Essen. Bestsellerautor Daniel Kehlmann liest bei der Lit.Ruhr. Mit uns sprach er über den Helden seines Romans „Lichtspiel“, Humor und das Ruhrgebiet.
Daniel Kehlmann (48) ist berühmt für seine Romane, die mit literarischer Raffinesse historische oder auch prägnant erfundene Figuren umkreisen. Das gilt nicht nur für das Eulenspiegel-Buch „Tyll“ (2017), sondern allen voran für den Mathematiker Carl Friedrich Gauß und den Naturforscher Alexander von Humboldt, die er in seinem internationalen Bestseller „Die Vermessung der Welt“ im vollen Wissen um ihre Genialität ironisch entzaubert. In seinem neuen Roman „Lichtspiel“, aus dem er bei der Lit.Ruhr liest, wendet er sich dem Schicksal des österreichischen Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst (1885-1967) zu. Jens Dirksen befragte ihn auch dazu.
Herr Kehlmann, Ihr neuer Roman „Lichtspiel“ umkreist den Regisseur G.W. Pabst, der zu den Erfolgs-Regisseuren der Weimarer Republik gehörte und als „der rote Pabst“ berühmt war, und seine befremdlich anmutende Rückkehr aus Hollywood ins Deutsche Reich der Nazis. Wie sind Sie auf den Stoff gekommen?
Daniel Kehlmann: Unter anderem durch Carl Zuckmayers „Geheimreport“ über Mitläufer des Nazi-Regimes. Er erwähnt dort Pabst als jemanden, für dessen Verhalten er keine Erklärung und keinen Schlüssel hat. Da habe ich angefangen, mich für ihn zu interessieren, zumal ich seine Filme kannte und großartig fand.
Wie haben Sie in Sachen Pabst recherchiert? Es gibt Menschen, die sagen: Wer viel weiß, schreibt schlecht – ist das auch Ihre Erfahrung?
Das stimmt, wer viel weiß, schreibt schlecht, und wer nichts weiß, schreibt auch schlecht. Man muss genug wissen, um auf der Basis solider Kenntnisse erfinden zu können. Ein Roman ist keine Biographie!
Ihr Roman ist aus verschiedenen Perspektiven erzählt, einmal erzählt der ehemalige Kameramann von Pabst, dann wieder blicken wir Pabst selbst 1939 über die Schulter, wie er mit seiner Familie heimkehrt nach Österreich; zuvor lauschen wir gar der göttlichen Greta Garbo, die Pabst eine Audienz gewährt. Haben Sie von vornherein entschieden, den Stoff aus diversen Perspektiven zu erzählen?
Verschiedene Perspektiven sind ein Stilmittel, das mich schon in „Tyll“ interessiert hat. Daher war es von Anfang an klar für mich, dass ich das bei „Lichtspiel“ wieder mache. Auf diese Art wird ein Stoff zum Kaleidoskop, und nicht alle Perspektiven stimmen logisch genau überein. Auf diese Art kann man nachvollziehen, wie kompliziert und auch widersprüchlich die menschliche Wirklichkeit nun mal ist.
Es ist der Roman eines Menschen, der schuldlos schuldig wird, im guten Glauben für seine Familie. Seine Haltung wird von der terroristischen Wucht des Nazi-Regimes zerschmettert. Wollen Sie Verständnis wecken für einen, der sich aus Kunstwillen mit den Nazis gemein gemacht hat?
Im Roman geht es letztlich immer um Verständnis, aber schuldlos schuldig würde ich nicht sagen. Gerade als jemand, der aus freien Stücken zurückkehrt, nachdem er schon in Sicherheit war, kann man ihn schon jemanden nennen, der schuldig schuldig wird. Es geht mir eher darum nachzuzeichnen, wie auf einem Weg der kleinen Kompromisse immer eines zum nächsten führt. Jeder Schritt scheint für sich allein akzeptabel, der Weg führt dennoch in die Hölle. Aber Sie haben schon recht, aus der Perspektive der moralischen Verdammung kann man keinen Roman schreiben. Während man von einer Figur erzählt, muss man sich des moralischen Urteils enthalten, auch wenn man selbst eigentlich eine sehr klare Meinung dazu hat.
