Mit Einbruch der Dunkelheit ist die Polizei überall präsent. Anwohnerin: “Ich habe schon ein mulmiges Gefühl, wenn mich die Polizei jederzeit anhalten und meine Daten abfragen kann.“
Hamburg. Wer seine Nase in Gefahr stecken will, ist hier genau richtig. Im S-Bahnhof Reeperbahn stinkt es oft zum Himmel. Urin, Erbrochenes, der ganze Mist, den das Partyvolk halt so hinterlässt. Aber heute müffelt es nicht. Am Dienstag um 9.45 Uhr ist der Bahnhof blitzeblank. Nur wenige Menschen sind unterwegs. Wo ist denn nun die Gefahr? Krawalle? Polizisten? Kontrollen? Alles Fehlanzeige. Und das am bekanntesten Bahnhof im Viertel. Nur Pat und Patachon von der S-Bahn-Wache schlurfen eine Runde über den Bahnsteig. Also nichts wie hoch die Treppen, mitten hinein ins größte Gefahrengebiet der Republik.
Vor dem Discounter liefert ein riesiger roter Laster Waren an, der parkt bestimmt nicht legal. Der mäßige Verkehr auf der Reeperbahn umkurvt ihn gelassen. Aber gegenüber droht Gefahr. Der Gunshop preist die Walter PP, Kaliber neun Millimeter, für 139 Euro an. Ganz schön gefährlich, theoretisch, denn der Laden ist noch dicht. Wie die meisten hier. Um 10 Uhr morgens wacht der Kiez erst langsam auf.
Aber aufgeräumt haben sie schon. Während das feine Alsterufer noch im Silvestermüll erstickt, blickt Hans Albers von seinem Sockel über einen frisch gereinigten Platz. Wahrscheinlich ist die Reeperbahn dieser Tage das sauberste Viertel der Stadt. Nur vor der Davidwache tanzt eine blaue Plastiktüte im Wind. Von den Auseinandersetzungen um Deutschlands bekanntestes Revier zeugen ein Sprossenfenster und ein Schaukasten, beide zerdeppert und mit Klebeband fixiert.
Krawalle? Polizisten? Kontrollen? Wieder Fehlanzeige. Und das hier! Die große Uhr an der Wache zeigt stoisch 16.50 Uhr. Auf dem Kiez gehen die Uhren anders. Oder gar nicht. Ein Fahrradfahrer versucht umständlich, mit dem Handy ein Foto von sich vor der Wache zu machen. Auf seinem roten Pulli steht „Rabauke“, oder so. Gefahr? Na ja.
Die lauert, ganz real, ein paar Meter weiter östlich. „Betreten verboten. Lebensgefahr“ steht auf einem kleinen gelben Schild an einem Absperrzaun um die Esso-Häuser. Die baufälligen Wohnklötze werden heute geräumt, sie werden abgerissen, ersetzt durch Neubauten. „Es ist eine Schweinerei, wie die Familie Schütze die Gebäude hat verfallen lassen“, schimpft ein Anwohner. „Und das Bezirksamt hat nichts dagegen getan.“ So denken sie fast alle auf dem Kiez, die Esso-Häuser sind neben der Roten Flora und den Lampedusa-Flüchtlingen eines der drei Symbole für die Auseinandersetzungen.
Auf der anderen Reeperbahn-Seite, an der Hein-Hoyer-Straße, wird das Thema noch sichtbarer. Die Scheiben der Haspa: zersplittert. Ein Schaufenster neben dem Schneider von St. Pauli: zersplittert. Hier irgendwo muss es geschehen sein, am 28. Dezember. Vermummte greifen die Davidwache an, sie flüchten, aus der Hein-Hoyer-Straße kommen ihnen Polizisten entgegen, ein Beamter bekommt aus nächster Nähe einen Stein ins Gesicht, Knochen brechen. Die Schilderungen über die Tat gehen auseinander. Fest steht: Der Beamte wird schwer verletzt, die Stimmung eskaliert, die Polizei ruft das Gefahrengebiet aus.
In Haus Nummer 63 hängt ein Plakat im Fenster: „Welcome to the Dangerzone“. Willkommen im Gefahrengebiet. Na, bitte. „Dangerzone“ – das hat Kenny Loggins mal gesungen, 1986 für „Top Gun“. Und heute? Kreist Tom Cruise schon in seiner F14 über Hamburg? Viele Anwohner reagieren auf die ausufernde Lage nur noch mit Humor. „Wir fordern Blauhelme“ steht auf einem Plakat am Paulinenplatz.
Irgendwo jault eine Polizeisirene. Emrah Taser hat sich an die Geräusche gewöhnt, manchmal kündigen sie Umsatz an. Vor seiner Tabak Börse beim Grünen Jäger versammeln sich oft bis zu 15 Polizeifahrzeuge, von hier sind sie ebenso schnell auf dem Kiez wie in der Schanze. Schadet ihm das? „Nein“, sagt der 26-Jährige, „ich habe sogar Stammkunden, die kommen zum Gucken.“ Fühlt er sich bedroht, so mitten im Gefahrengebiet? „Nein“, sagt Taser, „gefährlich fühlt sich das nicht an.“ Zufälle gibt es: Sein Name ist identisch mit dem des Elektroschockers, dessen Einsatz Polizeigewerkschafter nun fordern.
