In Hamburg und anderen Städten der Republik demonstrierten junge Familien, Rentner, Autonome und Studenten gegen Atomkraft.

Hamburg. Mit so viel Zuspruch hat Frauke nicht gerechnet - ihre 50 Anti-Atomkraft-Aufkleber hat sie innerhalb von wenigen Minuten verteilt. Eine Frau klebt ihn sich auf die Stirn, ein Punk auf die Jacke, ein Pärchen gegenseitig auf den Rücken. 50.000 Menschen seien in Hamburg unterwegs, deutschlandweit 210.000 ruft ein Aktivist von der Bühne auf dem Rathausmarkt. Die Menge tobt. "Ab-schal-ten, ab-schal-ten" schreien Tausende im Chor. Die Polizei wird später von mehr als 40.000 Demonstranten in Hamburg sprechen. 590 Polizisten waren im Einsatz.

"Ich bin echt überrascht, wer heute alles mitmacht", sagt Frauke. Es sind alte Damen dabei, kleine Kinder, Jugendliche, Menschen, die aussehen, wie Beamte und welche, die aussehen wie Autonome aus dem Schanzenviertel. Sie schwenken gelbe Fahnen, grüne Luftballons und selbstgebastelte Plakate mit Sprüchen wie "Fukushima ist überall", "Fukushima grüßt Tschernobyl" und "Atomkraft ist Mist". Zwei junge Männer sind auf Laternenmasten geklettert und haben eine Leine gespannt, an der sie ein riesiges Transparent mit einem gelben Totenkopf hissen.

Um 14 Uhr ist der Rathaumarkt so voll, dass die Nachzügler die Abschlusskundgebung nur von der Mönckebergstraße aus hören konnten. Um 14.10 Uhr ruft Bischofsvertreter Propst Jürgen Bollmann auf der Bühne zu einer Schweigeminute für die Opfer in Japan auf. Sofort verstummen alle Rasseln und Pfeifen, über dem Rathausmarkt breitet sich eine fast unheimliche Stille aus. Die Kirchenglocken läuten. In der Ferne hört man die nachfolgenden Demonstranten, die von der Mönckebergstraße aus auf den Platz drängen. Schweigen stehe nicht im Gegensatz zum lautstarken Protest, sagt Bollmann: „Wir werden diesen Protest brauchen, damit die Atomenergie von der Erdoberfläche verschwindet."

Zu Wort kommen auch Helmut Meine, IG-Metallchef aus Niedersachsen, und Roman Denter, Sprecher von „Attac Deutschland“. Die Atomenergie sei „veraltet und rückwärtsgewandt“ und führe zu unvorstellbaren Katastrophen, ruft Meine. Denter wirft den Energiekonzernen vor, mit dem Betrieb von Atomkraftwerken bewusst Menschenleben aufs Spiel zu setzen, „allein wegen des Profits“.

Während sie sprechen, starten noch immer Atomkraftgegner von der Moorweide in Richtung Jungfernstieg. Vor der Kundenfiliale des Energieversorgers Vattenfall halten sie und skandieren Parolen wie „In Hamburg sagt man Tschüs“. „Es kann hier genauso einen GAU geben“, sagt eine ältere Frau, die aus Lüneburg angereist ist. „Die Angst ist größer geworden“. Wie nah die atomare Katastrophe rücken könnte, mahnen zwei Wegweiser auf der Moorweide: 1800 Kilometer seien es nach Tschernobyl und nur 40 Kilometer zum Kernkraftwerk Krümmel. „Mir ist angst und bange“, sagt eine Hamburgerin, die mit ihren Kindern zur Demonstration gekommen ist. Viele Menschen haben sich mit Schutzanzügen verkleidet und tragen Mundschutz oder Totenmasken.

Zu der Demo unter dem Motto „Fukushima mahnt: Alle AKWs abschalten!“ hatte ein breites Bündnis von Anti-Atombewegung, Kirchen und Gewerkschaften in Hamburg, Berlin, München und Köln aufgerufen. In Berlin demonstrierten auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und die Fraktionschefs der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin und Renate Künast. Bundesweit gingen laut Veranstalter mehr als 210.000 Menschen auf die Straße.

Im japanischen Fukushima waren bei der verheerenden Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe vom 11. März mehrere Atomreaktoren beschädigt worden. Es gab Explosionen und Brände, Radioaktivität trat aus. Nach Angaben der japanischen Atomsicherheitsbehörde vom Sonnabend wurde im Meerwasser nahe des Akw aktuell eine Konzentration von radioaktivem Jod 131 gemessen, die um das 1250-fache über dem zulässigen Höchstwert liegt. Zudem wurde an einer weiteren Stelle an dem Atommeiler stark radioaktiv verseuchtes Wasser entdeckt. Am Donnerstag waren bei Arbeiten am Reaktor 3 drei Arbeiter hoher radioaktiver Strahlung ausgesetzt worden.