Es geht viel um den verschollenen Film „Der Fall Molander“; Franz Wilzek erinnert sich nicht ganz deutlich an die Dreharbeiten, bei denen offenbar KZ-Häftlinge als Statisten dienen. Dass er und Pabst in der Nachkriegszeit fast bruchlos weitermachten, mutet mehr als befremdlich an. Inwiefern reicht diese Kontinuität des Bösen in unsere Gegenwart hinein?
Es bleibt ja im Roman unklar, was wirklich bei den Dreharbeiten zu „Der Fall Molander“ geschehen ist (und in Wirklichkeit weiß man fast gar nichts darüber). Aber natürlich gab es diese Kontinuität – es ist schon atemberaubend, wer nach dem Krieg einfach weitermachen durfte, als wäre nichts geschehen. Darüber hätte ich einen eigenen Roman schreiben können, und vielleicht mache ich das früher oder später noch.
Den Nazis sind schon Charlie Chaplin und Ernst Lubtisch mit Humor gut beigekommen
Am Ende giften Ilse Werner und Paul Hubschmied einander an, weil sie „für die SS gepfiffen“ habe, wogegen er als Schweizer „seine Kühe gemolken“ habe, „während auf uns Bomben gefallen sind“. Bei allem Entsetzlichen, was der Roman schildert, gibt es immer wieder kleine Scherze, Ironien und Unwahrscheinlichkeiten, die das Tragische brechen. Wollten Sie es erträglicher machen?
Ich glaube, seit Chaplin und Lubitsch wissen wir, dass man gerade dem Nazi-Regime erzählerisch mit Humor sehr gut beikommen kann. Einfach weil es zur gleichen Zeit so entsetzlich und so zutiefst lächerlich war. Und ich könnte ohnehin kein Buch ohne Humor schreiben, das wäre mir zu langweilig.
Ich habe mich beim Lesen von „Lichtspiel“ jeden Morgen darauf gefreut, irgendwann im Laufe des Tages weiterlesen zu können. Arbeiten sie gezielt auf diesen Effekt hin?
Das freut mich sehr! Nein, gezielt habe ich nicht darauf hingearbeitet, aber ich muss ja selbst Jahre mit einem Roman verbringen, an dem ich arbeite. Das wird schon leichter, wenn man die Arbeit als spannend empfindet – und wenn das gelingt, dann darf man als Autor auch hoffen, dass es bei den Lesern ähnlich sein wird.
Was Daniel Kehlmann eigentlich am Deutschen Buchpreis stört
Ihre „Vermessung der Welt“ war 2005 im Finale des Deutschen Buchpreises, aber dann gegen Arno Geigers „Es geht uns gut“ unterlegen. Sie haben später die Abschaffung des „Spektakels“ Buchpreis gefordert, weil es Autorinnen und Autoren traumatisieren könne. Nun hat der Deutsche Buchpreis aber vielen Kolleginnen und Kollegen eine Aufmerksamkeit verschafft, die ihnen ohne den Buchpreis nicht zuteilgeworden wäre. Mildert das Ihren Blick auf den Preis?
Ich hatte eigentlich immer nur eine Kritik am Buchpreis: Dass er die Autoren dazu zwingt, im Stil einer Oscar-Verleihung nebeneinander zu sitzen und auf die Verkündigung des Preisträgers zu warten. Ich fand das immer entwürdigend, und diese Kritik würde ich auch aufrechterhalten. Dass ein Preis vergeben wird, der einem Buch Aufmerksamkeit und Leser verschafft, das ist und war immer eine gute Sache! Aber ich würde weiterhin dazu raten, die Vergabemodalitäten zu überdenken.
