Der frühere “Zeit“-Chefredakteur Theo Sommer hat dem Herausgeber der Wochenzeitung ein Buch gewidmet.
Hamburg. Als "Schmidt-Schnauze", der gefürchtete Ex-Kanzler anno 1982/1983 vor dem Tor des Pressehauses stand, brach in der Redaktion der "Zeit" der Aufstand los: Ein Politiker, der Journalisten als "Wegelagerer", "Indiskretins" und "Banditen" herunterzumachen pflegte, der "vor der Guillotine der Political Correctness keine Angst hatte", so Jaques Schuster in der "Welt", sollte Herausgeber des hochrangigen linksliberalen Intellektuellen-Blattes werden? "Den werden wir ja nie wieder los", sorgten sich in der Redaktion die einen. "Der macht aus der ,Zeit' ein SPD-Verkündigungsblatt", klagten andere. High Noon am Speersort!
Wie es dazu kommen konnte und wie es erstaunlicherweise weiterging, enthüllt ein prominenter Insider, der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber der "Zeit" Theo Sommer, 80, in seinem Buch "Unser Schmidt - Der Staatsmann und der Publizist", das in diesen Tagen erscheint. Sommer ist als Editor-at-Large, als eine Art freischaffender Herausgeber also, immer noch für die Zeitung unterwegs. "Dass der Altbundeskanzler zur 'Zeit' kam und im Mai 1983 in der Führungsetage ein 16 Quadratmeter kleines Zimmer bezog, ist einem Geniestreich von Gerd Bucerius zu verdanken, dem Gründer und Inhaber des Blattes", schreibt Sommer. Bucerius war von 1949 bis 1962 Bundestagsabgeordneter der CDU. Zum Leckerbissen für viele Hamburger Spurensucher auf schmidtschen Pfaden wird die Lektüre der ersten Buchkapitel werden, die das Wirken des auch artikelschreibenden Altbundeskanzlers "von innen" beleuchten. "Der Verleger, Geschäftsführer und Herausgeber schrieb unzählige Hausmitteilungen, seine 5,15 oder 29 Seiten langen Memoranden hatten es in sich", berichtet Sommer.
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Regelmäßig nahm Schmidt fast jede Woche an vier Treffen teil: den Konferenzen der Ressorts Politik und Wirtschaft, sowie der "Käsekonferenz" des inneren Führungskreises und der Großen Konferenz der Redaktion am Freitag. "Den Freiraum der Redakteure engte er in keiner Weise ein, sie ließen sich auch nicht einengen. In Schmidt gewannen sie jedoch einen meinungsstarken, bestens informierten und international hochrangig vernetzten Diskussionspartner", erkannte Sommer. Was sich dabei hinter den Kulissen tat? Theo Sommer im Rückblick süffisant: "Ich bin nicht sicher, ob er sich darüber klar ist, in welches Nest der Aufmüpfigkeit er da gerät. Jedenfalls könnte ich mir vorstellen, dass er sich gelegentlich nach seiner Fraktion zurücksehnen wird." Beispiele? Die Redaktion führte Klage, dass sie freitags in der Planungskonferenz für die nächste Ausgabe von Schmidt "mit langen Seminarausführungen" traktiert wurde, seine "Weltwirtschaftsoper" werde von manchen Redakteuren ebenso belächelt wie ehedem von vielen seiner Parteifreunde. Mit scharfer Klinge wurde gefochten, als Schmidt sich von der vorherrschenden "Zeit"-Meinung, es ließe sich auch ein Deutschland zu zweit denken und "Hauptsache, beide deutschen Staaten wären frei und demokratisch verfasst", scharf distanzierte.
"Dazu hatte Schmidt angemerkt, hätte er diesen Standpunkt gekannt, wäre er nicht zur 'Zeit' gekommen", so Sommer. Ex-"Zeit"-Redakteur Cordt Schnibben schrieb später, Schmidt habe in den Konferenzen noch immer den Kanzler gespielt, die Diskussion an sich gerissen und rücksichtslos die Keksteller geleert. "Zeit"-Chefredakteur Robert Leicht löste das Dilemma dagegen auf gekonnt feinsinnige Weise: "In den Diskussionen tritt Schmidt immer sachlich-autoritativ auf, aber niemals institutionell-autoritär."