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Harte Blues-Rock-Klänge hallen über den Potsdamer Platz in Berlin-Mitte. „Fukushima heißt abschalten“, intoniert die Sängerin der Band Mümmes Straßenrock. „W...W...W - weltweiter Widerstand“, stimmt ein Mitstreiter ein und lässt den Bass heftig brummen. Jung sind sie nicht mehr, die Musiker, aber sie bringen ihre Zuhörer noch immer zum Tanzen. Mütze auf dem Kopf, die Regenjacke zugeschnürt – auch die Kleidung scheint man schon 1981 in Brokdorf gesehen zu haben. In Brokdorf oder Wackersdorf wird manch einer von denen, die am Samstag mit Fähnchen, Plakaten oder Transparenten durch Berlin, Hamburg, Köln und München ziehen, wohl schon mit dabei gewesen sein. Aber die Veteranen bleiben doch in der Minderheit. Allein in der Hauptstadt demonstrieren 100 000 Menschen unter dem Eindruck der Katastrophe im japanischen Atommeiler Fukushima gegen die Atompolitik der Bundesregierung. In den anderen drei Städten sind es weitere 150000. Und über allen schweben Abertausende von grünen und roten Luftballons.

Das Ehepaar Lilo und Hans Kneilmann aus dem Westerwald hatte nach eigenen Angaben vor fünf Jahren seine alten Anti-Atom-Buttons und Transparente weggeworfen. Die beiden hatten nicht mehr damit gerechnet, dass für die Abschaltung der Atomkraftwerke noch einmal Massendemonstrationen stattfinden würden. „Ich habe dann im Internet neue bestellt“, erzählt Hans Kneilmann in Köln, wo er sich am Sonnabend dem Demonstrationszug angeschlossen hat. Neben ihm steht sein 16-jähriger Sohn Florian. Er ist nicht nur mit seinen Eltern, sondern auch mit vielen Freunden nach Köln gefahren. „Es ist ja nichts Neues, dass Atomkraft gefährlich ist“, meint der Jugendliche. Aber jetzt gebe es endlich viele Menschen, die sich mit diesen Gefahren auch auseinandersetzen. Einige Meter weiter schaut Adelheid Müller gebannt zur Bühne. „Ich habe den Weltkrieg erlebt und gesehen, wie alles kaputt war“, erzählt die 83-jährige Kölnerin. „Ich will nicht, dass jetzt wieder alles kaputt geht.“ Die Seniorin hat Angst hat vor Reaktorunfällen wie in Japan. Mit einem Löffel schlägt sie auf eine gelbe Blechdose, auf die sie ein Anti-Atomkraft-Zeichen gemalt hat.

In Berlin, aber auch Hamburg hat der Protestzug auch etwas von einem Familienfest. Viele Menschen haben ihre Kinder mitgebracht. Für nicht wenige Frauen äußert sich die Angst vor einem atomaren Desaster wie in Tschernobyl 1986 oder jetzt Fukushima in der Angst um ihre Kleinen. „Atomkraft zerstört Leben“, heißt es auf Plakaten, oder auch „Unser Krebs kommt von eurem AKW“. Andere Frauen legen in Berlin letzte Hand an ein bunt bemaltes Plakat mit den Worten „Unsere Kinder sollen lachen, nicht strahlen“. „Wir tragen Verantwortung und müssen etwas tun gegen die Stromkonzerne“, meint eine 34-jährige Bibliothekarin. Die breite soziale Mischung unter den Berliner Demonstranten fällt ins Auge. Menschen, die nicht auf Rosen gebettet scheinen, gehen neben Damen und Herren in feinem Zwirn. Am Straßenrand spielen Bläser, tanzen Clowns, zupfen Schüler an der Klampfe, zeigen Jugendliche ihre neuen Skater. Was sie eint, ist der Wunsch nach einem schnellen Ausstieg aus der Atomenergie.

Applaus brandet auf, als DGB-Chef Michael Sommer auf der Kundgebung vor dem Brandenburger heftiges Geschütz gegen die Energiekonzerne in Deutschland auffährt. Die Lobbyisten der Deutschen Atomindustrie ließen sich nicht einmal von dem Grauen in Japan aus der Fassung bringen, sagte Sommer. „Wir haben genug von den Lügen, den Beschwichtigungen, den Verharmlosungen.“ Dann gibt es wieder Musik. Es spielt die Band Wir Sind Helden. Politiker sollten auf den Kundgebungen in den vier Großstädten, zu denen ein breites Bündnis von Umweltinitiativen aufgerufen hatte, eigentlich nicht sprechen. Doch die Grünen, Sozialdemokraten und die Linke sind am Tag vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unübersehbar präsent und nutzen die Gelegenheit, um noch einmal Flagge zu zeigen gegen Union und Liberale.

(dpa)