Tornado: Fast 500 Polizeibeamte fuhren bis zum Morgengrauen Patrouille in Harburg. Menschen mußten stundenlang in Fahrstühlen ausharren, THW versorgte AK Harburg mit Notstromaggregaten, Produktionsausfall in Großbäckerei.

"Es ruckt, das Licht geht aus, ich bekomme Angst" - die Fahrt mit dem Fahrstuhl im Fußgängertunnel an den "Harburg Arcaden" wird Hannelore Cornell (58) lange in Erinnerung bleiben. Knapp zwei Stunden bleibt sie im Aufzug stecken. Sie ist eine von vielen, die unter dem Stromausfall von Montag abend bis Dienstag morgen litten.

18.57 Uhr zeigt die Uhr am Eingang zu den Phoenix-Werken an der Wilstorfer Straße. Der Zeitpunkt, an dem der Strom von der Windhose abgeschaltet wird.

Kurz nach dem Sturz von zwei riesigen Baukränen, die der Tornado umgerissen hat, und unter dessen Trümmern zwei Arbeiter sterben, herrscht eine gespenstische Stille auf den Straßen von Harburg. Der Himmel leuchtet violett mit einer Spur Grau.

19.30 Uhr. Das Einkaufszentrum Phoenix-Center wird geräumt, der Strom der eigenen Aggregate reicht nur für eine schummrige Notbeleuchtung. Kühleinrichtungen in Supermärkten fallen aus, Lebensmittel müssen später weggeworfen werden.

20.30 Uhr. Gut eine Stunde, nachdem der Tornado seine Spur der Verwüstung durch Harburg gezogen hat, kommen immer mehr Menschen aus ihren Häusern. Stumm starrt eine Gruppe von Harburgern am Kanalplatz auf die Reste eines Wellblechdaches, das sich wie eine Fahne um die fast armdicken Kabel einer Überleitung gewickelt hat.

Es ist stockdunkel. Polizei- und Feuerwehrwagen rasen mit Blaulicht durch die Stadt. Nur hier und da andere Autos auf den Straßen. Die Fenster sind dunkel. Gelegentlich schimmert ein Kerzenlicht. Ältere Harburger fühlen sich "an die Verdunkelung im Zweiten Weltkrieg" erinnert.

21 Uhr. An der Kreuzung Buxtehuder Straße/Seehafenbrücke versucht die Feuerwehr seit zwei Stunden einen etwa dreißig Meter hohen Baum, der auf die vierspurige Fahrbahn der Buxtehuder Straße gekippt war, zu zerkleinern. Mit Motorsägen machen sie sich daran, das Ungetüm zu beseitigen. Nach 45 Minuten ist eine Fahrtrichtung frei. Am Harburger Ring stehlen zur gleichen Zeit drei Jugendliche (15 bis 18) aus einem Sportgeschäft mehrere Paar Turnschuhe. Polizisten nehmen sie fest.

22 Uhr. In der Innenstadt sind viele Jugendliche. Manche haben eine Flasche Bier in der Hand. Eine merkwürdige Stimmung macht sich breit - zwischen ausgelassen und unheimlich. In der Fußgängerzone Lüneburger Straße grölen ein paar Betrunkene. Andere führen Hunde spazieren. Und überall Polizisten.

Die ganze Nacht über werden die Ordnungshüter immer wieder zu Geschäften gerufen, prüfen, ob es Einbrüche gab. Um kurz vor 23 Uhr kontrollieren sie einen Baumarkt und ein Bettengeschäft an der Buxtehuder Straße. Einbruchsspuren finden sie nicht.

Kurz vor Mitternacht auf dem Hof des AK Harburg. Aus einer Gulaschkanone teilt das Technische Hilfswerk (THW) Hühnersuppe an die Helfer aus. Die Feuerwehr und das THW haben drei Notstromaggregate aufgebaut und diese durch Leitungen mit dem Hauptstromverteiler des Krankenhauses verbunden. Grund: "Unser Notstromaggregat bringt nicht die volle Leistung, deshalb haben wir zur Unterstützung zusätzliche Aggregate angefordert", sagt der zuständige Sprecher Rudi Schmidt. Allerdings seien zu keinem Zeitpunkt im Krankenhaus lebenswichtige Geräte ohne Strom gewesen. Die Notaufnahme für Schwerstverletzte wird vorsorglich gesperrt.