Dunkelheit zieht herauf, viele Eltern holen ihre Kinder aus der Kita oder von der Schule ab. Der Spielplatz am Paulinenplatz ist rappelvoll. Gefahrengebiet? „Man merkt es schon“, sagt Anwohnerin Marlies Kamleitner. „Ich sehe vor meiner Wohnung oft Helme vorbeilaufen.“
Zwei dunkelhäutige Frauen haben Angst, wegen ihrer Hautfarbe
Ihr Mann sei mitten in so einen Trupp geraten – als er den Weihnachtsbaum runterbrachte. „Aber für mich ist das keine Einschränkung“, sagt die 43-Jährige. „Die ständigen Krawalle nerven einfach. Ich möchte auch nicht Polizist sein und hier rumlaufen.“
Kristine Sievering sieht es etwas anders. „Ich habe schon ein mulmiges Gefühl, wenn mich die Polizei jederzeit anhalten und meine Daten abfragen kann.“ Ein Freund von ihr sei festgenommen worden, nur weil er die falsche Mütze trug. „Das ist alles so groß und bedrohlich“, sagt die 31-Jährige über die Polizeipräsenz. Einig sind sich die beiden Frauen, wer die Gewalt angezettelt hat: „Das sind angereiste Krawalltouris. Die kommen nicht aus dem Viertel.“
An der Clemens-Schultz-Straße treffen sich drei junge Frauen. Ihre Namen möchten sie nicht sagen. Aber ihre Meinung. „Ich habe Angst, dass ich nur wegen meiner Hautfarbe festgehalten werde“, sagt eine. Und ihre Bekannte, ebenfalls dunkelhäutig, erklärt, dass sie ihr Baby lieber nicht vor dem Bauch trage, sondern bewusst den Kinderwagen nehme, dann werde sie nicht für eine Krawallmacherin gehalten. Sie berichten von Dreikäsehochs, die schon dreimal kontrolliert wurden, und von einer Freundin, die von fünf Bereitschaftspolizisten festgehalten wurde, weil sie ihren Rucksack nicht öffnen wollte. Sie diskutieren durchaus kontrovers, aber in einem Punkt sind sie sich einig: „Steine auf Menschen zu werfen geht gar nicht, egal auf wen.“ Durch die ganze Gewalt würden nur die Themen verdrängt: „Menschen werden aus dem Viertel vertrieben, Flüchtlinge werden abgeschoben, darum geht es.“
Josephine Partzsch und Christian Müller können das nicht beurteilen, sagen sie. Sie kommen aus Karlsruhe, wohnen im Hotel East, wollen ins Musical. Aber dass so etwas wie Ausnahmezustand herrscht, haben sie schnell mitbekommen. „Das ist schon krass“, sagt der 28-Jährige. Beide betonen aber: „Wir fühlen uns nicht bedroht.“
Mit Einbruch der Dunkelheit ist die Polizei überall präsent. Für 19 Uhr wurde im Netz zu einem „Spaziergang“ aufgerufen, Treffpunkt nahe der St.-Pauli-Kirche. Dort wohnen seit Monaten Flüchtlinge aus Afrika, erst in der Kirche, jetzt in Containern. „Embassy of Hope“ steht auf einem Plakat im Kirchhof. Botschaft der Hoffnung. Gut 300Leute haben sich versammelt. Was wird das nun? Eine junge Frau verhandelt mit der Polizei. „Bleibt friedlich, sonst wird das hier aufgelöst“, ruft sie in die Menge. Über Megafon meldet sich ein Polizist. Bevor er sagen kann, dass sich nun eine Anmelderin gefunden habe und man über eine Demo verhandele, brüllen ihn einige junge Männer nieder: „Nazis! Rassisten!“ Die Menge ist genervt: „Haltet das Maul.“ Die Männer lachen, widmen sich ihren Bierpullen.
Gegen 20.30 Uhr setzt sich die Menge in Bewegung. Offiziell ist es jetzt ein Aufzug unter dem Motto „No Gefahrengebiete uniformiert“. Die Gruppe wächst auf rund 600 Personen an, darf einmal um den Kiez ziehen. Es bleibt friedlich. Ab 21.45 Uhr ziehen Kleingruppen allein weiter. Einige nehmen offenbar die U3. Jedenfalls tauchen laut Polizei um 22 Uhr am Schlump an die 100 Personen auf und bewerfen Polizisten mit Böllern. Es gibt 17 „Ingewahrsamnahmen“. Im Silbersack schrecken die Gäste zusammen, als Böller fliegen. Ein ganz normaler Tag im Gefahrengebiet geht zu Ende. Vor die Davidwache hat die Polizei einen Mannschaftswagen gestellt, quer, zum Schutz. An den Fahrzeugen werben Plakate um Polizeinachwuchs. „Belohnung: Mehr als nur ein Job.“ Wohl wahr.