Staatsanwalt geht von einer gezielten Tat aus, die Verteidigung von einer Affekttat. Das Urteil soll morgen ergehen. Bilder vom Morsal-Prozess. Eindrücke von Morsal.
Wenn am morgigen Freitag um Punkt zehn die Richter der Großen Strafkammer 21 des Landgerichts ihre Entscheidung verkünden, dann wird es spannend: Totschlag oder Mord im Fall Obeidi? Lebenslänglich oder eine mildere Strafe für Ahmad-Sobair Obeidi?
Der Fall des Deutsch-Afghanen (24), der am 15. Mai 2008 seine Schwester Morsal (16) mit 23 Messerstichen tötete, weil er mit ihrem westlichen Lebensstil nicht einverstanden war, hat Deutschland aufgewühlt. Elf Verhandlungstage hat die Kammer unter Vorsitz von Wolfgang Backen verhandelt. Unaufgeregt, sachlich hat der erfahrene Vorsitzende im Prozess agiert. Es galt vor allem, die kulturell-sozialen Hintergründe der Tat aufzuklären. Die Kernfrage für die Richter: War es ein eiskalter, geplanter Mord (das sagt der Staatsanwalt)? Oder war es eine Spontantat, eine Affekttat, begangen im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit (das sagen die Verteidiger)?
Es gab zähe Wortgefechte zwischen den beiden Verteidigern und dem Staatsanwalt - alle erfahrene Juristen -, nicht unüblich in großen Prozessen. Befremdlich war der zähe Streit um die psychiatrischen Gutachter, der die Gefahr heraufbeschwor, dass das Verfahren platzen könnte. Da hätte man früher Klarheit schaffen sollen. Denn: Der eine Sachverständige ging davon aus, dass Obeidi voll schuldfähig ist - der Experte, einst von der Staatsanwaltschaft beauftragt, wurde im Prozess wegen Befangenheit vom Gericht abgelehnt. Die zweite Sachverständige, die von verminderter Schuldfähigkeit ausging, was eine mildere Strafe für Obeidi bedeuten würde, ist übrig geblieben. Der Antrag des Staatsanwalts, sie wegen Befangenheit abzulehnen, schlug fehl. Sein Hilfsantrag, einen neuen Gutachter zu bestellen - der ist noch offen. Theoretisch könnten die Richter dem Antrag noch stattgeben. Dann gäbe es kein Urteil, sondern müsste der ganze Fall später neu verhandelt werden.
Nun stehen die Richter vor dem Rechtsproblem: War es Totschlag oder ein Mord? Bei Totschlag liegt das Strafmaß zwischen fünf und 15 Jahren Haft, nur in besonders schweren Fällen droht dort lebenslange Haft. Mord sieht als Strafe "lebenslänglich" vor, das ist in Deutschland auf 15 Jahre Haft begrenzt.
Bei Mord muss mehr dazukommen. Konkret hier, ob Obeidi seine Schwester heimtückisch und/ oder aus niedrigen Beweggründen getötet hat, wie Juristen sagen. Im Klartext müssen die Richter prüfen: ob Obeidi die Arg- und Wehrlosigkeit ausgenutzt hat, das heißt, ob Morsal sich zur Tatzeit keines Angriffs versah und dadurch in ihrer Verteidigung eingeschränkt war. Zudem müsste er dies "bewusst ausgenutzt" haben - eine weitere hohe rechtliche Hürde.
Ein Cousin des Angeklagten hatte vor der Polizei geschildert, dass Obeidi sich dem Opfer mit einem hinter dem Rücken aufgeklappten Messer genähert habe, Morsal dann angriff. Das spricht für Heimtücke. Obeidi habe nur mit ihr reden wollen, sei dann zur Tat hingerissen worden, sagen dagegen die Verteidiger. Wichtig für den Fall: Auf die Frage des Angeklagten kurz vor der Tat, ob Morsal auf den Strich gehe, antwortete sie ihm: "Das geht dich einen Scheißdreck an." Hat ihn das so sehr provoziert, dass er in seiner narzisstischen Persönlichkeitsstörung im Affekt ausflippte? Oder hat er gar die Frage extra gestellt, um so einen Vorwand zu haben, sie gezielt zu töten?
Ob der Angeklagte aus niedrigen Beweggründen tötete, ist schwierig zu beantworten. Die Rechtsprechung nimmt solche Beweggründe dann an, "wenn sie als Motive einer Tötung nach allgemeiner Anschauung verachtenswert sind und auf sittlich tiefster Stufe stehen." Im Morsal-Fall bedeutet das: Die Motive des Angeklagten, dass er tötete - wie die Anklage sagt -, um das Ehrgefühl wieder herzustellen, müssen bei der Tat dominierend gewesen sein. Staatsanwalt Boris Bochnick bejaht das. Lobenswerterweise stellte er klar, dass er den Begriff "Ehrenmord" nicht mag. "Mord ist ein ehrloses Delikt", sagte er, recht hat er damit. Und: Es habe nichts mit Ehre zu tun, wenn ein Mann einer Frau mit einem Dolch seinen Lebensstil aufzwingen wolle. "Das ist finsterstes Mittelalter." Die Verteidigung betont hingegen die Hassliebe der Geschwister, das Engagement des besorgten Bruders der Morsal, die Familientragödie, die zur Spontantat geführt habe. Er müsse in der geschlossenen Psychiatrie untersucht werden, forderten die Verteidiger.
Der Morsal-Fall - er bleibt spannend, bis zur letzten Minute.