Ihre „Vermessung der Welt“ ist dann aber wie eine Entschädigung zu einem Weltbestseller geworden, einem der größten deutschsprachigen Erfolge der Nachkriegszeit, Übersetzungen inklusive mit einer Auflage von über 6 Millionen Exemplaren. Ist so ein Bestseller-Erfolg eine schwere Hypothek für die nächsten Bücher – oder eher eine Befreiung?
Es ist definitiv mehr Befreiung als Hypothek. Ich werde mich nie über diesen Erfolg beschweren, das wäre sehr undankbar.
Sie haben früher aufmerksam verfolgt, was die Literaturkritik über Sie schreibt. Ist das heute auch noch so? Und werden sie von der Kritik immer noch so unangemessen gelesen, obwohl sie deren Eitelkeiten und Defizite an dem Kunstkritiker Sebastian Zöllner in „Ich und Kaminski“ so scharf karikiert haben?
Ich glaube, es hat viel mit dem Alter zu tun: Als junger Autor macht man sich mehr Sorgen um sein Renommee und um mögliche Verzerrungen in der öffentlichen Wahrnehmung. Je länger man dabei ist, desto entspannter wird man da. Insofern kann ich das selbst gar nicht beantworten, ich lese viel weniger Kritiken als früher. Ob die Kritiken angemessen sind, müssen dann andere beurteilen.
Was ist wichtig für Sie, damit Sie gut arbeiten und schreiben können? Ruhe und Konzentration oder Zerstreuung? Stille oder vertraute Geräusche?
Ja, Ruhe ist wichtig, und eine vertraute Umgebung ist hilfreich. Ich arbeite nicht gerne im Zug oder in wechselnden Hotelzimmern.
Lesen Sie nur zum Vergnügen, gelegentlich? Bleibt Ihnen noch genügend Zeit dazu? Lesen Sie Literatur mitunter auch laut?
Lesen ist und bleibt das Wichtigste fürs eigene Schreiben! Man muss sich immer gegenwärtig halten können, wie wunderbar Literatur sein kann, wie gute Bücher einen mit Freude und Energie erfüllen können. Und ja, dabei kann es auch hilfreich sein, diese laut zu lesen.
Kehlmann über Künstliche Intelligenz: Menschen wollen lesen, was andere Menschen schreiben, nicht ein Computer
Wie oft lesen Sie die Passagen, die wir in Lesungen wie bei der Lit.Ruhr hören, zur Vorbereitung?
Früher habe ich tatsächlich vor einer Lesereise geübt, inzwischen habe ich etwas mehr Routine, aber drei vier Mal sind schon nötig, man will sich ja nicht vor zahlendem Publikum verhaspeln und stottern.
Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie „Ruhrgebiet“ hören?
Ich denke daran, dass meine erste öffentliche Lesung in Deutschland in Bochum stattfand, vor drei oder vier Leuten. Ich war damals zweiundzwanzig, mein erster Roman, „Beerholms Vorstellung“, war gerade erschienen. Trotzdem kenne ich das Ruhrgebiet nicht sehr gut. Ich bin in Wien aufgewachsen, da gibt es nicht viele Überschneidungen, man kommt als Österreicher nicht sehr oft ins Ruhrgebiet.
Ihre Romane sind stark von natürlicher Intelligenz geprägt, auch von künstlerischer. Macht Ihnen Künstliche Intelligenz Sorgen? Werden Schriftsteller womöglich irgendwann arbeitslos, weil KI Romane schreibt?
Ich glaube, Schriftsteller gehören zu den Leuten, die sich am allerwenigsten Sorgen machen müssen, durch KI ersetzt zu werden. Menschen wollen lesen, was andere Menschen schreiben, nicht ein Computer. Die KI wird unsere Gesellschaft extrem verändern, und natürlich macht mir das Sorgen. Keine Sorgen mache ich mir aber darum, dass sie bessere Bücher schreiben wird als wir Menschen.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel, Rowohlt, 480 S., 26 €
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