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Keine Angst, Helmut Schmidt konnte stets weit besser zurückfeuern: "Die 'taz' muss links von der 'Zeit' bleiben", forderte er. Er protestierte vehement gegen die von vielen "Zeit"-Redakteuren übernommene Vulgärsprache der 68er à la "Tittensozialismus" oder gegen die Ausfälle und Verfälschungen eines Walter Jens. Fast täglich hatte er zu tun mit grünen linken Redakteuren, die bei den Großdemos gegen Schmidt und seinem historischen Doppel-Beschluss gegen die sowjetischen, auf die Bundesrepublik gerichteten SS-20-Raketen mitgemacht hatten.
"Es fiel den 'Zeit'-Hierarchen nicht leicht, den Unwillen der Schmidt-Gegner zu besänftigen. Deren Einsicht kam erst später", schreibt Theo Sommer.
"Zeit"-Star Nina Grunenberg berichtet aber auch, wie Helmut Schmidt häufig durch "schiere Überzeugungskraft" seiner Meinung zum Durchbruch verholfen habe: "Ich erinnere mich an eine hoch emotionale Konferenz, in der es Helmut Schmidt fertigbrachte, die Meinung einiger Redakteure so umzudrehen, dass sie am Ende das Gegenteil von dem vertraten, was sie zu Beginn für richtig gehalten hatten." Mitherausgeberin Gräfin Dönhoff sagte dazu später: "Er kam mir vor wie ein Adler, der eine Maus in der Ackerfurche jagt."
Helmut Schmidt hatte grundsätzlich keine Scheu vor ideologischen Besitzständen: "Das Feuilleton der 'Zeit' zu lesen wird mir zur Qual", kritisierte er. "Linke Intellektuelle werden vielfach gedruckt; Siegfried Lenz zum Beispiel ist offenbar nicht links genug."
Eine vorausschauende Warnung eines Redakteurs vor der "Herrschaft der Computer" (die Schmidt wie viele andere nicht erkannte) rügte er: "Die Zeit weinerlicher Gegenwartsbesprechungen in unserer Zeitung nimmt zu. Die 'Zeit' aber darf sich nicht auf die Funktion der intellektuellen Klagemauer beschränken. Sie muss auch Hilfe geben, auch im Denken."
Die herben Zeiten überstand Helmut Schmidt indessen höchst erfolgreich - auch auf seine ganz eigene Weise: "Er pafft seine Menthol-Zigaretten in den Konferenzen, manchmal 13 Glimmstengel binnen anderthalb Stunden, und schnupft - schnaubend, schnäuzend und niesend - seinen Schmalzler Marke Gletscherbrise", erfahren wir. Schmidt und die Redaktion sind offenbar dennoch ein Team geworden. Sein messerscharfes Urteil, seine Erfahrung, seine internationale Personenkenntnis haben Gewicht. Die heutige Realität beschreibt Chefredakteurs-Vize Matthias Nass so: "Ohne Schroffheit, aber auch ohne Altersmilde kommentiert er den Inhalt des Blattes und der Zeitläufte."
Er sagt seine Meinung, die Redakteure sagen die ihre. In Wahrheit liebt er es, wenn es hoch hergeht. An schlechten Tagen blafft er: Naiv! Ahnungslos! Unverantwortlich! Dann kann er so laut werden, als habe er den Bundestag vor sich. Oder er raunzt die Jungen an: 'Ihr psychologisiert zu viel! Weil ihr von der Sache nichts versteht, flüchtet ihr euch ins Menschelnde.' Das findet er 'zum Schießen!'"
Der Staatsmann Helmut Schmidt ist in den Jahren 1983 bis 2010 zu einem Erfolgsautor geworden. Er wurde darüber, so Theo Sommer, "im Lande zur Auskunftsperson, zum Vorbild, fast zur Ikone". Offenbar, weil er sagt, was er denkt. In 25 Jahren schrieb Schmidt mehr als 30 Bücher - ohne Ghostwriter. Viele wurden Bestseller. Der "Spiegel" sieht ihn als "Bestsellergarant". Das runde Dutzend seiner tiefschürfenden, weit vorausweisenden Leitartikel, die er pro Jahr für die "Zeit" schreibt, wird weltweit gedruckt. "Das Schreiben ist für Helmut Schmidt eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", glaubt Biograf Theo Sommer. Für "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo aber hat sein 91-jähriger Herausgeber längst eine weitere Karriere gestartet: "Er ist eine richtige journalistische Rampensau."