. Ahmad ist ins Mark getroffen. Er ruft seinen Cousin Mohammed an. Der hat einen guten Draht zu Morsal. Ahmad bittet ihn, sie anzurufen. Die beiden sollen am Abend zum Berliner Tor kommen. "Ich will nur mit ihr reden", sagt Ahmad. Mohammed ruft seine Cousine an. Sie stimmt zu und steigt in die Bahn. Gegen 23 Uhr sitzen Mohammed und Morsal zusammen auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhof Berliner Tor. Sie schauen auf die Gleise, rauchen, reden kaum. Mohammed ahnt nicht, dass Ahmad nicht nur mit Morsal reden will. Um 23.20 Uhr kommt der Bruder, geht den Hügel hinab vom Berliner Tor-Bahnhof zu dem unbeleuchteten Parkplatz. In den Etagen darüber sitzen Menschen hinter geschlossenen Gardinen. Es ist ein warmer Abend. Morsal trägt einen Minirock. Ohne ein Wort zu sagen, sticht Ahmad auf die 16-Jährige ein. Sie schreit. Anwohner sehen aus dem Fenster. Morsal will flüchten. Sie fällt hin, der große Bruder sticht immer wieder zu. 23-mal, in den Oberkörper, das Gesäß, die Brust, die Arme. Zwei Stiche treffen das Herz, zwei den rechten Lungenflügel. Ahmad läuft weg. Nun selbst in Panik. Anwohner rufen den Notarzt und die Polizei. Mohamad flüchtet mit dem Cousin, setzt sich dann ab. Während Notärzte um das Leben des Mädchens kämpfen - 30 Minuten lang versuchen sie, Morsal zu reanimieren - fährt Ahmad mit der Bahn zum Baumwall. Seine Hand blutet. Bei den Stichen hat er sich selbst verletzt. Er hat seine Jacke um die Hand gewickelt. Am Baumwall nimmt er ein Taxi. Der Fahrer wundert sich über die Wunde. Er fragt nicht nach. An einer Tankstelle soll er anhalten. Ahmad kauft eine Flasche Wodka und lädt seine Handykarte auf. Dann lässt er sich nach Wandsbek fahren. In einen Park. Er ruft seine Freundin an. Sie soll dort hinkommen. Er erzählt ihr, dass Morsal Männerbekanntschaften gehabt habe. Ahmad verbringt die Nacht im Park. Die Eltern kommen zum Tatort und weinen. Der Cousin sagt, er habe Ahmad nicht aufhalten können. Am nächsten Morgen wird Ahmad vor der Kanzlei seines Anwalts festgenommen. Er wehrt sich nicht.Ghulam und Nargis O. versichern der Polizei, dass sie nicht in den Mordplan ihres Sohnes, so es denn einen Plan gab, eingeweiht waren. Die Staatsanwaltschaft glaubt ihnen. Ihr Entsetzen über die Bluttat ist ehrlich, glauben sie. Sie fordern eine gerechte Strafe. Der Vater: "Wir leben in Deutschland. Unser Sohn soll nach deutschem Recht bestraft werden." Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigt dem Täter Schuldfähigkeit, ein anderes eine Persönlichkeitsstörung.

Die Obeidis halten es nicht mehr lange aus in ihrer Wohnung mit all den Erinnerungen. Sie werden aus Rothenburgsort wegziehen.

Kurz nach Morsals Tod fliegt beim Lüften ein Spatz durch das Fenster. Die Schwester schaut sehr nachdenklich, als sie das erzählt. Der Spatz bleibt bei der Familie, bis zum Schluss. Er fliegt nicht weg. Auch nicht, wenn das Fenster weit offen ist.

Kurz nach Morsals Tod kündigen Schulsenatorin Christa Goetsch und Sozialsenator Dietrich Wersich an, dass Schüler nicht mehr per Telefon von der Schule abgemeldet werden dürfen.

Der Fall beschäftigt mehrfach die Bürgerschaft. Die Opposition erhebt Vorwürfe, die Behörden hätten falsch reagiert. Der Senat verteidigt das Vorgehen.

Der leitende Oberstaatsanwalt Ewald Brandt kündigt an, dass zukünftig von Amts wegen ermittelt werden soll, wenn Zeugen oder Opfer von Gewalt plötzlich ihre Aussagen zurücknehmen.

Der Senat bewilligt Hilfseinrichtungen für junge Migrantinnen Sonderzuwendungen.

Der Prozess beginnt am Dienstag um 9 Uhr in Saal 237 des Strafjustizgebäudes.


(1 Namen geändert)

Auf www.abendblatt.de/morsal gibt es ein Dossier mit allen Artikeln zu Morsals Tod sowie eine Bildergalerie.