Vor der Karstadt-Filiale am Schloßmühlendamm stehen die ganze Nacht über ein bis zwei Polizeiwagen. In den Schaufensterscheiben flackert das Blaulicht der Einsatzwagen. In wenigen Häusern brennen noch Kerzen, die meisten Menschen schlafen. Zehn junge Leute, vermutlich angetrunken, ziehen allerdings um 0.40 Uhr noch um die Häuser. Die Polizei spricht gegen die Gruppe vor dem Phoenix-Center Platzverweise aus.

Zur gleichen Zeit geht in der Fußgängerzone das Licht wieder an. Die Polizei hat einen Lichtmast aufgestellt, der mit einem Dieselmotor betrieben wird. Eine Bank und ein Juwelier sind nun der Schattenwelt entkommen. Auch auf dem Harburger Sand leuchtet ein mit Diesel angetriebener Lichtmast die Wochenmarktfläche aus. "Den Sicherheitsleuten im angrenzenden Spar-Markt war mulmig im Dunkeln", sagt ein Polizist und lacht. Im Kerzenschein und Licht der Taschenlampen patrouillieren Wachmänner durch die Gänge.

1.30 Uhr. Jens Stiega-Gorgiel aus Salzgitter sitzt im Schein von zwei Teelichtern auf dem Doppelbett in seinem Zimmer im Hotel Panorama Harburg. Im gesamten Haus gibt es nur Notbeleuchtung - alle Gäste haben zwei Teelichter im Aschenbecher als Lichtspender bekommen. "Das mit den Kerzen ist doch ganz romantisch. Nur schade, daß meine Frau nicht da ist", sagt der Hotelgast lächelnd. Der Lokführer hat bereits wegen der Streckensperrung zwischen Harburg und Wilhelmsburg vier Stunden vor Hamburg mit seinem Güterzug gestanden und ist erst gegen 1 Uhr im Hotel angekommen. "Das, was hier passiert ist, kann man nur als höhere Gewalt bezeichnen." So wie Stiega-Gorgiel reagieren eigentlich alle der 120 Gäste im Panorama Harburg. "Wir haben den Gästen angeboten, in unser Schwesterhotel nach Billstedt zu ziehen, aber sie wollten dableiben", sagt Direktorin Angelika Zachmann. Als Entschädigung gab es Freidrinks an der Hotelbar.

3.11 Uhr. Am Polizeikommissariat Knoopstraße macht sich ein Gefangenentransporter auf den Weg. Drei Festgenommene werden auf die Wache nach Wilhelmsburg gebracht. Der Grund: Es gibt auch auf der Polizeiwache an der Knoopstraße Stromausfälle. Ansonsten bleibt die Nacht für die 471 eingesetzten Polizisten ruhig. Sieben Einbrüche werden im Schutze der Dunkelheit versucht.

4.20 Uhr. Klaus Deininger (42) lädt mit dem Kran seines Lkw ein 7,5 Tonnen schweres Stromaggregat vor dem Hotel Panorama ab. Die vermietende Firma Aggreko hat viel zu tun. "Das ist schon das vierte Aggregat, das wir seit 21 Uhr ausliefern", sagt Mike Wolf (40).

5.05 Uhr. In Harburg gibt es wieder Strom. Überall plötzlich Licht. Schaufenster leuchten hell, die Alarmanlage in einem Tattoo-Shop an der Wilstorfer Straße springt an. Die Frühschicht in den Phoenix-Werken geht an die Arbeit. Zehn Minuten später ist für die Polizisten der Dienst beendet. Sie rücken wieder in ihre Unterkünfte in Alsterdorf ein.

Die Groß-Bäckerei Wedemann im Gewerbegebiet Großmoorbogen konnte ihren nächtlichen Großauftrag leider nicht erfüllen. 100 000 Brötchen für etwa 450 Kunden in ganz Hamburg sollten in der Nacht gebacken werden. Seniorchef Otto Wedemann (70): "Alles fiel hier aus - so schlimm war es noch nicht einmal bei der Sturmflut 1962."