Essen. Brennpunkt Altendorf: Wie eine Roma-Familie in Essen besser mit ihren Nachbarn auskommt – und Integration in kleinen Schritten gelingen kann.
Als Wolfgang Zacheja zum ersten Mal bei Familie David in Essen-Altendorf klingelte, hatte er eine Liste dabei. „Einlaminiert, damit sie auch lange hält.“ Ab 22 Uhr gilt in Deutschland Nachtruhe, der Müll wird getrennt und viele weitere Regeln werden darauf auf Rumänisch erklärt. Nachbarn hatten sich darüber beschwert, dass Sandel (32) und Dorina (30) David, die 2018 zusammen mit ihren Kindern aus ihrem Heimatland Rumänien nach Essen gekommen sind, viel zu laut seien.
Der Streit drohte, zu eskalieren. Zacheja wurde eingeschaltet. Der Ex-Polizist ist fast täglich im Stadtteil unterwegs, sucht im Auftrag des Diakoniewerks das Gespräch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Es geht auch um Konflikte im Zusammenleben, von denen häufig Roma-Familien betroffen sind.
Konflikte mit Nachbarn in Essen-Altendorf
„Wir wussten gar nicht, dass wir sie stören. Wir haben uns sehr gefreut, dass Herr Zacheja uns Bescheid gegeben hat“, sagt Sandel David. Seitdem schließt er immer das Fenster, wenn er singt oder gemeinsam mit seiner Frau auf dem Akkordeon spielt.
Dass sich der Konflikt mit den Nachbarn so einfach lösen ließ, die Davids so offen gegenüber Zacheja waren, sei ein Einzelfall. Umso mehr freute sich Zacheja über den Erfolg – und ist seitdem regelmäßig bei den Davids zu Besuch.
Akkordeon erinnert Essener Roma-Familie an Heimat
So auch an diesem warmen Nachmittag im Juni 2022. Dorina Davids Finger fliegen über die Tasten, mit der linken Hand zieht sie den Balg des Akkordeons auseinander. Ihr Mann steigt in die Melodie mit ein, lächelt dabei Wolfgang Zacheja an, der auf dem Sofa der beiden Platz genommen hat. Es ist eines ihrer ersten Wohnzimmerkonzerte, auf das viele weitere folgen.
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Das Instrument ist die Leidenschaft der Davids. Es erinnert sie an ihre Heimat. Sie haben Rumänien verlassen, damit ihre blinde Tochter in Deutschland behandelt werden kann. Sandel David hatte zuerst eine Wohnung und einen Job in Essen, wo er viele Verwandte hat, gesucht. Dann holte er seine Frau und die drei Kinder nach.
In Europa leben schätzungsweise zwölf Millionen Sinti und Roma. In vielen Ländern ist ihre Lage prekär, besonders in Südosteuropa stehen sie häufig am Rande der Gesellschaft. In Deutschland arbeiten viele in der Fleischindustrie, deren teils sehr schlechte Arbeitsbedingungen im Zuge der Corona-Pandemie öffentlich wurden. „Armut ist ein großes Problem, hier und in Rumänien. Aber die Lebensbedingungen hier sind etwas besser und die Ablehnung ist geringer als in Rumänien“, sagt Sandel David.
Wirklich gewollt fühlt er sich allerdings auch in Deutschland nicht. „Aber wir lassen uns nicht unterkriegen“, sagt er und zuckt mit den Schultern. Seine Kinder hätten in der Schule zwar Freunde gefunden, außerhalb des Unterrichts verabreden diese sich jedoch nicht.
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„Die Grenze ist immer noch da. ,Du darfst nicht mit den Kindern spielen’. Das sind die ,Schmuddel-Kinder’. Das erlebe ich immer wieder. Es gibt diese latente Ablehnung. Das können wir nicht weg reden“, sagt auch Wolfgang Zacheja.
Regierung ernennt Antiziganismus-Beauftragten
Die Wissenschaft hat dieser Ablehnung einen Namen gegeben: Antiziganismus wird als eine Form des Rassismus definiert, der Sinti und Roma stigmatisiert und diskriminiert. Um dem entgegenzuwirken, hat die Bundesregierung im März 2022 mit dem Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler erstmals einen Antiziganismus-Beauftragten berufen.
Klassische Vorurteile sind laut Bundeszentrale für politische Bildung etwa die Annahmen, dass die Personen „nicht sesshaft“, „kriminell veranlagt“ oder „arbeitsscheu“ sind. „Natürlich verletzt es uns, wenn wir so etwas hören“, sagt Dorina David. „Aber wenn man die Regeln in Deutschland beachtet, hat man keine Probleme.“
Essen-Altendorf gilt als Brennpunkt in Essen
Zu Konflikten kommt es in Altendorf allerdings immer wieder, das Viertel gilt als Brennpunkt. Das erlebt Wolfgang Zacheja täglich. Zugang zu den zugezogenen Menschen aus Südosteuropa findet er nur schwer. Eine Ursache dafür ist seiner Erfahrung nach auch, dass viele von ihnen staatliche Organe ablehnen und meiden.
„Woher kommt das? Wie kann ich da entgegenwirken?“, will er von den Davids wissen. Eine Antwort haben sie nicht parat. „Ich habe insgesamt noch viel zu wenig Kontakt zu den Roma hier im Stadtteil. Aber es ist ein Fuß in der Tür“, sagt der Streetworker. So hoffe er, dass geglückte Kontakte wie mit den Davids ein Türöffner zu weiteren Familien im Stadtteil sein werden, die Gespräche bisher ablehnen.
Denn er hat Sorge vor wachsender Ausländerfeindlichkeit: „Wenn die Integration nicht klappt, kann das auch hier in Altendorf ganz schnell kippen.“ Umso wichtiger sei es, dass Sandel und Dorina David, die – anders als ihre Kinder – kein Deutsch sprechen, einen Sprachkurs absolvieren.
Das notiert er sich, wie viele andere Aufgaben, auf einer Liste, bevor er die Wohnung der Davids an diesem Sommertag im vergangenen Jahr wieder verlässt. Ein weiterer wichtiger Punkt darauf: Er möchte ein Akkordeon-Konzert der Davids organisieren, an dem alle Menschen aus dem Stadtteil zusammenkommen können. „Aber wir spielen nicht für Geld. Wir sind ja keine Bettler“, sagt Sandel David.
Akkordeon-Konzert im Essener Gemeindesaal
Ein Jahr später ist es endlich so weit. Sandel David hat auf der Bühne des Gemeindesaals der Katholischen Kirchengemeinde in Altendorf Platz genommen. Seine Augen schweifen über das Publikum, dann schließt er sie – und beginnt zu spielen. Der weiche Klang des Akkordeons füllt den Raum. Sandel David spielt melancholische Melodien seiner Heimat, aber auch Chart-Hits wie „Bella Ciao“.
Die Finger rasen so schnell über die Tasten, dass viele Besucherinnen und Besucher ungläubig mit dem Kopf schütteln und nach jedem Lied minutenlang applaudieren. Unter ihnen sind neben Dorina David vor allem alteingesessene Bürgerinnen und Bürger, die sonst kaum Kontakt zu den zugezogenen Menschen haben.
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„Nach wie vor leben wir hier in unterschiedlichen Gesellschaften und die Vorurteile sind nicht so leicht zu bearbeiten“, sagt Wolfgang Zacheja. Mit dem Konzert hat er es geschafft, die verschiedenen Welten zusammenzubringen. Zumindest für einen Abend.
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